"Anastasia"

A. Sachverhalt

1905 und 1906 hatte Nikolaus II., Herrscher des Russischen Kaiserreichs Vermögenswerte für seine Kinder nach Deutschland bringen lassen. 1917 kam es in Russland zur Februarrevolution, in deren Folge der Zar im März 1917 abdankte. Die Zarenfamilie wurde im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution verhaftet und im Frühjahr 1918 nach Jekaterinburg verbracht. Die Zarenfamilie wurde dort im Haus eines Kaufmannes untergebracht. In der Nacht zum 17. Juli 1918 wurden die Mitglieder der Familie und deren Dienstboten geweckt und in das Untergeschoss des Gebäudes geschickt. Dort kam es zur Ermordung der Zarenfamilie.

Die Klägerin, „Anna Anderson“, behauptet, sie sei die jüngste Zarentochter Anastasia Romanow und habe die Ermordung überlebt.

B. Worum geht es?

Die Klägerin behauptet, eine bestimmte Person zu sein. Das zu beweisen, fiel ihr nicht leicht. Der BGH hatte nun die Frage zu klären:

„Gelten die allgemeinen Grundsätze der Zivilprozessordnung, insbesondere über die Verhandlungsmaxime, die Beweisführungspflicht und die Beweislast, auch dann, wenn eine Partei mit einem vermögensrechtlichen Anspruch einen Kampf um ihre Identität führt oder wenn sonst ein Grundrecht im Spiele steht?“

 

C. Wie hat der Bundesgerichtshof entschieden?

Der BGH verwarf im Fall „Anastasia“ (Urteil vom 17.2.1970 – III ZR 139/67 (BGHZ 53, 245 ff.)) die Revision der Klägerin. Sie habe den ihr obliegenden Beweis, sie sei die jüngste Tochter des letzten Zaren, die Großfürstin Anastasia Romanow, nicht erbracht. Es sei aus rechtlichen Gründen nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht von einer Beweislast der Klägerin dafür ausgegangen ist, dass sie ihre Identität mit der Großfürstin Anastasia nach den allgemeinen Regeln des Zivilprozesses beweisen müsse.

 

Der BGH führt zunächst aus, dass sich jeder an die Regeln des Zivilprozesses halten müsse, auch wenn es in dem Prozess um seine Identität gehe:

„Der Senat kann weiter nicht der Auffassung zustimmen, daß immer dann die allgemeinen Regeln des Zivilprozeßrechtes abgewandelt werden und die allgemeinen Beweislastregeln versagen müßten, wenn es um die Identität einer Person geht oder „ein Grundrecht im Spiele steht”. Wer einen Zivilprozeß gegen einen anderen Menschen mit der Frage seiner Identität verknüpft, insbesondere wie hier daraus vermögensrechtliche Folgerungen herleitet, muß sich an die Regeln des Zivilprozeßrechts halten. Die allgemeine Beweislastregel des deutschen Rechts, daß jede Partei die Beweislast für alle Voraussetzungen einer von ihr in Anspruch genommenen Norm trägt, entspricht rechtsstaatlicher Auffassung. Der Schutz aller Rechte, auch der Grundrechte, wird durch die derzeitige Form des deutschen Zivilprozeßrechts ausreichend gesichert. Keinesfalls kann es zur Beseitigung oder Umkehr dieser Regeln genügen, wenn „ein Grundrecht im Spiele steht”. Zahl und Inhalt der Grundrechte sind so verstärkt und ihr Schutz ist so verfeinert, daß es einer Partei in einem Zivilprozeß leicht gelingt, mit ihrem Begehren einen Streit um ein Grundrecht zu verknüpfen. Das gilt aber für beide Parteien: Im vorliegenden Fall stehen auch für die Beklagte grundgesetzlich geschützte Eigentums- und Erbrechte „im Spiele”, und sie kann sich auf die Gleichheit aller vor dem Gesetz berufen. Jeder Beklagte könnte sich durchweg dem Kläger gegenüber auf dieselbe These von der Umkehr der Beweislast bei Streit um Grundrechte berufen, so daß dann doch wieder die alte Regel gelten müßte.“

 

Zudem verweist der Senat die Klägerin auf verschiedene Möglichkeiten, in Verfahren mit dem sogenannten Amtsbetrieb (bspw. § 26 FamFG, § 86 VwGO), also in einem nach ihrer Auffassung geeigneteren und leichteren Verfahren, die Frage ihrer Identität entscheiden zu lassen. Davon habe sie nicht Gebrauch gemacht.

 

Sodann führt der BGH den berühmten Satz aus, dass sich das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung (§ 286 I ZPO) mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen dürfe, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen:

„Der Revision ist zuzugeben, daß ein Gericht keine „unerfüllbaren Beweisanforderungen” stellen darf (BGHZ 7, 116), und daß es keine unumstößliche Gewißheit bei der Prüfung verlangen darf, ob eine Behauptung wahr und erwiesen ist. Irrig ist jedoch der Vortrag, der Zivilprozßrichter dürfe sich in Fällen dieser Art mit einer bloßen Wahrscheinlichkeit begnügen. Denn nach § 286 ZPO muß der Richter aufgrund der Beweisaufnahme entscheiden, ob er eine Behauptung für wahr oder nicht für wahr Kalt, er darf sich also gerade nicht mit einer bloßen Wahrscheinlichkeit beruhigen. Im übrigen stellt § 286 ZPO nur darauf ab, ob der Richter selbst die Überzeugung von der Wahrheit einer Behauptung gewonnen hat. Diese persönliche Gewißheit ist für die Entscheidung notwendig, und allein der Tatrichter hat ohne Bindung an gesetzliche Beweisregeln und nur seinem Gewissen unterworfen die Entscheidung zu treffen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt als wahr überzeugen kann. Eine von allen Zweifeln freie Überzeugung setzt das Gesetz dabei nicht voraus. Auf diese eigene Überzeugung des entscheidenden Richters kommt es an, auch wenn andere zweifeln oder eine andere Auffassung erlangt haben würden. Der Richter darf und muß sich aber in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Das wird allerdings vielfach ungenau so ausgedrückt, daß das Gericht sich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit begnügen dürfe; das ist falsch, falls damit von der Erlangung einer eigenen Überzeugung des Richters von der Wahrheit abgesehen werden sollte (vgl. BGH, DRiZ 67, 239).“

 

D. Fazit

Die Erkenntnismöglichkeiten des Gerichts sind begrenzt. Das erkennt der BGH an, wenn er den Maßstab des § 286 I ZPO entsprechend beschreibt. Die Anastasia-Entscheidung ist die Grundsatzentscheidung zu § 286 I ZPO und wird daher auch heute noch lebhaft zitiert.