Examensreport: ÖR II 1. Examen aus September 2017 Bayern

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Der S ist Steinmetzmeister in der bayrischen Gemeinde G. Der S liegt im Dauerstreit mit seinem Nachbarn N. Der N notiert regelmäßig die Kennzeichen falsch parkender Autos, darunter auch Kunden des S, und meldet diese an die Polizei. Daher beschließt der S, dem N einen Denkzettel zu verpassen. Auf seinem Betriebsgrundstück platziert der S – für jedermann gut sichtbar – einen ca. 1 m hohen und 0,80 m breiten Grabstein mit der Inschrift:

„Hier ruht der dumme Kleingeist N

Er war ein schlimmer Denunziant

Von übelstem Charakter

Und minderem Verstand.“

In der Folge bildet sich eine Menschentraube vor dem Grundstück des S. Allerdings ist der Gehweg vor dem Grundstück so breit, dass weder Fußgänger noch Autofahrer behindert werden. Als N den Grabstein sieht, ruft er die Polizei herbei. Der Polizeibeamte P sieht zunächst allerdings keine Veranlassung, einzuschreiten, da es sich – so seine erste Einschätzung – um einen privaten Nachbarschaftsstreit handele. Nach einem Gespräch mit der zufällig anwesenden Bürgermeisterin B, ist auch der P davon überzeugt, dass die Grenze des guten Geschmacks wohl überschritten und dass der N in seiner Ehre schützenswert sei. Der S weigert sich jedoch im Gespräch mit P, den Grabstein zu entfernen. Zur Begründung trägt der S vor, dass es auf seinem Grundstück keinen Alternativstandort gäbe. Außerdem genieße er Meinungsfreiheit. Im Übrigen handele es sich auch um Kunst. Daraufhin ordnet der P die Sicherstellung des Grabsteins an und der Grabstein wird abtransportiert.

Am Tag darauf erhebt der S Klage gegen die Sicherstellung und begehrt deren Aufhebung. Die Polizei sei gar nicht zuständig gewesen. Außerdem verstoße die Sicherstellung gegen die Eigentumsgarantie aus Art. 14 I GG. Im Übrigen zitiere das bayrische PAG nicht Art. 14 GG und dürfe daher gar nicht Art. 14 GG einschränken. Auch habe der P es versäumt, die Sicherstellung mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen.

Das Land Bayern entgegnet, dass sich die Sicherstellung schon längst erledigt habe. Des Weiteren sei der N nicht postulationsfähig. Richtiger Beklagter sei außerdem die Gemeinde G. Für die Frage der Verfassungsmäßigkeit des PAG sei im Übrigen das BVerfG zuständig. Und schließlich sei Art. 14 GG auch nicht betroffen, so dass das Zitiergebot nicht gelten könne.

Hat die Klage des S Erfolg?

Bearbeiterhinweis:
Es ist davon auszugehen, dass sich der Grabstein noch im Polizeigewahrsam befindet. Art. 12 GG und die Bayrische Landesverfassung sind nicht zu prüfen.

Abwandlung:

S erhebt nicht Klage vor dem VG. Vielmehr verpflichtet er sich gegenüber N dazu, die Inschrift zu entfernen. Mit dieser Verpflichtungserklärung begibt er sich zur Polizei und begehrt nunmehr die Herausgabe des Grabsteins, den er – nach Entfernung der Inschrift – verkaufen möchte. Leider ist der Grabstein nicht mehr auffindbar. Es lässt sich auch nicht abschließend klären, wie der Grabstein abhanden gekommen ist.

Hat der S gegen das Land Bayern einen Anspruch auf Schadensersatz für den abhanden gekommenen Grabstein?

Bearbeiterhinweis:
Es ist davon auszugehen, dass der S einen Anspruch auf Herausgabe des Grabsteins hatte. Der enteignende und der enteignungsgleiche Eingriff sind nicht zu prüfen.

Unverbindliche Lösungsskizze

 

Ausgangsfall: Erfolgsaussichten der Klage des S
A. Zulässigkeit
I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO

Hier: PAG

II. Statthafte Klageart
-> Anfechtungsklage, § 42 I 1. Fall VwGO

  1. VA, § 35 VwVfG
  • Problem: Rechtsnatur der Sicherstellung
  • aA: nur Realakt
  • hM: auch konkludenter DuldungsVA; Arg.: Regelungswirkung steht im Vordergrund
  1. Keine Erledigung
    Hier: Vollzug, aber: Sicherstellung „causa“ für Behaltendürfen der Behörde

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

  1. Klagebefugnis, § 42 II VwGO

Hier: Art. 14 I; 5 I 1 und III; 2 I GG

  1. Vorverfahren
    (-), aber: entbehrlich, Art. 15 AGVwGO

  2. Klagefrist, § 74 I VwGO

Hier: „am Tag danach“

  1. Klagegegner, § 78 I 1 Nr. 1 VwGO
    Hier: Land Bayern als Rechtsträger der Polizei

IV. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen
-> Beteiligten- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO (+)

-> Postulationsfähigkeit, § 67 I VwGO (+)

B. Begründetheit, § 113 I 1 VwGO

I. Rechtswidrigkeit

  1. Ermächtigungsgrundlage
    -> Sicherstellung, Art. 25 PAG
    -> Verfassungsmäßigkeit, insbesondere Zitiergebot, Art. 19 I 2 GG (+); Arg.: gilt nicht für Eigentumsgarantie;Arg.: nur Inhalt- und Schrankenbestimmung

  2. Formelle Rechtmäßigkeit

Hier: Polizei, Art. 2 PAG

-> Schutz ausschließlich privater Recht, Art. 2 II PAG (-); Arg.: Evtl. (auch) Verstöße gegen StGB

  1. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Voraussetzungen

aa) Schutzgut
-> Öffentliche Sicherheit

(1) Individualgüter
-> Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer (-)

(2) Geschriebenes Recht
-> Beleidigung, § 185 StGB
-> Verfassungskonforme Auslegung im Lichte der Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG (wohl nicht Kunstfreiheit, Art. 5 III GG)
-> Aber: Ehrschutz, Art. 2 I, 1 I GG, dürfte überwiegen (andere Ansicht vertretbar)

bb) Gegenwärtige Gefahr (+)

cc) Ordnungspflichtigkeit
Hier: Verhaltens- und Zustandsstörer, Art. 7 und 8 PAG

b) Rechtsfolge: Ermessen

-> Verhältnismäßigkeit

aa) Zulässiger Zweck

Hier: Ehrschutz

bb) Geeignetheit (+)

cc) Erforderlichkeit

  • Umsetzen auf dem Grundstück (-); Arg.: nicht möglich
  • Entfernen der Inschrift (-); Arg.: keine Bereitschaft des S

dd) Verhältnismäßigkeit i.e.S.

  • Art. 14 GG/Art. 5 I 1 GG vs. Art. 2 I, 1 I GG
    Hier: Ehrschutz wohl überwiegend; Arg.: Prangerwirkung; drastsische Wortwahl; Platzierung auf Grabstein; nichtiger Anlass (andere Ansicht vertretbar)

II. Ergebnis: (-)

Abwandlung: Schadensersatzansprüche des S gegen den Freistaat Bayern

A. Amtshaftung, § 839 BGB, Art. 34 GG
I. Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes (+)
II. Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht

(+); Arg. Verlust des Grabsteins rechtswidrig (ungeachtet der Rechtmäßigkeit der Sicherstellung an sich)

III. Verschulden, § 276 BGB (+)

IV. Rechtsfolge: Schadensersatz, §§ 254 ff. BGB

V. Kein Ausschluss (+)

VI. Ergebnis: (+)

B. § 280 I BGB analog

I. ÖR Schuldverhältnis

Hier: Verwahrung

II. Pflichtverletzung

Hier: Verlust

III. Vertretenmüssen (+)
IV. Rechtsfolge: Schadensersatz (+)

V. Ergebnis: (+)
C. Sonstige: (-)

Rechtsweg: Ordentliches Gerichte, Art. 34 S. 3 GG, § 40 II VwGO, und zwar streitwertunabhängig das Landgericht, § 71 II Nr. 2 GVG.

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