Examensreport: ÖR II 1. Examen aus dem April 2017 in Hamburg

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Die S-GmbH betreibt in der bayrischen Kleinstadt S in der Nähe der Grenze zu Österreich das Freizeitbad „Quellentherme“. Die S-GmbH wirbt überregional und auch im benachbarten Österreich um Besucher für die Quellentherme, die unter anderem eine große Saunalandschaft zu bieten hat. Gemäß ihrem Gesellschaftsvertrag soll die S-GmbH den Tourismus fördern und Gewinne erzielen. Alleinige Gesellschafterin der S-GmbH ist die S.

A ist österreichischer Staatsangehöriger und wohnt in Österreich. Er liebt es, in seiner Freizeit zu schwimmen und zu saunieren. Er erfährt aus der Werbung von der Quellentherme und entschließt sich, sie ein erstes Mal zu besuchen. Bei seiner Ankunft studiert er die ausgehängten Eintrittspreise und ist sehr überrascht. Denn Einwohner von S erhalten auf den regulären Eintrittspreis einen Nachlass von etwa einem Drittel. Für ein Tagesticket müssen sie nur 12,50 Euro zahlen. Alle anderen Besucher müssen den regulären Eintrittspreis in Höhe von 18,50 Euro zahlen. Um nicht umsonst angereist zu sein, kauft A dennoch ein Tagesticket zum regulären Preis und verbringt den Tag in der Quellentherme.

Im Nachhinein wächst bei A jedoch der Ärger. Er fühlt sich durch die Gestaltung der Preise der Quellentherme wegen seiner Herkunft diskriminiert. Er versucht zunächst außergerichtlich, von der S-GmbH die Differenz zwischen dem von ihm gezahlten regulären Eintrittspreis und dem für die Einwohner der S rabattierten Preis zurückgezahlt zu erhalten. Doch die S-GmbH weigert sich, zu zahlen. Sie hält es für gerechtfertigt, die Einwohner von S gegenüber Auswärtigen zu bevorzugen.

A verklagt daraufhin die S-GmbH beim zuständigen, deutschen Amtsgericht auf Rückzahlung der 6,00 Euro. Das Amtsgericht weist die Klage ab. Auch die gegen das Urteil des Amtsgerichts gerichtete Berufung des A bleibt erfolglos. Das zuständige Landgericht führt in seinem Urteil aus, A könne sein Eintrittsgeld insbesondere nicht als ungerechtfertigte Bereicherung von der S-GmbH zurückverlangen. Der Vertrag zwischen A und der S-GmbH über die Benutzung der Quellentherme sei vor allem nicht gemäß § 134 BGB nichtig. Soweit es im Rahmen von § 124 BGB überhaupt auf Art. 3 I GG ankomme, seien die differenzierenden Preise der Quellentherme jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden. Auch im Hinblick auf Art. 56 AEUV sei der Vertrag nicht gemäß § 134 BGB nichtig. Das scheide schon deshalb aus, weil sich Art. 56 AEUF nicht an beide Parteien einer vertraglichen Vereinbarung richte. Adressat von Art. 56 AEUV sei nur der diskriminierende Vertragspartner. Dessen ungeachtet sei Art. 56 AEUV aber auch nicht verletzt. Insbesondere müsse sich die S-GmbH nicht an Art. 56 AEUV halten. Sie sei schließlich kein Mitgliedstaat, sondern eine juristische Person des Privatrechts. Vor diesem Hintergrund brauche man auch den Gerichtshof der Europäischen Union mit der Angelegenheit des A gar nicht erst zu belästigen.

A gibt sich nicht zufrieden und erhebt form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht. A meint, die Entscheidung des Landgerichts sei in mehrfacher Hinsicht willkürlich. Es sei schon für niemanden nachvollziehbar, warum das Landgericht seinen Vertrag mit der S-GmbH, demzufolge er notgedrungen den regulären Eintrittspreis gezahlt habe, für wirksam halte. Seine Benachteiligung gegenüber den Einwohnern von S sei nicht zu rechtfertigen. Mindestens genauso schlimm sei für ihn als Österreicher, dass das deutsche Gericht ihm seine materiellen und verfassungsrechtlichen Rechte als Europäer vorenthalte.

**Frage:
**Hat die Verfassungsbeschwerde des A Aussicht auf Erfolg?

Bearbeitungshinweis:

Lassen Sie die §§ 93a bis 93d BVerfGG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und Vorschriften des sekundären Rechts der Europäischen Union außer Betracht. Gehen Sie bei Ihrer Bearbeitung davon aus, dass der Rechtsweg gegen die Entscheidung des Amtsgerichts mit dem Urteil des Landgerichts erschöpft ist

Unverbindliche Lösungsskizze

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des BVerfG
-> Verfassungsbeschwerde, § 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG

II. Beteiligtenfähigkeit, § 90 I BVerfG
-> Jedermann (+)

III. Beschwerdegegenstand, § 90 I BVerGG
-> Jeder Akt der öffentlichen Gewalt
Hier: Zivilurteil (Akt der Judikative)

IV. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerfGG

  1. Mögliche Grundrechtsverletzung
    -> „BVerfGG keine Superrevisionsinstanz“, d.h. Prüfung nur von Grundrechtsverletzungen
    Hier: Art. 3 I, 101 II GG
    -> Unmittelbare Bindung der GmbH an Grundrechte; Arg.: 100 % in hoheitlicher Hand, keine „Flucht ins Privatrecht“

  2. Selbst, unmittelbar und gegenwärtig

(+) V. Rechtswegerschöpfung, § 90 II BVerfGG
Hier: OLG-Entscheidung = letztinstanzlich Entscheidung

VI. Form und Frist, §§ 23. 92. 93 BVerfGG

VII. Rechtsschutzbedürfnis

(+)
B. Begründetheit

I. Verletzung von Art. 3 I GG

  1. Vergleichspaar
  • Einwohner/nicht Einwohner der Kleinstadt S
  1. Ungleichbehandlung
  • Einwohner bekommen Ermäßigung, Auswärtige nicht.
  1. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

a) Verfassungsmäßigkeit des Zwecks
-> Wohl (-); Arg.: keine Anhaltspunkte für kommunale Zwecke; eigentlich laut Satzung andere Zwecke (Förderung des Tourismus)
-> Außerdem: Berücksichtigung europäischer Diskriminierungsverbote, Art. 56 AEUV (passive Dienstleistungsfreiheit), Art. 18 AEUV (allgemeines Diskriminierungsverbot)

Hier: Bindung der GmbH, die zu 100 % in hoheitlicher Hand ist, auch an Grundfreiheiten.

b) Ergebnis. (-)

  1. Ergebnis: (+)

II. Verletzung von Art. 101 I 2 GG

  1. Gesetzlicher Richter
    Hier: EuGH

  2. VorenthaltungHier: Nichtvorlage trotz Art. 267 III AEUV (offensichtlich) im Hinblick auf Art. 56 AEUV unhaltbar

  3. Ergebnis: (+)