A. Sachverhalt (leicht abgewandelt und vereinfacht)
K ist als Verwaltungsfachangestellter bei einem Bundesamt beschäftigt und nimmt an der Aufstiegsfortbildung zum Erwerb der Qualifikation „Verwaltungsfachwirt/Verwaltungsfachwirtin“ teil. Die praktische Durchführung der Fortbildung und Prüfung obliegt dem Berufsbildungszentrum in Koblenz, welches zugleich Geschäftsstelle des Prüfungsausschusses ist.
Im Zuge des Prüfungsverfahrens fertigte K unter anderem die Klausurbearbeitung vom 12. Juni 2015 im ersten Prüfungsbereich (Rahmenbedingungen des Verwaltungshandelns) sowie die Klausurbearbeitung vom 19. Juni 2015 im zweiten Prüfungsbereich (Rechtsgrundlagen des Verwaltungshandelns) an.
Beide Klausuren wurden durch den Prüfungsausschuss für Verwaltungsfachwirte/innen in seiner Sitzung vom 26. August 2015 als Täuschungshandlung gewertet.
Mit Bescheid vom 26. Oktober 2015 wurden die Klausurbearbeitungen des K im ersten Prüfungsbereich (Rahmenbedingungen des Verwaltungshandelns) sowie im zweiten Prüfungsbereich (Rechtsgrundlagen des Verwaltungshandelns) jeweils mit 0 Punkten und der Note „ungenügend“ beurteilt. Zur Begründung wurde ausgeführt, bei der Korrektur der Klausuren seien weitgehende Übereinstimmungen mit den jeweiligen von den Prüfern erarbeiteten Musterlösungen festgestellt worden. Übereinstimmungen dieser Art und in diesem Umfang seien bei anderen Prüfungsarbeiten nicht aufgefallen. K habe zwar in der Sitzung des Prüfungsausschusses am 26. August 2015 erklärt, im Unterricht viel mitgeschrieben und dies sodann auswendig gelernt zu haben. Die von ihm vorgelegten Mitschriften seien jedoch nicht ausformuliert gewesen und wiesen lediglich fragmentarischen Charakter auf. Seine Erklärung erscheine daher höchst unglaubwürdig. Zwar lasse sich nicht aufklären, auf welche Weise sich K die Lösungsskizze beschafft habe, ein Zufall komme wegen der gehäuften Übereinstimmungen in Wortwahl und Gedankenführung aber nicht in Betracht.
Gegen den Bescheid legte K Widerspruch ein und machte geltend, bei mehreren Klausuren in dem Prüfungsdurchgang seien Auffälligkeiten festgestellt, aber nur seine beiden Klausuren seien als Täuschungsversuch gewertet worden. Sofern überhaupt eine Übereinstimmung der Klausurbearbeitungen mit den Musterlösungen vorliege, sei diese auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen. Seine Klausurbearbeitungen folgten dem Inhalt des Unterrichts, dem dort ausgegebenen Lernmaterial wie auch allgemein anerkannten Prüfungsschemata sowie sonstigen externen Materialien. Es liege am Prüfungsausschuss, das Gegenteil zu beweisen.
Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Eine rein zufällige Übereinstimmung der Klausurbearbeitungen mit den Musterlösungen scheide aus. Auffällig sei bereits, dass die Klausuren des K - auch in ihrem Konzept - von Beginn an keine Durchstreichungen aufwiesen. Zudem habe K bei den Klausuren für insgesamt 30 Minuten (Klausur 1) bzw. 17 Minuten (Klausur 2) den Raum für Pausen verlassen. Wegen der zum großen Teil wörtlichen, im Übrigen in weiten Teilen gedanklichen Übereinstimmungen mit der Musterlösung könne vom Prüfungsausschuss auch nicht der Nachweis verlangt werden, wie der Prüfling an die Musterlösung gelangt sei und diese sodann verwendet habe. Es gelte vorliegend vielmehr der Beweis des ersten Anscheins, den der Kläger plausibel zu widerlegen habe. Dies sei ihm aber nicht gelungen. Die Klausuren stammten weder aus einschlägigen Lernunterlagen oder Fallsammlungen noch seien sie im Unterricht oder im Rahmen anderer Lehrveranstaltungen in vergleichbarer Weise verwendet worden. Zudem stellten sich die Mitschriften des K nach einer Inaugenscheinnahme als eher spärlich dar und enthielten keine mit den Musterlösungen vergleichbaren Formulierungen.
Form- und fristgerecht erhebt K Klage und begehrt die Verpflichtung der Beklagten, unter Aufhebung ihres Bescheides vom 26. Oktober 2015 und des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2016 seine Klausurarbeiten im ersten Prüfungsbereich - Rahmenbedingungen des Verwaltungshandelns - vom 12. Juni 2015 und im zweiten Prüfungsbereich - Rechtsgrundlagen des Verwaltungshandelns - vom 19. Juni 2015 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bewerten.
Hat die zulässige Klage Aussicht auf Erfolg?
B. Die Entscheidung des BVerwG (Beschl. v. 23.1.2018 – 6 B 67.17)
Die Verpflichtungsklage wäre begründet, wenn der Bescheid des Prüfungsausschusses und der dazu ergangene Widerspruchsbescheid rechtswidrig wären und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt wäre (§ 113 V 2 VwGO).
Die Prüfungsarbeit wurde mit ungenügend bewertet. Das wäre nur dann rechtmäßig, wenn K eine Täuschungshandlung begangen hätte.
Dabei liegen die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer Täuschung vor, wenn der Prüfling (zumindest bedingt vorsätzlich) falschen Aufschluss über seine wahre Leistungsfähigkeit gibt und so unter Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitprüflingen erlangt. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn der Prüfling eine selbstständige und reguläre Prüfungsleistung vorspiegelt, obwohl er sich bei deren Erbringung in Wahrheit unerlaubter Hilfsmittel bedient hat. Dies ist insbesondere der Fall, wenn er bei einer schriftlichen Aufsichtsarbeit Zugang zu der von den Klausurerstellern angefertigten Lösungsskizze hatte und sich in Kenntnis derselben auf die Klausur vorbereitet hat. Die Beurteilung, ob ein Täuschungsversuch anzunehmen ist, unterliegt dabei in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung.
Die materielle Beweislast dafür, dass die Voraussetzungen einer Täuschung vorliegen, trägt die Prüfungsbehörde bzw. das für die Leitung der Prüfung zuständige Prüfungsorgan. Dies bedeutet, dass von der Annahme einer Täuschung abgesehen werden muss und die Leistungen in der üblichen Form bewertet werden müssen, wenn die Beweismittel für die Feststellung der Umstände nicht ausreichen, die mit hinreichender Gewissheit eine Täuschung oder deren Versuch ergeben. Denkbar wäre ein Anscheinsbeweis zu Lasten des K.
Das BVerwG referiert zunächst die allgemeinen Voraussetzungen eines auf der Lebenserfahrung basierenden Beweises des ersten Anscheins:
„Die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung des Beweises des ersten Anscheins zum erleichterten Nachweis bestimmter Tatsachen im Verwaltungsprozess sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Hierfür müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen muss die nachzuweisende Tatsache auf einen typischen Sachverhalt gestützt werden können, der aufgrund allgemeinen Erfahrungswissens zu dem Schluss berechtigt, dass die Tatsache vorliegt. Zum anderen dürfen keine tatsächlichen Umstände gegeben sein, die ein atypisches Geschehen im Einzelfall ernsthaft möglich erscheinen lassen. Die Verwaltungsgerichte haben nach § 86 Abs. 1 VwGO von Amts wegen zu ermitteln, ob ein die Schlussfolgerung tragender Sachverhalt und, wenn sie davon überzeugt sind, ob tatsächliche Anhaltspunkte für eine vom Regelfall abweichende Erklärung vorliegen (stRspr; vgl. nur BVerwG, Urteil vom 24. August 1999 - 8 C 24.98 - NVwZ-RR 2000, 256).“
Auch im Prüfungsrecht finden die Regeln über den Anscheinsbeweis Anwendung:
„Davon ausgehend ist auch geklärt, dass nach den Regeln des Anscheinsbeweises nachgewiesen werden kann, dass ein Prüfungsteilnehmer über die Eigenständigkeit seiner schriftlichen Prüfungsleistung getäuscht hat. Stimmt die Bearbeitung nach Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen überein, berechtigt dieser Sachverhalt typischerweise zu dem Schluss, der Prüfungsteilnehmer habe die Lösungshinweise gekannt und seiner Bearbeitung zugrunde gelegt. Für die Aufklärung, ob eine andere Ursache für die weitgehende Übereinstimmung in Betracht kommt, bedarf es der Mitwirkung des Prüfungsteilnehmers. Nur er kann eine plausible andere Erklärung für die Übereinstimmung beibringen. Ergibt die Sachaufklärung keine Anhaltspunkte, die eine andere Ursache als die Kenntnis der Lösungshinweise nachvollziehbar erscheinen lassen, steht fest, dass der Prüfungsteilnehmer keine eigenständige Prüfungsleistung erbracht, sondern dies vorgespiegelt hat. Eine solche Bearbeitung ist von vornherein ungeeignet, eine Aussage über die Kenntnisse und Fähigkeiten zu treffen, deren Nachweis die Prüfung dient (BVerwG, Beschluss vom 20. Februar 1984 - 7 B 109.83 - NVwZ 1985, 191; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 237 mit Nachweisen zur Rechtsprechung).
Auch für den Beweis des ersten Anscheins gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach ist es Aufgabe der Tatsachengerichte, aufgrund einer Sachverhalts- und Beweiswürdigung des gesamten Prozessstoffes darüber zu entscheiden, ob eine Tatsache nach den Regeln des Anscheinsbeweises erwiesen ist. Hierfür müssen sie zu der Überzeugung gelangen, dass ein Sachverhalt feststeht, der typischerweise auf das Vorliegen der nachzuweisenden Tatsache schließen lässt. Ist dies der Fall, müssen sie sich darüber klar werden, ob im Einzelfall ein atypisches Geschehen ernsthaft möglich erscheint (BVerwG, Urteil vom 24. August 1999 - 8 C 24.98 - NVwZ-RR 2000, 256). …
Nach diesen Regeln haben die Tatsachengerichte zu beurteilen, ob Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung einer schriftlichen Prüfungsleistung so weitgehend mit den nur für die Prüfer bestimmten Lösungshinweisen übereinstimmen, dass der Schluss berechtigt ist, der Prüfungsteilnehmer habe ihr die Lösungshinweise zugrunde gelegt. Sind die Tatsachengerichte von der weitgehenden Übereinstimmung überzeugt, haben sie die Regeln der Beweiswürdigung auch für die sich anschließende Beurteilung anzuwenden, ob eine andere Erklärung für die Übereinstimmung als die Kenntnis der Lösungshinweise ernsthaft möglich ist.“
K hat geltend gemacht, dass ein weitgehend übereinstimmender Inhalt von Prüfungsleistung und Lösungshinweisen für sich genommen nicht ausreiche, um den Schluss zu rechtfertigen, der Prüfungsteilnehmer habe die Lösungshinweise gekannt. Hinzukommen müsse, dass feststehe, dass als Informationsquelle für den geprüften Stoff ausschließlich die Lösungshinweise, nicht aber andere zugängliche Quellen wie etwa Lernmaterialien in Betracht kämen. Dem tritt das BVerwG entgegen:
„Dabei übersieht der Kläger, dass die Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises nicht auf der Themen- und Inhaltsgleichheit von Prüfungsleistung und Lösungshinweisen, sondern auf der weitgehenden Deckungsgleichheit der einzelnen Formulierungen sowie des Aufbaus und der Gedankenführung beruht. Die Prüfungsleistung muss nach Aufmachung und gedanklicher Abfolge weitgehend ein Abbild der Lösungshinweise sein. Erst eine derart weitgehende Übereinstimmung lässt den Schluss zu, der Prüfungsteilnehmer habe keine eigenständige Leistung erbracht, sondern stattdessen die Lösungshinweise übernommen. Es liegt auf der Hand, dass die dadurch begründete Anwendung des Anscheinsbeweises nicht daran scheitern kann, dass der geprüfte Stoff auch anderen zugänglichen Quellen entnommen werden kann. Dies ist unverzichtbar, um es den Prüfungsteilnehmern zu ermöglichen, sich auf die Prüfung vorzubereiten.“
Die Lösung des K stimmt weitgehend mit dem Prüfervermerk überein. Und zwar in Formulierungen, Aufbau und Gedankenführung. Damit liegt ein typischer Sachverhalt im Sinne des Anscheinsbeweises vor.
Zudem dürfte kein atypischer Ausnahmefall vorliegen. Das könnte der Fall sein, wenn der Vortrag des K, die Übereinstimmungen beruhten auf seinen eigenen Mitschriften, ernsthaft möglich wäre. Dagegen spricht aber, dass K in auffälligem Umfang auch jenseits von Definitionen Formulierungen gewählt und Klammerzusätze gemacht hat, die sich nur durch Kenntnis der Lösungsskizze erklären lassen. Ein Zufall scheidet angesichts der Vielzahl der ins Auge fallenden Übereinstimmungen aus. Die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Ausnahmefalls scheidet damit aus.
Die Klage ist unbegründet.
C. Fazit
Eine vor allem für Referendarinnen und Referendare interessante und lehrreiche Entscheidung. Sie sollte Anlass sein, sich mit den Anforderungen und Rechtsfolgen eines Anscheinsbeweises zu befassen – er gilt nicht nur um Zivilprozess!
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