"Hells Angels"-Fall

A. Sachverhalt

Nach den Feststellungen des Landgerichts war der - nicht vorbestrafte - Angeklagte der für die Disziplin und Ordnung zuständige “Sergeant at Arms” im “Chapter Bo.” des Motorrad- und Rockerclubs “Hells Angels”. Vor diesem Hintergrund kam es zu folgendem Geschehen:

Im Februar und März 2010 entstanden Gerüchte, dass ein Mitglied des verfeindeten Motorradclubs “Bandidos” ein Mitglied der “Hells Angels” töten oder zumindest schwer verletzen wolle, um sich einen Aufnäher mit dem Schriftzug “Expect no Mercy” sowie eine Prämie von 25.000 Euro zu verdienen. Hintergrund dafür war, dass am 8. Oktober 2009 A. als Mitglied der “Hells Angels” ein Mitglied der “Bandidos” erschossen hatte. Der Zeuge L., der Anwärter (“Hangaround”) auf eine Vormitgliedschaft (“Prospekt”) bei den “Bandidos” war, der aber zugleich Kontakte zu Mitgliedern der “Hells Angels” unterhielt, erteilte eine Warnung. Er gab an, der Zeuge Le., ein weiterer “Hangaround” bei den “Bandidos”, plane den Angriff und führe unter anderem zu diesem Zweck eine abgesägte Schrotflinte in seinem Auto mit. Am 13. März 2010 wurde L. wegen seiner Kontakte zu den “Hells Angels” von Mitgliedern der “Bandidos” verprügelt und aus ihrem Club vertrieben. Danach stellten der Angeklagte und seine Clubkameraden T. und Bou. den Zeugen L. am 16. März 2010 zur Rede. Er bestritt aber eigene Angriffsabsichten und behauptete, tatsächlich berühme sich L. seiner Angriffsabsichten gegen die “Hells Angels”. Der Angeklagte war danach davon überzeugt, dass jedenfalls irgendein Mitglied der “Bandidos” tatsächlich einen Angriff auf ein Mitglied der “Hells Angels” plane.

In der Zwischenzeit ermittelten die Strafverfolgungsbehörden gegen Mitglieder der “Hells Angels” wegen der Tat zum Nachteil der Zeugin V. Das Amtsgericht Ko. erließ zehn Durchsuchungsbeschlüsse gegen verschiedene Mitglieder des Motorradclubs “Hells Angels”. Einer der Beschlüsse betraf die Durchsuchung von Wohnhaus und Fahrzeug des Angeklagten. Ziel der Maßnahme sollte das Auffinden von Beweismitteln über die Drohungen des Angeklagten und weiterer Mitglieder der “Hells Angels” gegen die Zeugin V. sein. Aus taktischen Gründen sollten alle Durchsuchungen zur gleichen Zeit stattfinden. Weil der Angeklagte als gewaltbereit eingeschätzt wurde und - mit behördlicher Erlaubnis - über Schusswaffen verfügte, beschloss das Landeskriminalamt, dass ein Spezialeinsatzkommando eingesetzt werden solle, um gewaltsam in das Haus des Angeklagten einzudringen, diesen im Schlaf zu überraschen, eine “stabile Lage” herzustellen und eine ungestörte Durchsuchung zu ermöglichen. Dazu wurden zehn Beamte des Spezialeinsatzkommandos kurz vor 06.00 Uhr am 17. März 2010 am Zugriffsort eingesetzt.
Sie umstellten das Haus des Angeklagten, wodurch Fluchtmöglichkeiten ausgeschlossen wurden. Fünf Beamte, denen das Eindringen in das Haus als erste Einsatzkräfte oblag, postierten sich an der Vorderfront nahe der Eingangstür dicht an der Hauswand. Darunter befand sich der Beamte Kop. als Türöffnungsspezialist. Dieser sollte mit einem hydraulischen Gerät das Türschloss sowie zwei Zusatzverriegelungen zerstören, die der Angeklagte nach früheren Einbrüchen von Dieben in sein Haus angebracht hatte, die Tür dann mit einer Ramme aus dem Rahmen drücken und so das Eindringen ermöglichen. Alle Beamten waren bewaffnet, mit Sturmhauben zur Tarnung und mit Helmen nebst Visier sowie Schutzwesten mit der Aufschrift “Polizei” ausgerüstet. In einiger Entfernung hielten sich weitere Einsatzkräfte der Sondereinheit, ein Notarztteam, der Einsatzleiter, der ermittelnde Staatsanwalt sowie Beamte der N. Polizei bereit.

Der Einsatz begann um 06.00 Uhr bei Dämmerung. Im Haus des Angeklagten brannte kein Licht. Die Rollläden der Fenster waren ganz oder teilweise geschlossen. Der Beamte Kop. setzte, vor der Haustür kniend, das hydraulische Gerät zur Türöffnung zwischen Zarge und Türblatt an und bediente die Hydraulik, worauf eine der Verriegelungen mit lautem Knacken zerbrach. Der Beamte brachte das Gerät danach an der rechten Türseite in Höhe des Türschlosses an, das sodann wiederum mit lautem Knacken aufgebrochen wurde. Schließlich musste in einem dritten Arbeitsgang noch eine letzte Türverriegelung an der Oberkante der Tür geöffnet werden. Die Ramme zum Eindrücken der Tür wurde schon herbeigeholt. Inzwischen war der Angeklagte, der zusammen mit seiner Verlobten S. K. im Obergeschoss geschlafen hatte, von dieser geweckt worden, weil sie Geräusche gehört hatte; er hatte vergeblich versucht, durch das Schlafzimmerfenster Personen zu erkennen und hatte Geräusche sowie Stimmen an der Haustür gehört. Er nahm an, dass er das Opfer des angekündigten Überfalls von “Bandidos” werden sollte.

Er nahm eine Pistole, über die er mit behördlicher Waffenbesitzerlaubnis verfügte, lud sie mit einem Magazin mit acht Patronen und betätigte den Lichtschalter für die Beleuchtung von Flur und Treppe. Seine Verlobte, die ihm folgen wollte, wies er an, ins Schlafzimmer zurückzugehen, die Tür zu schließen und mit dem Mobiltelefon ihre Mutter und seinen Bruder von dem - vermeintlichen - Überfall zu benachrichtigen. Er ging dann die Treppe hinab und nahm wahr, dass trotz des eingeschalteten Lichts weiter an der Haustür gearbeitet wurde. Die Beamten hatten über die Hörsprecheinrichtung ihrer Helme die Meldung “Licht” erhalten, gingen aber gleichwohl weiter verdeckt vor und gaben sich nicht zu erkennen. Aus der Fortsetzung der Aufbruchtätigkeiten an der Haustür trotz Einschaltung der Beleuchtung im Hause schloss der Angeklagte, dass es sich nicht um normale Einbrecher handelte, sondern um den befürchteten, gegen sein Leben und das seiner Verlobten gerichteten Angriff von “Bandidos”. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass es sich um einen Polizeieinsatz handeln könne. Durch zwei 10,5 mal 44 cm große Ornamentgläser in der Haustür konnte er keine Einzelheiten erkennen, sah aber Umrisse einer Person. Er blieb am Treppenabsatz in Deckung stehen und rief: “verpisst euch”, was jedoch von den Beamten nicht gehört wurde, die das Aufbrechen der Haustür fortsetzten.
In dieser von ihm als lebensbedrohlich empfundenen Situation gab der Angeklagte, der damit rechnete, er könne alsbald durch die Tür oder sofort nach dem unmittelbar drohenden Aufbrechen der Tür von den vermeintlichen Angreifern beschossen werden, zu seiner Verteidigung zwei Schüsse auf die Tür ab, die der Bewegung der Person folgten, die sich an der Tür zu schaffen machte und die sich gerade aus gebückter Position aufrichtete. Bei der Schussabgabe nahm der Angeklagte billigend in Kauf, dass ein Mensch tödlich getroffen werden könnte. Der erste Schuss, der 111,5 cm über dem Boden die Haustür durchschlug, ging fehl; der zweite durchschlug 121 cm über dem Boden die Tür und traf den Beamten Kop. unter den erhobenen linken Arm. Das Geschoss drang durch die Öffnung des Schutzpanzers am Oberarm in den Brustkorb ein und verletzte den Beamten tödlich. Nun rief ein anderer Beamter:

“Sofort aufhören zu schießen. Hier ist die Polizei.”

Der Angeklagte legte die Waffe sofort weg, lief zum Fenster und rief:

“Wie könnt ihr so was machen? Warum habt ihr nicht geklingelt? Wieso gebt ihr euch nicht zu erkennen?”.

Er ließ sich widerstandslos verhaften, wobei er verletzt wurde.  

B. Worum geht es?

Der Angeklagte hat den Polizeibeamten getötet. Die Tat könnte aber nach § 32 StGB gerechtfertigt sein:

„Eine Notwehrlage hätte für ihn vorgelegen, wenn der Polizeieinsatz in seiner konkreten Gestalt nicht rechtmäßig war. Gegen die Rechtmäßigkeit könnte sprechen, dass es sich bei einer Durchsuchung um eine grundsätzlich offen durchzuführende Maßnahme handelt. Ob sich für das konkrete Vorgehen der Polizei in den §§ 102 ff. StPO eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage ergibt (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Januar 2007 - StB 18/06, BGHSt 51, 211, 212 f.), kann zweifelhaft sein. § 164 StPO erlaubt ein Einschreiten nur gegen eine tatsächlich vorliegende oder konkret bevorstehende Störung der Durchsuchung (vgl. LG Frankfurt am Main, Beschluss vom 26. Februar 2008 - 5/26 Qs 6/08 - mit Anm. Jahn JuS 2008, 649 ff.; Eisenberg in Festschrift für Rolinski, 2002, S. 165, 175 f.; Erb in LR, StPO, 26. Aufl., § 164 Rn. 8; C. Müller, Rechtsgrundlagen und Grenzen zulässiger Maßnahmen bei der Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen, 2003, S. 86 f.). Ob präventiv-polizeirechtliche Regeln das Verfahren der strafprozessualen Durchsuchung abändern können, ist fraglich (abl. C. Müller aaO S. 58 ff. mwN).“

Der BGH lässt die Frage der Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes und eines hieraus folgenden möglichen Notwehrrechts des Angeklagten hiergegen aber im Ergebnis offen. Stattdessen geht er der Frage nach, was sich der Angeklagte vorgestellt hat; denn er hatte die Polizeibeamten nicht als solche erkannt, sondern ging davon aus, von Mitgliedern eines verfeindeten Clubs angegriffen zu werden. Es geht also um die Frage eines Erlaubnistatbestandsirrtums, der zu einem Ausschluss der Vorsatzschuld entsprechend § 16 I 1 StGB führt.
Der BGH hatte also die folgende Frage zu beantworten:

„Befand sich der Angeklagte in einem Irrtum über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen eines rechtlich anerkannten Rechtfertigungsgrundes (Erlaubnistatbestandsirrtum)?“

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH hebt im Hells Angels-Fall (Urt. v. 2.11.2011 – 2 StR 375/11 (NStZ 2012, 272 ff.)) die Verurteilung des Angeklagten wegen Totschlags auf und spricht ihn (insoweit) frei. Der Angeklagte habe sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden; dies führe entsprechend § 16 I 1 StGB zum Ausschluss der Vorsatzschuld.

Der BGH fasst zunächst zusammen, was sich der Angeklagte vorgestellt hatte:

„Der Angeklagte ging nach den Feststellungen des Landgerichts aufgrund der Hinweise vom Vortag durch die Zeugen L. und Le. von einem Überfall durch ein Rollkommando der verfeindeten “Bandidos” aus. Er schloss einen “normalen Einbruch” angesichts des Vorgehens der Angreifer, die sich auch durch Einschalten der Beleuchtung im Haus und den Ruf “verpisst euch” nicht aufhalten ließen, aus. Die Bedrohung war aus seiner Sicht akut, da die Angreifer die Haustür bereits weitgehend aufgebrochen hatten und das Eindringen unmittelbar bevorstand, weil er mit einer nicht abschätzbaren Zahl von Angreifern mit unbekannter Bewaffnung und Ausrüstung und mit einem besonders aggressiven Vorgehen rechnete.“

Fraglich ist, ob diese Annahme des Angeklagten – wäre sie tatsächlich zutreffend gewesen – zu einer Rechtfertigung der Schüsse nach § 32 StGB geführt hätte.
Der Angeklagte hat sich einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff vorgestellt. Der BGH bejaht zudem die Erforderlichkeit des (tödlichen) Schusswaffeneinsatzes:

„Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, dann ist sie grundsätzlich dazu berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; der Angegriffene muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist. Das gilt auch für die Verwendung einer Schusswaffe. Nur wenn mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen, hat der Verteidigende dasjenige Mittel zu wählen, das für den Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Wann eine weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig zu beseitigen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. Senat, Urteil vom 5. Oktober 1990 - 2 StR 347/90, NJW 1991, 503, 504). Unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist der Verteidigende zudem nur dann auf die für den Angreifer weniger gravierende verwiesen, wenn ihm genügend Zeit zur Wahl des Mittels sowie zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (vgl. Senat, Urteil vom 30. Juni 2004 - 2 StR 82/04, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 17).“

Ein Warnschuss sei nicht erforderlich gewesen, weil er nicht geeignet gewesen wäre, den Angriff zu beenden; vielmehr hätte er zu einer weiteren Eskalation beigetragen:

„In der Regel ist der Angegriffene bei einem Schusswaffeneinsatz zwar gehalten, den Gebrauch der Waffe zunächst anzudrohen oder vor einem tödlichen Schuss einen weniger gefährlichen Einsatz zu versuchen. Die Notwendigkeit eines Warnschusses kann aber nur dann angenommen werden, wenn ein solcher Schuss auch dazu geeignet gewesen wäre, den Angriff endgültig abzuwehren (vgl. Senat, Beschluss vom 28. Oktober 1992 - 2 StR 300/92, StV 1993, 241, 242). Das war hier nicht der Fall, zumal der Angeklagte damit rechnete, dass er seinerseits von den Angreifern durch die Tür hindurch beschossen werden könne. Ihm blieb angesichts seiner Annahme, dass ein endgültiges Aufbrechen der Tür und das Eindringen mehrerer bewaffneter Angreifer oder aber ein Beschuss durch die Tür unmittelbar bevorstand, keine Zeit zur ausreichenden Abschätzung des schwer kalkulierbaren Risikos.
Bei dieser zugespitzten Situation ist nicht ersichtlich, warum die Abgabe eines Warnschusses die Beendigung des Angriffs hätte erwarten lassen (vgl. Senat, Urteil vom 2. Oktober 1996 - 2 StR 332/96; BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 13). Ein Warnschuss ist im Übrigen auch nicht erforderlich, wenn dieser nur zu einer weiteren Eskalation führen würde (vgl. Rönnau/Hohn in LK StGB § 32 Rn. 177). Hier war aus Sicht des Angeklagten zu erwarten, dass die hartnäckig vorgehenden Angreifer ihrerseits gerade dann durch die Tür schießen würden, wenn sie durch einen Warnschuss auf die Abwehrbereitschaft des Angeklagten aufmerksam gemacht worden wären. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang muss sich ein Verteidiger nicht einlassen. Daher waren beide Schüsse, die der Angeklagte durch die Tür abgegeben hat, aus seiner Sicht erforderliche Notwehrhandlungen (vgl. Senat, Urteil vom 1. Juni 1994 - 2 StR 195/94, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 10).“

Auch wenn damit eine Verurteilung wegen (vorsätzlichen) Totschlags entsprechend § 16 I 1 StGB ausscheidet, wäre noch eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB denkbar (§ 16 I 2 StGB). Dazu müsste der Angeklagten fahrlässig gehandelt haben; das wäre nur dann der Fall, wenn er seinen Irrtum über die Identität und Absicht der Angreifer hätte vermeiden können. Das verneint der BGH:

„Das ist ausgeschlossen, weil der Angeklagte nach den rechtsfehlerfreien und lückenlosen Feststellungen des Landgerichts mit plausiblen Gründen von einem lebensbedrohenden Angriff durch “Bandidos” ausging, ferner weil die tatsächlich angreifenden Polizeibeamten sich auch nach Einschaltens der Beleuchtung im Haus nicht zu erkennen gaben und weil der Angeklagte wegen ihres verdeckten Vorgehens keine Möglichkeit hatte, rechtzeitig zu erkennen, dass es sich um einen Polizeieinsatz handelte (vgl. auch BGH, Urteil vom 23. Juli 1998 - 4 StR 261/98).“

 

D. Fazit

Ein tragischer Fall, der Anlass sein sollte, sich mit den Grundlagen des Erlaubnistatbestandsirrtums (erneut) näher zu befassen.

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