A. Sachverhalt
K verklagt B wegen ausstehender Werklohnforderungen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht am 1. September 2016 haben die Parteien folgenden Vergleich geschlossen:
1. > Die Beklagte zahlt an den Kläger 7.500 € bis zum 30.09.2016.
2. > Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
3. > Dem Kläger bleibt vorbehalten, diesen Vergleich bis zum 15.09.2016 - Eingang bei Gericht - zu widerrufen.
Im Nachgang zu dem Verhandlungstermin haben die Parteien außergerichtlich vereinbart, dass die B den Vergleich bis einschließlich 30. September 2016 widerrufen könne. K hat den Vergleich nicht widerrufen. B hat mit Schriftsatz vom 29. September 2016, bei Gericht eingegangen am selben Tag, den Widerruf erklärt.
Ist der Rechtsstreit beendet?
B. Die Entscheidung des BGH (Urt. v. 19.4.2018 – IX ZR 222/17)
Der Rechtsstreit wäre beendet, wenn der Prozessvergleich wirksam zustande gekommen ist. Wegen der Doppelnatur des Prozessvergleichs, der sowohl Prozesshandlung (Prozessvertrag) ist als auch materiell-rechtliches Rechtsgeschäft (Vertrag nach § 779 BGB), müssen sowohl die prozessualen Anforderungen an einen Prozessvertrag als auch materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Vergleichsvertrages erfüllt sein:
„Der Prozessvergleich hat eine rechtliche Doppelnatur. Er ist zum einen Prozesshandlung, durch die der Rechtsstreit beendet wird und deren Wirksamkeit sich nach verfahrensrechtlichen Grundsätzen bestimmt. Dazu ist er ein privates Rechtsgeschäft, für das die Vorschriften des materiellen Rechts gelten und mit dem die Parteien Ansprüche und Verbindlichkeiten regeln. Prozesshandlung und privates Rechtsgeschäft stehen nicht getrennt nebeneinander. Vielmehr sind die prozessualen Wirkungen und die materiell-rechtlichen Vereinbarungen voneinander abhängig. Der Prozessvergleich ist nur wirksam, wenn sowohl die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Vergleich als auch die prozessualen Anforderungen erfüllt sind, die an eine wirksame Prozesshandlung zu stellen sind. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, liegt ein wirksamer Prozessvergleich nicht vor; die prozessbeendigende Wirkung tritt nicht ein (BGH, Urteil vom 14. Juli 2015 - VI ZR 326/14, BGHZ 206, 219 Rn. 12 mwN).“
Der BGH stellt zunächst fest, dass im Ausgangspunkt die prozessualen Voraussetzungen, insbesondere die ordnungsgemäße Protokollierung vorliegen:
„Zu den prozessualen Voraussetzungen eines wirksamen Prozessvergleichs gehört, dass er - vom Sonderfall des § 278 Abs. 6 ZPO abgesehen - in gerichtlicher Verhandlung erklärt und vom Gericht in das Protokoll oder eine Anlage dazu aufgenommen wird (§ 160 Abs. 3 Nr. 1 , Abs. 5 ZPO). Das Protokoll muss den Vertragsschließenden vorgelesen, zur Durchsicht vorgelegt oder aus einer vorläufigen Aufzeichnung vorgelesen oder vorgespielt und von ihnen genehmigt werden (§ 162 Abs. 1 ZPO) sowie vom Vorsitzenden und vom Urkundsbeamten unterschrieben werden (§ 163 ZPO). Nur der auf diese Weise ordnungsgemäß beurkundete Vergleich ist ein wirksamer Vergleich, der das Verfahren beendet (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 1954 - V BLw 25/54, BGHZ 14, 381, 398; Urteil vom 10. März 1955 - II ZR 201/53, BGHZ 16, 388, 390 ; Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 794 Rn. 29). Ein Verzicht der Parteien auf die Beachtung der Formvorschriften ist unwirksam (Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl., § 130 Rn. 10; Wieczorek/ Schütze/Paulus, ZPO, 4. Aufl., § 794 Rn. 30a).“
Indes haben die Parteien einen sogenannten Widerrufsvorbehalt vereinbart, wobei nur K ein Widerrufsrecht zustehen sollte. Dabei handelt es sich in der Regel um eine aufschiebende Bedingung:
„Prozesshandlungen können im Allgemeinen nicht unter eine Bedingung gestellt werden. Es ist jedoch anerkannt, dass im Prozessvergleich zugunsten einer oder beider Parteien ein Widerrufsvorbehalt vereinbart werden kann. Es handelt sich dabei in der Regel um eine aufschiebende Bedingung (BGH, Urteil vom 27. Oktober 1983 - IX ZR 68/83, BGHZ 88, 364, 367). Der Prozessvergleich wird erst wirksam, wenn von dem Widerrufsrecht kein Gebrauch gemacht worden ist; dann erst endet die Rechtshängigkeit.“
Danach haben die Parteien am 1. September 2016 einen den materiellen und formellen Anforderungen genügenden Prozessvergleich geschlossen, den (nur) der Kläger bis zum 15. September 2016 widerrufen konnte. K hat keinen Widerruf erklärt, so dass dieser Vergleich mit Ablauf des 15. September 2016 wirksam wurde. Damit endete der Rechtsstreit.
Fraglich ist, ob der Widerruf der B vom 29. September, also nach Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist, dem Vergleich die Wirksamkeit nimmt, Dann müsste die nach Abschluss des Vergleichs ohne Mitwirkung des Gerichts von den Parteien getroffene Vereinbarung, nach der B berechtigt sein sollte, den Vergleich bis zum 30. September zu widerrufen, wirksam gewesen sein.
Der BGH stellt zunächst dar, dass es den Parteien freistehe, die materiell-rechtlichen Wirkungen eines wirksam geschlossenen Prozessvergleichs nachträglich zu ändern. Das betreffe allerdings nicht die bereits eingetretene prozessbeendigende Wirkung des Vergleichs. Daher könne ein durch Prozessvergleich beendeter Rechtsstreit nicht nachträglich wieder „aufleben“:
„Auch nach dem Abschluss eines Prozessvergleichs können die Parteien durch einen Abänderungs- oder Aufhebungsvertrag die materiell-rechtlichen Wirkungen des Vergleichs ändern oder beseitigen. Allein dadurch entfällt aber nicht die prozessbeendende Wirkung des Vergleichs. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine nachträglich außerhalb des beendeten Rechtsstreits getroffene Vereinbarung der Parteien die verfahrensrechtliche Wirkung des Prozessvergleichs nicht beseitigen und die Sache nicht von Neuem rechtshängig machen, weil andernfalls der Rechtsunsicherheit und dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet wäre ( BGH, Urteil vom 15. April 1964 - Ib ZR 201/62 , BGHZ 41, 310, 312 f ; vom 19. Mai 1982 - IVb ZR 705/80 , NJW 1982, 2072, 2073). Das Bundessozialgericht (NJW 1963, 2292) und das Bundesverwaltungsgericht (DÖV 1962, 423, 424 [BVerwG 27.09.1961 - BVerwG I C 93.58]) hatten diese Ansicht schon zuvor vertreten. Das Bundesarbeitsgericht (NJW 1983, 2212 [BAG 05.08.1982 - 2 AZR 199/80]) hat sich dagegen auf den Standpunkt gestellt, in der Arbeitsgerichtsbarkeit beseitige die Aufhebung eines Prozessvergleichs durch die Parteien wegen der Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, insbesondere wegen des in § 9 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG normierten Beschleunigungsgrundsatzes, auch dessen prozessbeendende Wirkung. Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abzuweichen. Deshalb kann, wenn ein Rechtsstreit durch einen wirksamen Prozessvergleich bereits beendet ist, sei es weil kein Widerrufsrecht vorbehalten wurde oder weil von einem einseitigen Widerrufsvorbehalt kein Gebrauch gemacht wurde, die prozessbeendende Wirkung nicht dadurch wieder beseitigt werden, dass die Parteien nunmehr ein (weiteres) Widerrufsrecht vereinbaren.“
Hier haben die Parteien allerdings die im Prozessvergleich vereinbarte Regelung nicht nach, sondern noch vor dem Wirksamwerden des Vergleichs und damit vor der Beendigung der Rechtshängigkeit verändert, indem sie der Beklagten ein eigenes Widerrufsrecht einräumten.
Der BGH stellt zunächst dar, dass eine reine Fristverlängerung auch ohne Mitwirkung des Gerichts zulässig sei:
„(1) Allerdings entspricht es seit langem der gerichtlichen Praxis und der in der veröffentlichten Rechtsprechung und im Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Meinung, dass die Parteien eine im Prozessvergleich vereinbarte Widerrufsfrist ohne gerichtliche Protokollierung wirksam verlängern können (OLG Hamm,FamRZ 1988, 535undBauR 2001, 833; OLG Karlsruhe, MDR 2005, 1368; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 23. Aufl., § 224 Rn. 3; Zöller/Geimer, ZPO, 32. Aufl., § 794 Rn. 10c; Musielak/Voit/Lackmann, ZPO, 14. Aufl., § 794 Rn. 14; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 17. Aufl., § 130 Rn. 45; Thomas/Putzo/Hüßtege, ZPO, 38. Aufl., § 224 Rn. 1; Schneider, MDR 1999, 595, 596 f; aA VG Hamburg, MDR 1982, 962; LG Bonn, MDR 1997, 783; einschränkend MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner, 5. Aufl., § 794 Rn. 63; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 76. Aufl., Anh. § 307 Rn. 46). Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass bei einer Versäumung der Widerrufsfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht komme, weil es sich um eine vertraglich vereinbarte Frist handle, die nur von den Parteien verlängert werden könne ( BGH, Urteil vom 15. November 1973 - VII ZR 56/73 , BGHZ 61, 394, 398 ). Einer Mitwirkung des Gerichts bedarf es hierbei nicht. Dieser Auffassung tritt der Senat bei. Für sie spricht auch die praktische Erwägung, dass eine Mitwirkung des Gerichts oft nicht rechtzeitig erreicht werden könnte, was vielfach einen vorsorglichen, bei ausreichender Überlegungszeit vermeidbaren Widerruf des Vergleichs zur Folge hätte.“
Hier aber gehe es nicht um die bloße Verlängerung einer bereits eingeräumten Widerrufsfrist, sondern um – für die B – die erstmalige Begründung eines Widerrufsvorbehalts. Prozessual sei diese erstmalige Begründung eines Widerrufsvorbehalts indes nur, wenn die prozessualen Förmlichkeiten gewahrt werden:
„Die bloße Verlängerung der Frist, innerhalb der ein formwirksam im Prozessvergleich vereinbartes Widerrufsrecht ausgeübt werden kann, ist aber mit der erstmaligen Vereinbarung eines Widerrufsrechts und damit einer (zusätzlichen) Bedingung der Wirksamkeit außerhalb des Prozessvergleichs nicht vergleichbar. Die förmlichen Anforderungen an den Abschluss eines wirksamen Prozessvergleichs, insbesondere die gesetzlich vorgeschriebene Beurkundung durch Protokollierung, dienen vornehmlich der Rechtssicherheit. Sie sollen nach Möglichkeit verhindern, dass über den Inhalt, aber auch über das wirksame Zustandekommen und damit über die prozessualen Folgen - Prozessbeendigung und Vollstreckbarkeit (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) - Streit entsteht. Dieses Ziel wäre gefährdet, wenn man den Parteien gestattete, einen formgültig geschlossenen Prozessvergleich nachträglich von zusätzlichen Wirksamkeitserfordernissen abhängig zu machen, ohne dabei die für einen Prozessvergleich geltenden Förmlichkeiten einzuhalten. Ein solches Wirksamkeitserfordernis ist auch ein im Prozessvergleich noch nicht enthaltener Widerrufsvorbehalt, der das Wirksamwerden des Vergleichs unter die aufschiebende Bedingung der Nichtausübung des Widerrufs stellt. Den Eintritt der prozessualen Folgen des Prozessvergleichs hindert eine solche Vereinbarung nur, wenn die für den Prozessvergleich selbst geltenden förmlichen Anforderungen eingehalten werden. Geschieht dies nicht, muss der Inhalt der Vereinbarung im Wege der einschlägigen Rechtsbehelfe geltend gemacht werden.“
Die außergerichtliche Einräumung eines Widerrufsvorbehalts zugunsten der B ist damit unwirksam. Der Widerruf der B hat dem Vergleich seine prozessualen Wirkungen nicht nehmen können; der Rechtsstreit ist beendet.
C. Fazit
Fragen rund um den Prozessvergleich spielen vor allem im Assessorexamen eine (wichtige) Rolle. Aber auch schon im Studium sollte man sich merken, dass der Prozessvergleich eine Doppelnatur (Prozesshandlung und materiell-rechtlicher Vertrag) hat, einen Vollstreckungstitel darstellt (§ 794 I Nr. 1 ZPO) und nicht nur in der mündlichen Verhandlung, sondern auch außerhalb geschlossen werden kann (§ 278 VI ZPO, sog. Beschluss- oder Distanzvergleich).
Du möchtest weiterlesen?
Dieser Beitrag steht exklusiv Kunden von Jura Online zur Verfügung.
Paket auswählen