Schließfach-Fall

A. Sachverhalt

Der Angeklagte hatte im Frankfurter Bahnhof dem Italiener I. wahrheitswidrig erklärt, dieser dürfe sich nicht mit seinem Gepäck im Wartesaal aufhalten. Er müsse vielmehr seine beiden Koffer aufgeben. Daraufhin gingen beide zu den in der Nähe befindlichen Schließfächern. Dort brachte der Angeklagte die Koffer in den Schließfächern 692 und 702 unter. Er hatte früher in dem Schließfach 702 eine Jacke verwahrt und diese nicht wieder abgeholt. Den Schlüssel zu dem Fach, dessen Schloss später nach Ablauf der Mietzeit ausgewechselt wurde, hatte er noch in Besitz. Ihn gab er dem Italiener, während er den nunmehr passenden Schlüssel selbst behielt. Nachdem beide wieder in den Wartesaal zurückgekehrt waren, entfernte sich der Angeklagte von I. Er öffnete mit dem passenden Schlüssel das Fach 702 und entwendete den Koffer mit Inhalt.

B. Worum geht es?

Im Mittelpunkt steht die Frage der Abgrenzung von (Trick-) Diebstahl und Betrug.

Nach h.M. stehen Diebstahl (§ 242 StGB) und Betrug (§ 263 StGB) in einem Exklusivitätsverhältnis. Hintergrund ist die unterschiedliche Natur von Diebstahl und Betrug: Während der Diebstahl ein Fremdschädigungsdelikt darstellt, handelt es sich bei dem Tatbestand des Betruges um ein Selbstschädigungsdelikt. Tatbestandlich festmachen lässt sich das an dem Begriffsgegenpaar „Wegnahme“ (§ 242 StGB) und „Vermögensverfügung“ (als ungeschriebenem Tatbestandsmerkmal des § 263 StGB). Eine Vermögensverfügung ist jedes freiwillige Handeln, Dulden oder Unterlassen, welches sich unmittelbar vermögensmindernd auswirkt.

Die Strafkammer des Landgerichts hatte angenommen, dass sich der Angeklagte wegen Betruges strafbar gemacht habe:

„Sie führt aus, der Angeklagte habe vorgetäuscht, I. könne den Wartesaal nur betreten, wenn er sein Gepäck in den Schließfächern einstelle und er, der Angeklagte, werde ihm den passenden Schlüssel aushändigen. Deshalb habe I. ihm das Gepäck überlassen. Der Vermögensschaden liege darin, daß I. nicht mehr über den Koffer habe verfügen können.“

Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

„Hat sich der Angeklagte wegen Diebstahls oder Betruges strafbar gemacht?“

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH widerspricht im Schließfach-Fall (Urt. v. 23.6.1965 – 2 StR 12/65) der Wertung durch das Landgericht. Der Angeklagte habe sich nicht des Betruges, sondern des Diebstahls schuldig gemacht.

 

Zunächst führt der BGH allgemein zur Abgrenzung von Diebstahl und Betrug aus:

„Der Tatbestand des Betruges setzt voraus, daß das Opfer aus freiem nur durch Irrtum beeinflußtem Willen über sein Vermögen verfügt und es dadurch unmittelbar schädigt (BGHSt 7, 252, 255 [BGH 17.03.1955 - 4 StR 8/55];  14, 170, 171 [BGH 11.03.1960 - 4 StR 588/59];  18, 221, 223) [BGH 16.01.1963 - 2 StR 591/62]. Er ist aber nicht gegeben, wenn die Täuschung dem Täter nur die Herbeiführung des Schadens durch eine eigene Handlung ermöglichen soll, die den Gewahrsam des bisherigen Inhabers ohne dessen Kenntnis eigenmächtig aufhebt (BGHZ 5, 365; BGH Urteile vom 29. Juni 1954 - 2 StR 122/54; 23. Juli 1963 - 1 StR 260/63; vgl. auch BGHSt 17, 205, 209 [BGH 13.04.1962 - 1 StR 41/62]; Schroeder ZStrW 60, 33, 38 ff).“

 

Danach liege hier kein Betrug vor. Das Opfer habe nicht über sein Vermögen verfügt; vielmehr habe es nur seinen Gewahrsam gelockert:

„Nach den Urteilsfeststellungen diente die Täuschung über die Möglichkeit, den Wartesaal mit Gepäck zu betreten, nur dazu, daß das Gepäck nicht im Wartesaal, sondern mit Zustimmung I. vom Angeklagten in den Schließfächern untergebracht wurde. Demnach hat I. nicht den Gewahrsam übertragen, sondern das Tun des Angeklagten nur geduldet, ohne sich bewußt zu sein, daß der Angeklagte damit schon seinen Gewahrsam lockerte und die Wegnahmehandlung begann. Deshalb hat I. keine Vermögensverfügung im Sinne des § 263 StGB vorgenommen. Durch die Einschließung des Koffers in dem Schließfach, die Übergabe des falschen Schlüssels an I. und die Zurückbehaltung des echten Schlüssels hat vielmehr der Angeklagte eigenmächtig dem I. jede tatsächliche Verfügungsmöglichkeit genommen, dessen Gewahrsam aufgehoben und sich den Koffer zugeeignet. Damit waren der Gewahrsamsbruch und die Wegnahme beendet. Es liegt demnach Diebstahl und nicht Betrug vor. Dabei ist es unerheblich, ob I. mit Hilfe der Bahnverwaltung wieder in den Besitz des Koffers hätte kommen können, solange der Angeklagte das Schließfach nicht ausgeräumt hatte. Eine solche Möglichkeit schließt vollendeten Diebstahl nicht aus.“

 

D. Fazit

Die Abgrenzung von Diebstahl und Betrug – ein Dauerbrenner in Ausbildung und Prüfung.