BGH zur Korrektur des Rücktrittshorizonts

A. Sachverhalt (leicht vereinfacht)
A legte sich nach dem Genuss größerer Mengen Bier und der Einnahme von Medikamenten gegen 15:00 Uhr in der Wohnung des N schlafen. Gegen 0:20 Uhr wachte er von der Lautstärke des Fernsehers auf, dessen Programm der schwerhörige N verfolgte. Stark erregt herrschte A den erheblich alkoholisierten N wegen der Störung an. Dieser schrie seinerseits den A an; dabei traf er ihn ungewollt mit einem Speicheltropfen ins Gesicht. Erzürnt schlug A daraufhin zunächst mit der Faust gegen Brust oder Schulter des N, der dadurch zu Boden fiel. Nach weiteren Faustschlägen gegen den Kopf des N ergriff A eine zwei bis drei Kilogramm schwere Personenwaage und schlug damit mehrfach mit großer Wucht auf den Kopf des N, wobei er dessen Tod für möglich hielt und billigte. Sodann ergriff A einen etwa 250 Gramm schweren kleinen Hammer, mit dem er kraftvoll auf den Kopf des N schlug. Nachdem sich bereits nach dem ersten Schlag der Hammerkopf vom Stiel löste, nahm A ein Brotmesser mit einer Klingenlänge von 17,5 cm, mit dem er in der Absicht, N zu töten, diesem einen etwa 20 cm langen Schnitt am Hals vom rechten Ohr bis in die Mitte der linken Halsseite beibrachte. Obwohl er versuchte, den Schnitt tief in den Hals zu führen, drang die Messerklinge aufgrund der gebeugten Kopfhaltung des N nur schräg in die Haut ein, wo sie zwar eine stark blutende klaffende Wunde verursachte, aber keine größeren Gefäße verletzte. Trotz der Verletzungen bestand für N keine konkrete Lebensgefahr.
Obwohl dem A die Fortführung der Verletzungshandlungen weiterhin möglich war, ließ er von N ab. Zu diesem Zeitpunkt hielt er es für möglich, dass N an den beigebrachten Verletzungen sterben könne. Er begab sich in die Küche und rauchte eine Zigarette. N gab währenddessen röchelnde Geräusche von sich und rief um Hilfe. Daraufhin setzte sich A, der seinen Vorsatz, N zu töten, aufgegeben und nun erkannt hatte, dass N nicht tödlich verletzt war, neben N und drückte ihm mindestens zwei Mal ein Kissen auf das Gesicht, um dessen störenden Laute zu unterbinden. Dabei achtete er darauf, dass er das Kissen jeweils zurückzog, wenn er merkte, dass sich N infolge der Atemnot versteifte, um ihn wieder frei atmen zu lassen. Bis zum Erscheinen der Polizei gegen 1:10 Uhr vernahmen Nachbarn weiterhin gelegentlich Hilferufe des N.

Strafbarkeit des A?
Anmerkung: § 226 StGB ist nicht zu prüfen.

B. Die Entscheidung des BGH (Beschl. v. 7.3.2017 – 3 StR 501/16)

I. Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags
Indem A dem N mehrere Schläge gegen dessen Kopf versetzte und Schnittverletzungen beibrachte, könnte er sich wegen versuchten Totschlags gemäß §§ 212, 22, 23 StGB strafbar gemacht haben.

1. Tatentschluss
A müsste zunächst einen Tatentschluss gefasst haben (§ 22 StGB). Dazu müsste er im Hinblick auf alle objektiven Tatbestandsmerkmale einen Vorsatz (§ 15 StGB) gebildet und die übrigen subjektiven Merkmale erfüllt haben. Zunächst hielt es A für möglich, dass N an den Folgen der Schläge gegen dessen Kopf versterben könnte, was er auch billigte. Später fügte er N Schnittverletzungen zu in der Absicht, N zu töten. Damit hat A den Tatentschluss gefasst, N zu töten.

2. Unmittelbares Ansetzen
Indem A dem N die Schläge gegen den Kopf versetzte und Stichverletzungen beibrachte, hat er zudem unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt (§ 22 StGB).

3. Rücktritt
Möglicherweise ist A strafbefreiend zurückgetreten. Nach § 24 I 1 StGB wird wegen Versuchs nicht bestraft, wer freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgibt oder deren Vollendung verhindert. § 24 I 1 StGB differenziert damit zwischen dem unbeendeten Versuch (1. Alt.: Aufgabe der weiteren Ausführung der Tat) und dem beendeten Versuch (2. Alt.: Verhinderung der Vollendung).
A hat die Vollendung nicht verhindert (§ 24 I 1 Alt. 2 StGB) oder sich ernsthaft darum bemüht hat (§ 24 I 2 StGB), so dass nur ein Rücktritt nach § 24 I 1 Alt. 1 StGB in Betracht kommt.

a) kein Fehlschlag
Ein Rücktritt kommt nur dann in Betracht, wenn der Versuch nicht fehlgeschlagen ist. Das kann man im Merkmal der „Freiwilligkeit“ verorten oder aber – wie die wohl h.M. – den Anwendungsbereich des § 24 StGB von vornherein ausschließen (also letztlich § 24 StGB teleologisch reduzieren). Ein Fehlschlag in diesem Sinne bestimmt sich nach der Sicht des Täters und liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn der Täter nach seiner letzten auf den Taterfolg gerichteten Ausführungshandlung erkennt, dass der Erfolg nicht eingetreten ist und mit nahe liegenden Mitteln ohne wesentliche Änderung des Tatplans und Begründung einer neuen Kausalkette auch nicht mehr verwirklicht werden kann.
Die Frage, ob ein fehlgeschlagener Versuch vorliegt, ist hier nicht ganz unproblematisch. A hat erkannt, dass die Schläge mit dem Hammer nicht zum Tode führen werden; zudem hat sich der Hammerkopf vom Stiel gelöst. A hat aber zugleich erkannt, die Tatvollendung durch eine Änderung seiner Handlungsweise herbeiführen zu können (durch Verwendung des Brotmessers). Bei einem solchen mehraktigen Geschehen könnte man auf die jeweiligen einzelnen Handlungen abstellen und jeweils einen Fehlschlag prüfen (so die Einzelaktstheorie) oder die Tathandlungen als einheitliches Geschehenen begreifen (so die Gesamtbetrachtungslehre). Im ersteren Fall ist der Versuch (bereits dann) fehlgeschlagen, wenn eine in sich abgeschlossene Tathandlung (hier: die Schläge mit dem Hammer) nicht zum Erfolg führt. Auf der Grundlage der Gesamtbetrachtungslehre hingegen ist ein Versuch nicht fehlgeschlagen, wenn der Täter erkannt hat, dass ihm im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang weitere Mittel zur Vollendung der Tat zur Verfügung stehen (hier: das Brotmesser).
Zwar berücksichtigt die Einzelaktstheorie, dass der Täter einen einmal aus der Hand gegebenen Verlauf des Geschehens nicht rückgängig machen kann. Gegen sie spricht aber, dass sie ein einheitliches Geschehen künstlich und formalistisch auseinanderreißt und im Sinne eines „Zeitlupenstrafrechts“ agiert. Für die Gesamtbetrachtungslehre spricht, dass sie dem Täter länger eine „goldene Brücke“ in die Rückkehr der Legalität bietet und – ganz im Sinne des Rechtsgüterschutzes – ihn motiviert, von der weiteren Ausführung der Tat abzusehen bzw. deren Vollendung zu verhindern. Deshalb ist die Gesamtbetrachtungslehre vorzugswürdig, wonach kein fehlgeschlagener Versuch vorliegt.

b) unbeendeter Versuch
Weiterhin müsste ein unbeendeter Versuch vorgelegen haben. Ein beendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung die tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt nahelegen, erkennt oder wenn er den Erfolgseintritt in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit der Handlung für möglich hält. Ist der Handlungsablauf dagegen nicht oder jedenfalls aus der Sicht des Täters nicht geeignet, den Erfolg herbeizuführen, so ist der Versuch, wenn er nicht endgültig fehlgeschlagen ist, unbeendet.
Für die Abgrenzung kommt es nach herrschender Auffassung auf den Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung an (sog. Rücktrittshorizont). Nach dem Schnitt mit dem Brotmesser hielt A es für möglich, dass N an den beigebrachten Verletzungen sterben könnte. Danach läge ein beendeter Versuch vor.
Allerdings erlaubt der BGH eine Korrektur des Rücktrittshorizonts. Es komme nicht auf die Vorstellung der Angeklagten „unmittelbar“ nach der letzten tatbestandsmäßigen Handlung (hier: der Schnitt mit dem Brotmesser) an. Ein unbeendeter Versuch komme auch dann in Betracht, wenn der Täter, dessen Handlungsmöglichkeiten unverändert fortbestehen, nach seinem Handeln einen Erfolgseintritt zwar zunächst für möglich hält, unmittelbar darauf aber die Vorstellung gewinnt, mit einer tödlichen Wirkung sei (noch) nicht zu rechnen, mit der Folge, dass er durch freiwilliges Absehen von weiterem Tun strafbefreiend zurücktreten kann:

„Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht die zur “Korrektur des Rücktrittshorizonts” entwickelten Grundsätze (vgl. dazu BGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14 , NStZ 2014, 569 f.; Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14 , NStZ-RR 2015, 106 f. jeweils mwN) nicht beachtet, obwohl die Feststellungen zum unmittelbaren Nachtatgeschehen zur Prüfung dieser Frage drängten.
Ein unbeendeter Versuch kommt auch dann in Betracht, wenn der Täter nach seiner letzten Tathandlung den Eintritt des Taterfolgs zwar für möglich hält, unmittelbar darauf aber zu der Annahme gelangt, sein bisheriges Tun könne diesen doch nicht herbeiführen, und er nunmehr von weiteren fortbestehenden Handlungsmöglichkeiten zur Verwirklichung des Taterfolges absieht (st. Rspr.; vgl. dazu BGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14, NStZ 2014, 569 f.; Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14 , NStZ-RR 2015, 106 f.; Urteil vom 19. Juli 1989 - 2 StR 270/89 , BGHSt 36, 224, 225 f.; Beschlüsse vom 7. November 2001 - 2 StR 428/01, NStZ-RR 2002, 73 f. und vom 8. Juli 2008 - 3 StR 220/08, NStZ-RR 2008, 335 f.). Die Frage, ob nach diesen Rechtsgrundsätzen von einem beendeten oder unbeendeten Versuch auszugehen ist, bedarf bei versuchten Tötungsdelikten insbesondere dann eingehender Erörterung, wenn das angegriffene Tatopfer nach der letzten Ausführungshandlung noch zu vom Täter wahrgenommenen körperlichen Reaktionen fähig ist, die geeignet sind, Zweifel daran aufkommen zu lassen, das Opfer sei bereits tödlich verletzt (BGH, Urteil vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14, NStZ 2014, 569 f.; Beschlüsse vom 17. Dezember 2014 - 2 StR 78/14, NStZ-RR 2015, 106 f.; vom 12. Januar 2017 - 1 StR 604/16, […] Rn. 9 f., jeweils mwN). Ein solcher Umstand kann geeignet sein, die Vorstellung des Täters zu erschüttern, alles zur Erreichung des gewollten Erfolgs getan zu haben. Dabei ist die Feststellung der tatsächlichen Vorstellungen des Täters entscheidend; nicht ausreichend sind Feststellungen, die sich auf einen Fahrlässigkeitsvorwurf beschränken, etwa die Wertung, der Täter habe den Erfolg für möglich halten müssen (BGH, Beschluss vom 29. Mai 2007 - 3 StR 179/07, NStZ 2007, 634 f.).“

A hat seine Vorstellung später korrigiert und erkannt, dass N an seinen Verletzungen nicht sterben werde. Wegen des engen Zusammenhanges der Ausführungshandlungen und des durchgehend vorhandenen Tötungswillens hat die kurze Unterbrechung des Geschehens durch den Gang in die Küche die natürliche Handlungseinheit zwischen den Angriffen auf das Leben des N nicht unterbrochen. Deswegen hat A seinen Rücktrittshorizont in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der letzten Tathandlung korrigiert, so dass ein unbeendeter Versuch vorlag.

c) freiwillige Aufgabe der Tat
A hat die weitere Ausführung der Tat freiwillig aufgegeben.

4. Ergebnis
A ist nach § 24 I 1 StGB strafbefreiend von dem Versuch des Totschlags zurückgetreten.

II. Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung
A hat sich wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 I Nr. 2 und 5 StGB strafbar gemacht. Für § 224 I Nr. 5 StGB genügt dabei in Übereinstimmung mit den übrigen Tatbestandsvarianten nach h.M. eine abstrakte Todesgefahr; auf die konkrete Gefährdung des N kommt es nicht an.

C. Fazit
In den letzten Wochen haben wir in mehreren Klassikern das notwendige Grundgerüst für die Anwendung des § 24 StGB gelegt. Der aktuelle Fall ist eine schöne Gelegenheit, dieses Wissen umzusetzen.