Examensreport: ÖR II 1. Examen aus dem Januar 2018 NRW

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Die X- Fraktion und die Y-Fraktion sind die beiden Regierungsfraktionen in der Bundesregierung. Die Bundesregierung möchte eine Gesetzesänderung des Grundgesetzes herbeiführen. Hierfür entwirft sie ein Gesetz zur Stärkung der Demokratie (DemStG). Um das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen, lässt die Bundesregierung die Vorlage über den in der X-Fraktion Prominenten Abgeordneten A einbringen, der diese alleine unterzeichnet. (Sonstige Vorschriften der GO BT sind eingehalten).

Das Gesetzt sieht wie folgt aus (sinngemäß):
Die Bundesregierung kann Gesetze zur Bekämpfung von Wirtschaftskrisen erlassen. Die Art. 76, Art. 77 und Art. 78 GG finden hierbei keine Anwendung.

Zwei Drittel des Bundestages sowie zwei Drittel des Bundesrates stimmen für das Gesetz. Die zwei Drittel des Bundesrates kommen aber nur deshalb zustande, weil der vom Land L abgesandte Innenminister B, der mit Gesamtstimmrecht angewiesen wurde, gegen das Gesetz zu stimmen (mit 4 Stimmen), für das Gesetz gestimmt hatte (Ansonsten wäre die erforderliche Zwei Drittel Mehrheit nicht erreicht worden).

Der Bundespräsident hat Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Er fragt sich, ob die Vorlage durch A problematisch sein könnte. Auch hat er Bedenken bezüglich der Beteiligung des Bundesrates. Schließlich fragt er sich, ob die Unstimmigkeiten bezüglich der Abstimmung im Bundesrat von Bedeutung sind.

Der Bundeskanzler möchte das Gesetz aber unter allen Umständen durchsetzen.

Frage 1: Ist das DemStG verfassungsgemäß?

Frage 2: Der Bundespräsident weigert sich das Gesetz auszufertigen. Er hält das DemStG für formell und materiell verfassungswidrig. Hat der Bundespräsident hier ein Prüfungsrecht?

Frage 3: Der Bundeskanzler, der Abgeordnete A und die X- Fraktion wollen das Verhalten des Bundespräsidenten rechtlich überprüfen lassen. Ist ein von

a) dem Bundeskanzler
b) dem A, wenn er die Rechte des Bundestages geltend macht
c) der X-Fraktion, wenn auch sie die Rechte des Bundestages geltend macht
erhobener Rechtsbehelf zulässig?

Frage 4: Angenommen, der Bundespräsident tritt, ohne sich zum DemStG geäußert zu haben, zurück. Kann der Bundesratspräsident das Gesetz ausfertigen, auch wenn er „nur“ nach Art. 57 GG tätig wird?

Bearbeitervermerk:
Auf § 76 GO BT wird hingewiesen. Bei Frage 2 ist von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes auszugehen. Auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen ist ggf. hilfsgutachterlich einzugehen.

 

Unverbindliche Lösungsskizze

Frage 1: Verfassungsmäßigkeit des DemStG

I. Formelle Verfassungsmäßigkeit

  1. Zuständigkeit
    -> Bund, Art. 79 II GG 2. Verfahren

a) Einleitungsverfahren
Problem: Einzelner Abgeordneter
- Dagegen: Wortlaut („aus der Mitte“)
- Dagegen: Systematik -> Freies Mandat, Art. 38 I 2 GG
-> Verstoß gegen § 76 GOBT unbeachtlich; Arg.: nur autonome Satzung

b) Hauptverfahren

aa) Beschluss des Bundestages
-> 2/3 Mehrheit, Art. 79 II GG (+)

bb) Mitwirkung des Bundesrates
-> 2/3 Mehrheit, Art. 79 II GG (+)
-> Weisungswidriges Abstimmverhalten des Innenminister B aus dem Land L unbeachtlich; Arg.: Betrifft nur das Innenverhältnis

  1. Form
    -> Zitiergebot (+)

II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
-> Prüfungsmaßstab: Art. 79 III GG

  1. Verstoß gegen Art. 1 I GG (-)

  2. Verstoß gegen Art. 20 GG

a) Rechtsstaatsprinzip

aa) Verstoß gegen Gewaltenteilung
(+); Arg.: Mitwirkung des Bundestages (Legislative) nicht ausreichend gewährleistet, wenn Bundesregierung (Exekutive) Gesetze allein beschließen kann.

bb) Verstoß gegen Bundesstaatsprinzip
(+); Arg.: Mitwirkung der Länder nicht ausreichend gewährleistet, wenn Bundesrat (Länderkammer) nicht an Gesetzgebungsprozess beteiligt.

b) Demokratieprinzip
-> Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk (+); Arg.: Zustandekommen von Gesetzen ohne Beteiligung des unmittelbar vom Volk gewählten Bundestages.

III. Ergebnis: (-)

 

Frage 2: Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten

- aA: auch materielles Prüfungsrecht; Arg.: Wortlaut des Art. 82 I 1 GG; Amtseid, Art. 56 GG

- aA: nur formelles Prüfungsrecht;Arg: Stellung des Bundespräsidenten im Grundgesetz; Systematik (Art. 82 I 1 GG befasst sich mit der formellen Verfassungsmäßigkeit); Entstehungsgeschichte; Amtseid nicht konstitutiv

- hM: „Evidenztheorie“ -> formelles Prüfungsrecht + materielles Prüfungsrecht, sofern materieller Verstoß evident; Arg.: Bindung des Bundespräsidenten an die Verfassung, Art. 20 III GG – hier: evidenter Verstoß gegen Rechtstaatsprinzip (+)

 

Frage 3: Vorgehen gegen das Verhalten des Bundespräsidenten

I. Zuständigkeit
Hier: Organstreitverfahren, Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG

II. Zulässiger Antragsteller
-> Oberstes Bundesorgan oder andere Beteiligte, die durch das Grundgesetz oder die in einer Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet sind.

  1. Bundeskanzler
    (+); Arg.: oberstes Bundesorgan

  2. Abgeordneter A
    (-); Arg.: kann nur eigene Rechte (Art. 38 I 2 GG) gelten machen, nicht solche des Bundestages (keine Prozessstandschaft)

  3. X-Fraktion
    (+); Arg.: mit eigenen Rechten ausgestattet, §§ 10 ff. GOBT; Prozessstandschaft erforderlich aus Gründen des Minderheitenschutzes

III. Antragsgegenstand
-> Rechtserhebliches Verhalten
Hier: Weigerung des Bundespräsidenten

IV. Antragsbefugnis
-> Mögliche Verletzung von verfassungsrechtlichen Rechten (+)

V. Form, Frist (+)

 

Frage 4: Ausfertigung des Gesetzes durch den Bundesratspräsidenten
-> Art. 57 GG

I. Befugnis des Bundespräsidenten
Hier: Ausfertigung von Gesetzen

II. Verhinderung/Erledigung des Amtes (+)

III. Rechtsfolge: Wahrnehmung der Befugnisse durch den Bundesratspräsidenten

  • Auch Ausführungen von Gesetzen (+); Arg.: Wortlaut und Sinn und Zweck des Art. 57 GG