Brokdorf-Beschluss (Teil 1)

Brokdorf-Beschluss (Teil 1)

A. Sachverhalt

Die Verfassungsbeschwerden betreffen das Verbot von Demonstrationen, die gegen die Errichtung des Kernkraftwerks Brokdorf geplant waren. Ihr wesentlicher Gegenstand ist der vom Oberverwaltungsgericht bestätigte Sofortvollzug eines generellen Demonstrationsverbotes, das der zuständige Landrat in Form einer Allgemeinverfügung vorbeugend erlassen hatte.

Als verfassungsrechtliche Grundlage für die Gewährleistung der Demonstrationsfreiheit kommt neben der Meinungsfreiheit insbesondere das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Betracht:

Art. 8
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden.

Eine nähere gesetzliche Regelung enthält das Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) vom 24. Juli 1953 in der Neufassung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789). Es bekräftigt in § 1 das Recht eines jeden, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Im III. Abschnitt enthält es folgende Vorschriften für “öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge”:

§ 14
(1) Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden.
(2) In der Anmeldung ist anzugeben, welche Person für die Leitung der Versammlung oder des Aufzuges verantwortlich sein soll.

§ 15
(1) Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist.
(2) Sie kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwider gehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 gegeben sind.
(3) Eine verbotene Veranstaltung ist aufzulösen.

§ 18 schreibt für Versammlungen unter freiem Himmel die entsprechende Anwendung einiger Vorschriften über Veranstaltungen in geschlossenen Räumen vor (Notwendigkeit und Aufgaben eines Versammlungsleiters, Zuziehung von Ordnern, Ausschluss von Störern, Entfernungspflicht der Teilnehmer nach Auflösung); § 19 trifft besondere Vorschriften für Aufzüge. Der IV. Abschnitt enthält Strafvorschriften und Bußgeldvorschriften, unter anderem für Veranstalter oder Leiter verbotener oder nicht angemeldeter Veranstaltungen (§ 26) sowie für die Teilnahme an verbotenen Versammlungen (§ 29 I Nr. 1).

Das Oberverwaltungsgericht und der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz haben im vorliegenden Verfahren mit unterschiedlicher Begründung den Standpunkt vertreten, dass die gesetzliche Regelung für Großdemonstrationen der in Brokdorf geplanten Art nicht ausreiche. Zur Klärung der Frage, welches Vorgehen der Behörden und der Veranstalter zum friedlichen Verlauf von Großdemonstrationen beitragen kann, hat der Bundesminister des Innern Erfahrungsberichte der zuständigen Landesinnenminister vorgelegt. Die Brokdorf-Demonstration führte zu Gesprächen zwischen Vertretern der Polizei, Mitgliedern von Umweltschutzverbänden und Repräsentanten gesellschaftlicher Kräfte über eine gewaltfreie Austragung von Umweltkonflikten, deren Ergebnis als Orientierungshilfe veröffentlicht wurde (Stuttgarter Gespräche, Bonn 1984). Darin heißt es:

Es sei für die Polizei eine erstrangige Aufgabe, die ungehinderte Ausübung der für die gesellschaftliche Konfliktregulierung wichtigen Grundrechte der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit zu gewährleisten. Ökologiebewegung und Friedensbewegung müßten schon nach ihrem Selbstverständnis darauf hinwirken, daß politische Konflikte nicht gewaltsam verliefen. Besonders wichtig sei die grundsätzliche Gesprächsbereitschaft aller Beteiligten und der sich daraus ergebende laufende Kontakt. Dieser fördere das gegenseitige Verständnis, erleichtere allen Beteiligten die Lagebeurteilung und die Durchführung ihrer Aufgaben und führe dazu, daß man entkrampfter auf Konfliktsituationen zugehe. Die Polizei könne Rechtsbrüche nicht hinnehmen, bemühe sich jedoch, durch lageangepaßte, flexible und verhältnismäßige Reaktionen Eskalationen zu vermeiden, bei der Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols Zurückhaltung zu üben und sich auf neue gewaltfreie Aktionsformen durch entsprechend defensives Auftreten und Einschreiten einzustellen. Alle Beteiligten sollten bestrebt sein, Maßnahmen folgender Art. zu vermeiden:

  • das Nichtankündigen von Versammlungen und Aktionen,
  • die Bewaffnung von Demonstranten, das gegenseitige Verhöhnen oder Beleidigen,
  • Aktionen und Maßnahmen, die Personen unverhältnismäßig behindern, bedrohen oder gefährden,
  • aggressiv wirkendes Auftreten von Demonstranten und Polizeikräften,
  • unnötig, überzogen oder unverständlich wirkende polizeiliche Einsatzmaßnahmen,
  • unnötige Machtdemonstrationen von Seiten der Polizei und der Verbände oder der Veranstalter, aber auch der Politiker.

Planung und Errichtung des Kernkraftwerks in Brokdorf waren Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Verfahren und seit 1976 von Demonstrationen begleitet, die teilweise unfriedlich verliefen. Nachdem Ende 1980 nach einem vierjährigen Baustopp bekanntgeworden war, dass mit einer Fortsetzung der Bauarbeiten zu rechnen sei, begannen Anfang 1981 Vorbereitungen für eine Großdemonstration. Bei einer vorbereitenden Zusammenkunft von 30 Bürgerinitiativen in Kollmar wurde beschlossen, zu einer internationalen Großdemonstration aufzurufen. Auf einem Treffen in Hannover am 14. Februar 1981 einigten sich etwa 400 Vertreter von 60 Bürgerinitiativen und anderen Vereinigungen auf Samstag, den 28. Februar 1981, als Demonstrationstermin. Dazu wurde im gesamten Bundesgebiet durch Flugblätter, Plakate und Zeitungsaufrufe eingeladen. Die Presse befasste sich von Anfang an mit der vorgesehenen Demonstration und ging von einem gewalttätigen Verlauf aus.

Nach Darstellung des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz konnte die endgültige Konzeption für die Demonstration erst am 21. Februar 1981 verabschiedet werden. Danach sollten sich die nach und nach eintreffenden Teilnehmer auf einer Auftaktkundgebung in dem etwa 9 km vom Bauplatz entfernten Städtchen Wilster sammeln; gegen 11.00 Uhr sollte ein Demonstrationszug in Richtung Brokdorf beginnen, wo gegen 13.00 Uhr eine Abschlusskundgebung in der Nähe des Bauplatzes auf einer Wiese stattfinden sollte, die ein Bauer zur Verfügung gestellt habe. Diese Veranstaltungen hätten am folgenden Montag, dem 23. Februar 1981, angemeldet werden sollen.

Der Landrat des Kreises Steinburg hatte seinerseits im Januar 1981 mit vorbereitenden Planungen begonnen. Mitte Februar erwog er, als erste Maßnahme eine “Abmahnung” für den Fall vorzunehmen, dass eine Demonstration nicht alsbald angemeldet werde. Ohne eine solche Abmahnung erließ er am Montag, dem 23. Februar 1981, eine Allgemeinverfügung, durch die er die beabsichtigte Demonstration sowie jede andere gegen das Kernkraftwerk gerichtete Demonstration in der Zeit vom 27. Februar bis 1. März 1981 am Baugelände und in einem etwa 210 qkm umfassenden Gebiet der Wilstermarsch verbot.

In der Begründung heißt es, entgegen der gesetzlichen Regelung sei eine Anmeldung bisher nicht erfolgt. Aber auch eine angemeldete Veranstaltung müsse untersagt werden. Es sei davon auszugehen, dass den Aufrufen zur Demonstration möglicherweise bis zu 50.000 Teilnehmer folgen würden, unter denen sich in erheblicher Anzahl Personen befänden, die eine gewaltsame Besetzung und Zerstörung des Bauplatzes sowie Gewalttaten gegen Personen und Sachen beabsichtigten. Außerdem sei mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass es bei der Durchführung der Veranstaltung zu schwerwiegenden Straftaten und Ordnungswidrigkeiten kommen werde. Diese Befürchtung basiere zum einen auf Zeitungsberichten und insbesondere auf den näher zitierten Angaben in Flugblättern mehrerer Gruppierungen, die eindeutig erkennen ließen, dass diese eine unfriedliche, auf Gewaltanwendung ausgerichtete Veranstaltung zu einem erheblichen Teil selbst wollten, zumindest aber Gewaltanwendung guthießen. Zum anderen hätten die bisherigen Erfahrungen - namentlich Demonstrationen in Brokdorf am 21. Dezember 1980 und am 2. Februar 1981 in Hamburg - gezeigt, dass sich potentielle Störer und Gewalttäter bewusst die bloße Präsenz friedlicher Demonstranten zunutze machten, indem sie diese als ihren Schutzschild missbrauchten. Es sei nahezu mit Gewissheit davon auszugehen, dass sich die gewalttätigen Teilnehmer der genannten Demonstrationen auch an der Veranstaltung in Brokdorf in gewalttätiger Form beteiligen würden.

Ferner ordnete der Landrat gemäß § 80 II Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung seiner Allgemeinverfügung an. Das öffentliche Interesse am Sofortvollzug begründete er damit, dass - wie bereits in der Verbotsbegründung zum Ausdruck gekommen sei - Nachteile für das Wohl der Allgemeinheit, Gesundheitsschäden und Sachschäden sowie die Verletzung von Rechtsnormen zu befürchten seien; der Schutz dieser Rechtsgüter sei höher zu bewerten als das mögliche Interesse an einer Durchführung der Veranstaltung.

Ebenso wie einige weitere Personen hatten nach Erlass des Verbotes auch die Beschwerdeführer zu II. als Vorstandsmitglieder des “Weltbunds zum Schutze des Lebens - Landesverband Hamburg eV” mit Schriftsatz vom 24. Februar 1981 (Dienstag) eine Demonstration für den 28. Februar 1981 im Bereich des Bauplatzes des Kernkraftwerks angemeldet. Mit Schreiben vom 25. Februar 1981 wies der Landrat auf seine Allgemeinverfügung und das darin enthaltene Verbot hin. Dagegen sowie gegen die Allgemeinverfügung legten die Beschwerdeführer alsbald Widerspruch ein. Auch die Beschwerdeführer zu I. erhoben gegen die Allgemeinverfügung mit Schreiben vom 26. Februar 1981 (Donnerstag) Widerspruch und zeigten mit zwei weiteren Schreiben gleichen Datums an, dass sie am 28. Februar 1981 in Wilster auf dem dortigen Marktplatz - die Beschwerdeführerin zu I. 2. außerdem in Brokdorf - mit ihrem eigenen Anhang gegen den Weiterbau des Kernkraftwerks demonstrieren würden.

Über die Widersprüche hat der Landrat zunächst nicht entschieden. Auf Antrag der Beschwerdeführer ordnete das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht durch Beschlüsse vom 27. Februar 1981 die teilweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche an. Es hielt den Sofortvollzug des Verbotes aufrecht für einen Bereich, der durch diejenigen Punkte begrenzt wurde, an denen die Polizei in einer Entfernung zwischen etwa 4,5 km bis 9 km vom Bauplatz Straßensperren vorbereitet hatte; ferner war ein Sicherheitsabstand von maximal 100 m vor den Straßensperren einzuhalten.

Obwohl es in der Rechtsmittelbelehrung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen hieß, diese seien - auch für die Beigeladenen - unanfechtbar, soweit dem Antrag stattgegeben worden sei, erhoben die beigeladenen Gemeinden und Amtspersonen, der Landrat und der Vertreter des öffentlichen Interesses am Nachmittag des 27. Februar 1981 (Freitag) Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht. In einer am Abend dieses Tages anberaumten mündlichen Verhandlung legten die Beschwerdeführer zu II. ebenfalls Beschwerde ein. Mit den in der Nacht zum 28. Februar 1981 ergangenen Beschlüssen (DÖV 1981, S. 461) änderte das Oberverwaltungsgericht die erstinstanzlichen Entscheidungen und wies auf die Beschwerde der Beigeladenen die Anträge auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in vollem Umfang zurück. Die Beschwerden des Landrats und des Vertreters des öffentlichen Interesses beurteilte es gemäß § 80 VI 2 VwGO aF als unzulässig, die Beschwerde der Beschwerdeführer zu II. als unbegründet.

Die Beschwerdeführer zu I. hatten noch in der Nacht zum 28. Februar 1981 Verfassungsbeschwerde eingelegt. Ihr gleichzeitiger Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung blieb erfolglos (BVerfGE 56, 244). Gleichwohl hat die Großdemonstration unter Teilnahme von weit mehr als 50.000 Personen stattgefunden. Dabei ist es zu Ausschreitungen gekommen. Über die Frage, ob die Demonstration gleichwohl insgesamt als friedlich zu beurteilen sei, herrscht keine Einigkeit. Die Polizei hatte sich entschlossen, die Teilnehmer nach Durchsuchung auch die Sperren auf der vom Verwaltungsgericht vorgesehenen Linie passieren zu lassen.

Über die Widersprüche der Beschwerdeführer hat der Landrat erst nach Einlegung der Verfassungsbeschwerden im Sommer 1981 entschieden und sie zurückgewiesen. Dagegen haben die Beschwerdeführer zu II. Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Nach Meinung der Beschwerdeführer zu I. hatte sich der Anlass zur Klageerhebung durch Zeitablauf erledigt; hingegen bestehe das Rechtsschutzbedürfnis für ihre gegen den Sofortvollzug des Verbotes gerichtete und schon vor dem Demonstrationstermin erhobene Verfassungsbeschwerde weiter fort.

Mit ihren Verfassungsbeschwerden wenden sich die Beschwerdeführer gegen den Sofortvollzug der Allgemeinverfügung und gegen die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts. Die Beschwerdeführer zu II. greifen ferner das erstinstanzliche Urteil an, soweit es den Sofortvollzug des Demonstrationsverbotes auch für das Gebiet außerhalb einer engeren “Bannmeile” um die Baustelle hatte bestehen lassen.

Die Beschwerdeführer zu I. rügen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 8 und 5 GG.  

B. Worum geht es?

Art 8 I GG gewährleistet allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Dieses Recht kann für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden (Art. 8 II GG). Davon hat der Bundesgesetzgeber im Jahr 1953 mit dem Versammlungsgesetz Gebrauch gemacht (mittlerweile liegt die Gesetzgebungskompetenz bei den Ländern, wobei das Bundesgesetz nach Art. 125a I GG bis zur Verabschiedung eines Landesgesetzes fortgilt).
Das BVerfG hatte nunmehr Gelegenheit, sich erstmals eingehend mit der Versammlungsfreiheit und deren Einschränkungen durch das Versammlungsgesetz zu befassen. Insbesondere hatte das BVerfG folgende Frage zu beantworten:

„Rechtfertigt ein Verstoß gegen die Pflicht zur Anmeldung einer Versammlung (§ 14 VersG) deren Verbot?“

 

C. Wie hat das BVerfG entschieden?

Das BVerfG hält im Brokdorf-Beschluss (Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233, 341/81 (BVerfGE 69, 315 ff.)) die Verfassungsbeschwerden für begründet, soweit sie sich dagegen richten, dass das Oberverwaltungsgericht auf die Beschwerde der Beigeladenen den Sofortvollzug des Demonstrationsverbotes über den vom Verwaltungsgericht gebilligten Umfang hinaus bestätigt hat. Die mittelbar beanstandeten Vorschriften des Versammlungsgesetzes (§§ 14, 15 VersG) halten, soweit sie für die angegriffenen Entscheidungen erheblich sind, einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung im Ergebnis stand.

Das BVerfG äußert sich erstmals eingehend zum Umfang des Schutzbereichs von Art. 8 I GG. Danach verbürge die Versammlungsfreiheit das Recht, über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Versammlung zu entscheiden. Zugleich betont das BVerfG die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit, bei der es sich um eines „der vornehmsten Menschenrechte überhaupt [handele], welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend“ sei. Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehöre zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts sei vom Gesetzgeber beim Erlass grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten:

„Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art. und Inhalt der Veranstaltung und untersagt zugleich staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers. In ihrer Geltung für politische Veranstaltungen verkörpert die Freiheitsgarantie aber zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreicht. …
In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, die sich bislang mit der Versammlungsfreiheit noch nicht befaßt hat, wird die Meinungsfreiheit seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gezählt. Sie gilt als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit und als eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt, welches für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend ist; denn sie erst ermöglicht die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform (vgl. BVerfGE 7, 198 [208]; 12, 113 [125]; 20, 56 [97]; 42, 163 [169]). Wird die Versammlungsfreiheit als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden, kann für sie nichts grundsätzlich anderes gelten. Dem steht nicht entgegen, daß speziell bei Demonstrationen das argumentative Moment zurücktritt, welches die Ausübung der Meinungsfreiheit in der Regel kennzeichnet. Indem der Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit und ohne Zwischenschaltung von Medien kundgibt, entfaltet auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer einerseits in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art. des Auftretens und des Umganges miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Die Gefahr, daß solche Meinungskundgaben demagogisch mißbraucht und in fragwürdiger Weise emotionalisiert werden können, kann im Bereich der Versammlungsfreiheit ebensowenig maßgebend für die grundsätzliche Einschätzung sein wie auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit und Pressefreiheit.“

Die Anmeldepflicht nach § 14 I VersG sei im Grundsatz verfassungskonform, obwohl diese Einschränkung in Art. 8 GG nicht ausdrücklich vorgesehen ist. Die Anmeldepflicht greife indes nicht ausnahmslos ein und ihre Verletzung dürfe nicht automatisch zu einer Auflösung oder einem Verbot führen. Eine Ausnahme von der Anmeldepflicht gelte bei Spontandemonstrationen:

„Die in § 14 I VersG geregelte Anmeldepflicht war in der Weimarer Verfassung ausdrücklich als zulässige Beschränkung der Versammlungsfreiheit vorgesehen. Nach Meinung des Bundesverwaltungsgerichts schränkt sie das Grundrecht im Regelfall nur unerheblich ein (BVerwGE 26, 135 [137 f.]). Der Bundesgerichtshof (vgl. BGHSt 23, 46 [58 f.]) und ebenso die ganz herrschende Lehre halten die Regelung für verfassungsgemäß. Dem ist zuzustimmen, wenn dabei berücksichtigt wird, daß die Anmeldepflicht nicht ausnahmslos eingreift und daß ihre Verletzung nicht schon schematisch zum Verbot oder zur Auflösung einer Veranstaltung berechtigt.

Die Anmeldepflicht gilt nur für Versammlungen unter freiem Himmel, weil diese wegen ihrer Außenwirkungen vielfach besondere Vorkehrungen erfordern. Die mit der Anmeldung verbundenen Angaben sollen den Behörden die notwendigen Informationen vermitteln, damit sie sich ein Bild darüber machen können, was einerseits zum möglichst störungsfreien Verlauf der Veranstaltung an Verkehrsregelungen und sonstigen Maßnahmen veranlaßt werden muß und was andererseits im Interesse Dritter sowie im Gemeinschaftsinteresse erforderlich ist und wie beides aufeinander abgestimmt werden kann (vgl. BTDrucks 8/1845, S. 10). Nach ganz herrschender Ansicht entfällt die Pflicht zur rechtzeitigen Anmeldung bei Spontandemonstrationen, die sich aus aktuellem Anlaß augenblicklich bilden (vgl. etwa BVerwGE 26, 135 [138]; BayObLG, NJW 1970, S. 479; Dietel/Gintzel, a.a.O., RdNr. 23 zu § 1 und RdNr. 18 ff. zu § 14 VersG; Herzog, a.a.O., RdNr. 48, 82 und 95 zu Art. 8 GG; v. Münch, a.a.O., RdNr. 10 zu Art. 8 GG; Hoffmann-Riem, a.a.O., RdNr. 47 zu Art. 8 GG; Frowein, a.a.O. [1085 f.]; Ossenbühl, a.a.O. [65 ff.]; P. Schneider, a.a.O. [264 f.]). Sie unterstehen der Gewährleistung des Art. 8 GG; versammlungsrechtliche Vorschriften sind auf sie nicht anwendbar, soweit der mit der Spontanveranstaltung verfolgte Zweck bei Einhaltung dieser Vorschriften nicht erreicht werden könnte. Ihre Anerkennung trotz Nichtbeachtung solcher Vorschriften läßt sich damit rechtfertigen, daß Art. 8 GG in seinem Absatz 1 grundsätzlich die Freiheit garantiert, sich “ohne Anmeldung oder Erlaubnis” zu versammeln, daß diese Freiheit zwar nach Absatz 2 für Versammlungen unter freiem Himmel auf gesetzlicher Grundlage beschränkbar ist, daß solche Beschränkungen aber die Gewährleistung des Absatz 1 nicht gänzlich für bestimmte Typen von Veranstaltungen außer Geltung setzen dürfen, daß vielmehr diese Gewährleistung unter den genannten Voraussetzungen von der Anmeldepflicht befreit.

Diese Beurteilung von Spontandemonstrationen beruht darauf, daß die versammlungsrechtlichen Ordnungsvorschriften im Lichte des Grundrechts der Versammlungsfreiheit angewendet werden und gegebenenfalls hinter ihm zurücktreten müssen. Das Grundrecht und nicht das Versammlungsgesetz verbürgt die Zulässigkeit von Versammlungen und Aufzügen; das Versammlungsgesetz sieht lediglich Beschränkungen vor, soweit solche erforderlich sind. Damit stimmt überein, daß eine Verletzung der Anmeldepflicht nicht schon automatisch zum Verbot oder zur Auflösung einer Veranstaltung führt. Zwar macht sich strafbar, wer als Veranstalter oder Leiter eine nicht angemeldete Versammlung “durchführt” (§ 26 VersG). Im übrigen bestimmt aber das Versammlungsgesetz in § 15 II lediglich, daß die zuständige Behörde Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge auflösen “kann”, wenn sie nicht angemeldet werden. Der Bundesminister des Innern hält als Sanktion ferner ein präventives Verbot für möglich, wenn und soweit dies ein milderes Mittel als die im Gesetz ausdrücklich genannte Auflösung darstellt. Auflösung und Verbot sind aber jedenfalls keine Rechtspflicht der zuständigen Behörde, sondern eine Ermächtigung, von welcher die Behörde angesichts der hohen Bedeutung der Versammlungsfreiheit im allgemeinen nur dann pflichtgemäß Gebrauch machen darf, wenn weitere Voraussetzungen für ein Eingreifen hinzukommen; die fehlende Anmeldung und der damit verbundene Informationsrückstand erleichtern lediglich dieses Eingreifen.

Gilt die Anmeldepflicht nicht ausnahmslos und führt ihre Verletzung nicht automatisch zu Auflösung und Verbot, dann ist nicht erkennbar, daß die auf gewichtigen Gemeinwohlbelangen beruhende Pflicht im Regelfall unverhältnismäßig sein könnte. Ob und wieweit für Großdemonstrationen Besonderheiten bestehen, die ähnlich wie bei Spontandemonstrationen eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, ist in anderem Zusammenhang zu erörtern.“

§ 15 VersG, wonach die zuständige Behörde die Versammlung von bestimmten Auflagen abhängig machen oder verbieten oder auflösen darf, “wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist”, sei verfassungskonform.
Zunächst führt das BVerfG aus, dass die Norm hinreichend bestimmt sei; insofern könne auf die Begriffsbestimmung im Polizeireicht zurückgegriffen werden:

„Die Beschwerdeführer und der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz erheben Bedenken wegen der Unbestimmtheit der Eingriffsvoraussetzungen “Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung”, die um so problematischer sei, als die Entscheidung über die Eingriffe im Ermessen der unteren Verwaltungsbehörden und der Vollzugspolizei liege. Die genannten Begriffe haben indessen - wie der Bundesminister des Innern zutreffend darlegt - durch das Polizeirecht einen hinreichend klaren Inhalt erlangt (vgl. etwa Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 8. Aufl, 1977, Bd 2, S. 117 f. und 130 f.). Danach umfaßt der Begriff der “öffentlichen Sicherheit” den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht. Unter “öffentlicher Ordnung” wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.“

Zudem sei § 15 VersG verfassungskonform auszulegen. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung bedeutsam seien zwei Einschränkungen, die im Gesetz selbst angelegt seien. Danach dürfen Auflösung und Verbot nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen:

„Verbot oder Auflösung setzen zum einen als ultima ratio voraus, daß das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft ist (so auch BVerwGE 64, 55). Das beruht auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser begrenzt aber nicht nur das Ermessen in der Auswahl der Mittel, sondern ebenso das Entschließungsermessen der zuständigen Behörden. Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit hat nur dann zurückzutreten, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts ergibt, daß dies zum Schutz anderer gleichwertiger Rechtsgüter notwendig ist. Demgemäß rechtfertigt keinesfalls jedes beliebige Interesse eine Einschränkung dieses Freiheitsrechts; Belästigungen, die sich zwangsläufig aus der Massenhaftigkeit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck nicht vermeiden lassen, werden Dritte im allgemeinen ertragen müssen. Aus bloßen verkehrstechnischen Gründen werden Versammlungsverbote um so weniger in Betracht kommen, als in aller Regel ein Nebeneinander der Straßenbenutzung durch Demonstranten und fließenden Verkehr durch Auflagen erreichbar ist.

Die behördliche Eingriffsbefugnis wird zum anderen dadurch begrenzt, daß Verbote und Auflösungen nur bei einer “unmittelbaren Gefährdung” der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung statthaft sind. Durch das Erfordernis der Unmittelbarkeit werden die Eingriffsvoraussetzungen stärker als im allgemeinen Polizeirecht eingeengt. Erforderlich ist im konkreten Fall jeweils eine Gefahrenprognose. Diese enthält zwar stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil; dessen Grundlagen können und müssen aber ausgewiesen werden. Demgemäß bestimmt das Gesetz, daß es auf “erkennbaren Umständen” beruhen muß, also auf Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen Einzelheiten; bloßer Verdacht oder Vermutungen können nicht ausreichen. Unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde insbesondere bei Erlaß eines vorbeugenden Verbotes keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen, zumal ihr bei irriger Einschätzung noch die Möglichkeit einer späteren Auflösung verbleibt. Welche Anforderungen im einzelnen geboten sind, haben im übrigen zunächst die Fachgerichte zu beurteilen (vgl. etwa einerseits Dietel/Gintzel, a.a.O., RdNr. 12 zu § 15 VersG unter Hinweis auf BVerwGE 45, 51 [61]; andererseits Ott, a.a.O., RdNr. 5 zu § 15 VersG und Werbke, NJW 1970, S. 1 [2]; ähnlich OVG Bremen, DÖV 1972, S. 101 [102]; OVG Saarlouis, DÖV 1973, S. 863 [864] und auch der Bericht des Rechtsausschusses zur Gesetzesnovelle 1978, BTDrucks 8/1845, S. 11). Sie lassen sich schwerlich losgelöst von den konkreten Umständen von Verfassungs wegen vorschreiben, sondern können davon abhängen, wie weit etwa bei Großdemonstrationen eine Bereitschaft der Veranstalter zu kooperativen Vorbereitungen besteht und ob Störungen nur von dritter Seite oder durch eine kleine Minderheit befürchtet werden (vgl. dazu unten III.1.* und 3.*). Insgesamt ist § 15 VersG jedenfalls dann mit Art. 8 GG vereinbar, wenn bei seiner Auslegung und Anwendung sichergestellt bleibt, daß Verbote und Auflösungen nur zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen.“

 

D. Fazit

Der Brokdorf-Beschluss ist die grundlegende (Leit-)Entscheidung des BVerfG zu Art. 8 GG und prägt das Versammlungsrecht bis heute. Da die Versammlungsfreiheit zu den prüfungsrelevantesten Grundrechten zählt, sollten die Grundzüge des Brokdorf-Beschlusses bekannt sein.

Im Brokdorf-Beschluss hat das BVerfG zudem einige Besonderheiten herausgearbeitet, die von Verfassungs wegen für Großdemonstrationen gelten. Das werden wir in der kommenden Woche darstellen.