A. Sachverhalt
Nach der Feststellung des Berufungsgerichts hat sich die Klägerin, nachdem sie in dem Warenhause der Beklagten bereits verschiedene Einkäufe gemacht hatte, in das Linoleumlager begeben, um einen Linoleumteppich zu kaufen. Sie erklärte dies dem Handlungsgehilfen W., der dort bediente, und suchte aus den von diesem vorgelegten Mustern dasjenige heraus, in welchem sie den Teppich zu haben wünschte. W. setzte, als er die von der Klägerin bezeichnete Rolle hervorholen wollte, zwei andere Rollen etwas beiseite. Die Rollen fielen um, trafen die Klägerin und ihr Kind, die näher getreten waren, und rissen beide zu Boden. Der Kauf des Teppichs ist nicht zustande gekommen, weil die Klägerin, wie sie sagte, durch den Sturz in zu große Erregung geraten war.
B. Worum geht es?
Jeder (angehende) Jurist kennst sie: die culpa in contrahendo (c.i.c.), die seit 1.1.2002 auch gesetzlich ausdrücklich verankert ist (§§ 280 I, 311 II, 241 II BGB). Die Haftung aus einem vertragsähnlichen gesetzlichen Schuldverhältnis bietet gegenüber dem allgemeinen Deliktsrecht drei Vorteile:
1. § 280 I BGB erfasst auch reine Vermögensschäden, während bei § 823 I BGB ein dort genanntes Rechts- oder Lebensgut verletzt sein muss.
2. Das Verschulden wird bei § 280 I BGB vermutet (§ 280 I 2 BGB), während der Anspruchsteller im Rahmen von § 823 I BGB das Verschulden des Gegners beweisen muss (Beweislastumkehr).
3. Im Rahmen von § 280 I BGB haftet der Schuldner für Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB, während im Deliktsrecht eine Haftung nur nach § 831 BGB in Betracht kommt – und zwar mit der Möglichkeit der Exkulpation (§ 831 I 2 BGB).
Um Letzteres ging es hier. Das Reichsgericht hatte – im Jahr 1912, lange vor Inkrafttreten von §§ 311 II, 241 II BGB – nämlich die folgende Frage zu beantworten:
Haftet der Inhaber eines Warenhauses für das Verschulden seines Angestellten, der einen Kauflustigen beim Vorlegen von Waren körperlich verletzt?
C. Wie hat das Reichsgericht entschieden?
Das RG bejaht im Linoleumrollen-Fall (Urt. v. 7.12.1911 – VI 240/11 (RGZ 78, 239)) eine Haftung der Beklagten für ein Verschulden ihres Angestellten W.
Das Reichsgericht bejaht zunächst ein vorvertragliches Schuldverhältnis in Form eines „den Kauf vorbereitendes Rechtsverhältnis“ (siehe heute § 311 II Nr. 1 BGB), aus dem sich „Sorgfaltspflichten für Leben und Eigentum des Gegners ergeben können“ (siehe heute § 241 II BGB):
„W. war in Vertretung der Beklagten (§ 164 BGB, § 54 HGB.) in Kaufunterhandlungen mit der Klägerin getreten. Die Klägerin hatte um Vorlegung eines Linoleumteppichs ersucht, den sie ansehen und kaufen wolle. Dem Ersuchen ist W. nachgekommen, um einen Kauf zustande zu bringen. Antrag auf Vorlegung des Teppichs und Annahme des Antrags bezweckten die Hervorbringung eines Kaufs, also eines rechtsgeschäftlichen Erfolges. Dies war kein bloß tatsächlicher Vorgang, wie ihn etwa eine reine Gefälligkeitshandlung darstellen würde, sondern es entstand ein den Kauf vorbereitendes Rechtsverhältnis zwischen den Parteien, das einen vertragsähnlichen Charakter trägt und insofern rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten erzeugt hat, als dem Verkäufer wie dem Kauflustigen die Pflicht erwuchs, bei der Vorlegung und der Besichtigung der Ware die gebotene Sorgfalt für die Gesundheit und das Eigentum des andern Teils zu beobachten.
Von ähnlichen Grundsätzen sind schon die Urteile des erkennenden Senats in den Entsch. des RG.’s in Zivils. Bd. 65 S. 17, Bd. 66 S. 402 ausgegangen, und in der Rechtsprechung des Reichsgerichts ist in zahlreichen Entscheidungen anerkannt, daß sich aus einem Vertrags- und Schuldverhältnis Sorgfaltspflichten für Leben und Eigentum des Gegners ergeben können, die mit der rechtlichen Natur des Verhältnisses im engern Sinne nichts zu tun haben, jedoch aus seiner tatsächlichen Gestaltung notwendig folgen.“
Zudem habe W schuldhaft gehandelt:
„Ohne Rechtsirrtum nimmt das Berufungsgericht ein Verschulden W.’s an dem Unfalle der Klägerin an, weil er die Rollen, die wegen ihres verhältnismäßig geringen Umfanges keine genügende Standfestigkeit hatten, ohne Sicherung beiseite gestellt habe, statt ihnen eine seitliche Stütze zu geben oder sie schräg an die Wand zu lehnen, obwohl er hätte voraussehen können, daß sich die Klägerin nach der Gepflogenheit des laufenden Publikums dem Aufbewahrungsplatze der Waren, deren Vorlegung sie erbeten hatte, nähern werde. Die Auffassung des Berufungsgerichts wird durch den einfachen Rückschluß bestätigt, daß die Rollen, wenn W. sie mit Bedacht und ordnungsgemäß beiseite gestellt hätte, nicht umgefallen sein würden.“
Dieses Verschulden sei der Beklagten nach § 278 BGB zuzurechnen; eine Haftung nur nach § 831 BGB „würde dem allgemeinen Rechtsempfinden widerstreiten“:
„Die Beklagte hat sich W.’s zur Erfüllung der bezeichneten Verbindlichkeit dem Kauflustigen gegenüber bedient, ist daher für sein Verschulden verantwortlich. Der Rechtsgedanke des § 278 BGB. trifft hier durchaus zu, daß wer selbst eine Leistung schuldet, die er mit der erforderlichen Sorgfalt zu bewirken hat, dann, wenn er hierzu einen Gehilfen verwendet, für die sorgfältige Leistung des Gehilfen einstehen muß, und daß ebenso der andere, dem gegenüber die Leistung zu bewirken ist, nicht schlechter gestellt sein darf, weil der Gegner sie nicht selbst ausführt, sondern sie einem Gehilfen übertragen hat. Es würde dem allgemeinen Rechtsempfinden widerstreiten, wenn in Fällen, wo der Geschäftsangestellte beim Vorzeigen oder beim Vorlegen von Waren zur Besichtigung, zum Verkosten, um einen Versuch zu machen und dgl. den Kauflustigen durch Unvorsichtigkeit schädigt, der Geschäftsinhaber – mit dem der Kauflustige den Kauf hat abschließen wollen – nur nach Maßgabe des § 831 BGB und nicht unbedingt haftet, der Verletzte also beim Gelingen des Entlastungsbeweises an den zumeist mittellosen Angestellten verwiesen würde.“
D. Fazit
Der Linoleumrollen-Fall aus dem Jahr 1911 – ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung der culpa in contrahendo als Rechtsinstitut!
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