Reiten im Walde

A. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer ist Eigentümer mehrerer Reitpferde, Freizeitreiter und Vorsitzender einer Reitervereinigung. In den beiden Ausgangsverfahren wandte er sich ursprünglich gegen zwei Bescheide aus dem Jahre 1977, mit denen den betroffenen Eigentümern die beantragte Sperrung bestimmter Wege in der Umgebung Aachens für den Reitverkehr nach § 38 Abs. 1 Satz 2 Landeslandschaftsgesetz 1975 (LG 1975) genehmigt worden war.
Das Verwaltungsgericht wies die beiden Klagen als unzulässig ab, weil der Beschwerdeführer nicht geltend machen könne, durch die erteilten Genehmigungen in subjektiven Rechten verletzt zu sein. Die Reitbefugnis nach § 36 LG 1975 verschaffe einem hiervon begünstigten Dritten keinen rechtlichen Besitzstand in dem Sinne, dass er sich gegen ihre Entziehung zur Wehr setzen könne.
Der Beschwerdeführer legte in beiden Fällen Berufung ein. Nach dem Inkrafttreten des LG 1980 erklärte er in Übereinstimmung mit den jeweiligen anderen Verfahrensbeteiligten hinsichtlich seines ursprünglichen Begehrens den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt und beantragte nunmehr in erster Linie die Feststellung, dass er die umstrittenen Wege ohne Bindung an das Landschaftsgesetz als Reiter benutzen dürfe; hilfsweise begehrte er, den beklagten Oberstadtdirektor zu verpflichten, in dem fraglichen Waldgebiet für ein ausreichendes und geeignetes Reitwegenetz Sorge zu tragen.
Das Oberverwaltungsgericht stellte das Verfahren hinsichtlich des für erledigt erklärten Begehrens ein und wies die neu erhobenen Anträge ab. Mit seinen Revisionen verfolgte der Beschwerdeführer den in beiden Berufungsverfahren zuletzt gestellten Hauptantrag weiter. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Revisionen mit dem in BVerwGE 71, 324 veröffentlichten Urteil zurück. Mit seiner Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer - nach dem Wortlaut seines Antrags - sämtliche gerichtlichen Entscheidungen des Ausgangsverfahrens an.  

B. Worum geht es?

Nach Art. 2 I GG hat jeder das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Art. 2 I GG schützt somit die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“, wobei streitig ist, was damit gemeint ist.
Eine enge Auslegung geht davon aus, dass sich der Schutz nur auf den Kernbereich der persönlichen Entfaltung bezieht. Nach der weiten Auffassung schützt Art. 2 I GG die menschliche Handlungsfreiheit im umfassenden Maße.
Im Beschluss zum Taubenfütterungsverbot hatte das BVerfG sich bereits der weiten Auslegung angeschlossen, dies aber nicht intensiv begründet. Vor diesem Hintergrund hatte das BVerfG die Frage zu klären:

„Genießt das Reiten im Walde Grundrechtsschutz?“

 

C. Wie hat das BVerfG entschieden?

Das BVerfG hält die Verfassungsbeschwerde im Fall „Reiten im Walde“ (Beschl. v. 6.6.1989 - 1 BvR 921/85 (BVerfGE 80, 137 ff.)) zwar im Ergebnis für unbegründet, den Schutzbereich des Art. 2 I GG indes für eröffnet.

Das BVerfG führt aus, dass – in weiter Auslegung von Art. 2 I GG – jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt, vom Schutzbereich des Art. 2 I GG erfasst werde. Dabei verweist es auch auf die Entscheidung zum Taubenfüttern, die wir ebenfalls bereits als Klassiker vorgestellt haben:

„Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelten Grundsätzen gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne (st. Rspr. seit BVerfGE 6, 32 [36]; aus neuerer Zeit etwa: BVerfGE 74, 129 [151]; 75, 108 [154 f.]). Geschützt ist damit nicht nur ein begrenzter Bereich der Persönlichkeitsentfaltung, sondern jede Form menschlichen Handelns ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für die Persönlichkeitsentfaltung zukommt (vgl. etwa die Entscheidung eines Vorprüfungsausschusses in BVerfGE 54, 143 (146) - Taubenfüttern). Abgesehen von einem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung, welcher der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist (BVerfGE 6, 32 [41]), ist die allgemeine Handlungsfreiheit allerdings nur in den Schranken des zweiten Halbsatzes von Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet und steht damit insbesondere unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen (Rechts-)Ordnung (BVerfGE 6, 32 [37 f.]; 74, 129 [152]). Stützt sich ein die Handlungsfreiheit berührender Akt der öffentlichen Gewalt auf eine Rechtsnorm, so kann mit der Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG zur Nachprüfung gestellt werden, ob diese Norm zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört, das heißt formell und materiell mit den Normen der Verfassung in Einklang steht (st. Rspr. seit BVerfGE 6, 32).
Danach ist die Norm nicht nur materiell an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen, sondern sie ist auch auf ihre Verfassungsmäßigkeit in sonstiger Hinsicht zu untersuchen. Insoweit ist insbesondere auch zu prüfen, ob die Regelung den Kompetenzvorschriften der Verfassung entspricht (BVerfGE 11, 105 [110]; 29, 402 [408]; 75, 108 [146, 149]). Sofern es sich um eine landesrechtliche Norm handelt, ist neben den Kompetenzfragen im Hinblick auf Art. 31 GG zusätzlich zu prüfen, ob die landesrechtliche Norm inhaltlich mit (seinerseits kompetenzgemäß erlassenem) Bundesrecht - auch mit Bundesrahmenrecht - vereinbar ist (BVerfGE 51, 77 [89 f., 95, 96]; vgl. auch BVerfGE 7, 111 [118, 119]).
In materieller Hinsicht bietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Maßstab, nach dem die allgemeine Handlungsfreiheit eingeschränkt werden darf (BVerfGE 17, 306 [314]; 55, 159 [165]; 75, 108 [154 f.]). Sofern eine bestehende Befugnis nachträglich beseitigt wird, muß der nach dem Rechtsstaatsgrundsatz gebotene Vertrauensschutz gewahrt bleiben (BVerfGE 74, 129 [152]). Darüber hinaus muß den Anforderungen genügt sein, die sich aus dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes (BVerfGE 49, 89 [126 f.]) ergeben (vgl. dazu auch BVerfGE 6, 32 [42]; 20, 150 [157 f.]).“

Sodann referiert der Senat die dagegen gerichtete Kritik, die für eine Begrenzung des Schutzbereichs eintrete:

„Gegen die dargelegte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind in der Literatur bis in die Gegenwart Bedenken erhoben worden (vgl. etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl., Rdnrn. 426 ff.; umfassende Nachweise aus zurückliegender Zeit bei Scholz, AöR 100 (1975), S. 80 ff.). Sie richten sich insbesondere gegen die unbegrenzte Einbeziehung jeder menschlichen Betätigungsform in den Schutzbereich des Grundrechts, die im Vergleich zu den sonstigen grundrechtlich geschützten Bereichen zu einem “wertsystematisch überhöhten” Schutz führe (vgl. Scholz, a.a.O., S. 82 f., m. w. N.), andererseits aber durch die mit der Ausweitung des Schutzbereichs verbundene weite Einschränkungsmöglichkeit den Grundrechtsschutz leerlaufen lasse (Hesse, a.a.O., Rdnr. 426). Die danach befürwortete Einengung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG könnte im vorliegenden Fall Bedeutung erlangen, weil es zweifelhaft ist, ob das Reiten auf privaten Waldwegen der in einem engeren Sinne verstandenen Persönlichkeitsentfaltung zugerechnet werden könnte.“

Diese Kritik weist das BVerfG ausdrücklich zurück und hält an seiner weiten Auslegung von Art. 2 I GG fest:

„Eine Einengung des Schutzbereichs von Art. 2 Abs. 1 GG, abweichend von der bisherigen Rechtsprechung, ist jedoch nicht gerechtfertigt. Ihr stünde nicht nur die Entstehungsgeschichte der Grundrechtsnorm entgegen (vgl. BVerfGE 6, 32 [39 f.]). Der umfassende Schutz menschlicher Handlungsfreiheit erfüllt neben den benannten Freiheitsrechten auch eine wertvolle Funktion in der Freiheitssicherung, denn trotz der weiten Beschränkungsmöglichkeiten gewährleistet das Grundrecht nach den dargelegten Maßstäben einen Schutz von substantiellem Gewicht. Jeder Versuch einer wertenden Einschränkung des Schutzbereichs würde danach zu einem Verlust des Freiheitsraums für den Bürger führen, der nicht schon deshalb geboten sein kann, weil andere Grundrechte einen engeren und qualitativ abgehobenen Schutzbereich haben, und für den auch sonst keine zwingenden Gründe ersichtlich sind. Eine Einschränkung etwa auf die Gewährleistung einer engeren, persönlichen, wenn auch nicht auf rein geistige und sittliche Entfaltung beschränkten, Lebenssphäre oder nach ähnlichen Kriterien würde überdies schwierige, in der Praxis kaum befriedigend lösbare Abgrenzungsprobleme mit sich bringen.“

 

D. Fazit

Mit dem Beschluss „Reiten im Walde“ setzt das BVerfG seine Rechtsprechung zu einer weiten Auslegung von Art. 2 I GG fort und setzt sich auch mit der Kritik an seiner Rechtsprechung auseinander. Lesenswert ist nicht nur die Entscheidung der Senatsmehrheit, sondern auch das abweichende Votum des Richters Grimm, das er einleitet mit den Worten:

„Das Reiten im Walde genießt keinen Grundrechtsschutz. Die Grundrechte unterscheiden sich von der Vielzahl sonstiger Rechte dadurch, daß sie Integrität, Autonomie und Kommunikation des Einzelnen in ihren grundlegenden Bezügen schützen. Eben wegen dieser fundamentalen Bedeutung ihres Schutzobjekts für eine auf die Menschenwürde gegründete Ordnung werden sie aus der Menge der Rechte hervorgehoben und verfassungsrechtlich mit erhöhten Garantien gegenüber der öffentlichen Gewalt, insbesondere mit Bindungswirkung für den Gesetzgeber, ausgestattet. Dabei können die Auffassungen darüber, was den gesteigerten Schutz der Grundrechte im einzelnen verdient, nach den historischen Umständen wechseln. Es ist aber weder historisch noch funktional der Sinn der Grundrechte, jedes erdenkliche menschliche Verhalten unter ihren besonderen Schutz zu stellen.“