Geldschein-Fall

Geldschein-Fall

A. Sachverhalt

Am 12. September 1984 suchte der Kläger als Kunde die Lebensmittelabteilung des Selbstbedienungs-Großmarktes der Beklagten in D. auf. Er entdeckte dort unter einem Regal zwischen aufgestellten Waren einen Tausend-DM-Schein und händigte ihn anschließend dem Betriebsleiter des Selbstbedienungs-Großmarktes aus. Der Geldschein wurde mit anderen Kassenbeständen der Beklagten vermischt. Ein Verlierer hat sich bislang nicht gemeldet. Im März 1985 verlangte der Kläger von der Beklagten erfolglos die Rückgabe des Geldscheins.

Der Kläger hat die Herausgabe eines Tausend-DM-Scheins, hilfsweise Zahlung von 1000 DM nebst Zinsen begehrt. Er meint, er sei als Finder des verlorenen Geldscheins dessen Eigentümer geworden; jedenfalls könne er als Hinterleger des Geldscheins dessen Herausgabe von der Beklagten als Verwalterin, zumindest aber Schadensersatz, verlangen. Die Beklagte hat eingewendet, sie sei bei Entdeckung des Geldscheins durch den Kläger bereits Besitzerin gewesen, so dass der Kläger den Schein nicht gefunden und somit keinen eigenen Besitz an ihm begründet habe.

B. Worum geht es?

Im Mittelpunt der Entscheidung stehen besitzrechtliche Fragestellungen (§§ 854 ff. BGB). Der Erfolg der Klage, die der Kläger vornehmlich auf einen Schadensersatzanspruch aus einem Verwahrungsvertrag gestützt hat (§§ 280 I, III, 283, 695 BGB), hing maßgeblich davon ab, ob der Kläger durch das Aufheben und Ansichnehmen des Geldscheins Besitz daran erworben hat. Ein Anspruch aus einem Verwahrungsvertrag kommt überhaupt nur in Betracht, wenn der Schein der Beklagten übergeben wurde (s. § 688 BGB), worunter die Verschaffung des unmittelbares Besitzes fällt (vgl. § 929 S. 1 BGB). Dem könnte aber entgegenstehen, dass die Beklagte ihrerseits bereits Besitz an dem in ihrer generellen Herrschaftssphäre, nämlich ihren Supermarkträumen, befindlichen Schein begründet hatte. Auch sonstige Anspruchsgrundlage setzen einen Besitzerwerb des Klägers voraus; denn nur dann hätte er Eigentum an ihm erwerben können (§§ 958, 973 BGB).

Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

Erwirbt ein Supermarktinhaber Besitz an einem Gegenstand, den ein Kunde in seinen Räumen verliert?

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH weist in dem Geldschein-Fall (Urt. v. 24.06.1987 – VIII ZR 379/86 (BGHZ 101, 186 ff.) die Klage ab. Der Kläger habe durch das Aufheben keinen Besitz an dem Geldschein erlangt. Vielmehr sei die Beklagte bereits vor der Entdeckung des Scheins durch den Kläger unmittelbare Besitzerin gewesen. Der Geldschein sei damit nicht besitzlos gewesen, weswegen der Kläger den Geldschein nicht gefunden und nicht in Besitz genommen habe. Er habe den Schein der Beklagten nicht „übergeben“ i.S.v. § 688 BGB, sondern ihn schlicht abgegeben.

Zunächst stellt der BGH die Voraussetzungen dar, unter denen nach § 854 I BGB Besitz erworben wird. Dafür bedürfe es der tatsächlichen Sachherrschaft und eines Besitzwillens:

„Der unmittelbare Besitz einer Sache wird durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über sie erworben (§ 854 Abs. 1 BGB). Die Erlangung der tatsächlichen Sachherrschaft muß, wie sich aus den Regelungen der §§ 867 und 872 BGB ergibt, von einem entsprechenden Willen des (angehenden) Besitzers getragen sein (RGZ 106, 135, 136; RG JW 1925, 784 f. - insoweit in RGZ 108, 259 f. nicht abgedruckt -; BGHZ 27, 360, 362; BGH, Urt. v. 09.12.1974 - III ZR 131/72 = MDR 1975, 213 = VersR 1975, 281, 282 und h.M., z.B. Staudinger/Bund, BGB 12. Aufl. § 854 Rd. 12; BGB-RGRK/Kregel 12. Aufl. § 854 Rd. 12; Mü-Ko/Joost 2. Aufl. 1986 § 854 Rd. 8; Soergel/Mühl, BGB 11. Aufl. § 854 Rd. 7; Wolff/Raiser, Sachenrecht 10. Aufl. § 10 II; a.M. Heck, Grundriß des Sachenrechts, 1930, § 10, 4; Westermann, Sachenrecht 5. Aufl. § 13 I 2), der nicht auf den Besitzerwerb an bestimmten Sachen gerichtet zu sein braucht; ein genereller Besitzwille genügt (OGHBrZ 1, 149, 153; BGH Urt. v. 09.12.1974 a.a.O.; Staudinger/Bund a.a.O. Rd. 15; BGB-RGRK/Kregel a.a.O.; Mü-Ko/Joost a.a.O. Rd. 27; Soergel/Mühl a.a.O. Rd. 8; Jauernig, BGB, 4. Aufl. 1987 § 854 Anm. 2 1 c; Wolff/Raiser a.a.O. § 10 3 1; vgl. auch BGHZ 8, 130, 131) [BGH 27.11.1952 - IV ZR 178/52].“

Die Frage, in wessen tatsächlicher Herrschaftsgewalt sich die Sache befindet, hänge maßgeblich von der Verkehrsanschauung ab, also von der zusammenfassenden Wertung aller Umstände des jeweiligen Falles entsprechend den Anschauungen des täglichen Lebens. Danach sei der Beklagten die Sachherrschaft zuzuordnen:

„Zutreffend stellt es dabei in erster Linie auf die tatsächlichen Beziehungen der Beklagten zu allen in ihren Geschäftsräumen befindlichen Gegenständen ab, die insgesamt der Herrschaftsmacht der Beklagten unterstünden, soweit nicht anderweiter Besitz besteht. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht auch die Besonderheit des vorliegenden Falles gewürdigt, daß nämlich der Beklagten die Existenz des umstrittenen Geldscheins in ihren Geschäftsräumen bis zu dessen Abgabe durch den Kläger nicht bekannt war. Es hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, daß der Geldschein nicht an einer unzugänglichen Stelle verborgen war, sondern zwar »unter« einem Verkaufsregal, aber »zwischen aufgestellten Waren« und damit an einer Stelle lag, die von den Angestellten der Beklagten zumindest zum Zwecke der regelmäßigen Bestandskontrollen und Warennachfüllung sowie zwecks Reinigung »mehr oder weniger regelmäßig in Augenschein genommen« werde. Daraus, daß der Kläger den Geldschein ohne entsprechende Nachsuche zwischen den zum Verkauf ausgestellten Waren erblickte, ist weiter zu schließen, daß er deutlich sichtbar zwischen den ausgestellten Waren lag. Unter diesen Umständen erstreckte sich die tatsächliche Sachherrschaft der Beklagten über alle in ihrem Verkaufsraum befindliche Sachen (soweit nicht anderweiter Besitz bestand) auch auf den Geldschein.

Auch der Umstand, daß der Verkaufsraum für den Publikumsverkehr geöffnet war und die ausgestellten Waren von den Käufern mit Willen der Beklagten zum Zwecke des Erwerbs aus den Regalen genommen werden konnten, ändert entgegen der Meinung der Revision an dieser Beurteilung nichts. Ebensowenig wie hierdurch die tatsächliche Sachherrschaft der Beklagten über die in den Regalen ausgestellten Waren in Zweifel gezogen wird, ist dies hinsichtlich des streitigen Geldscheins der Fall, der zwischen diesen Waren lag.“

Desweiteren sei der Geldschein von einem generellen Besitzerwerbswillen der Beklagten erfasst:

„Der Geldschein gehörte zu den von Dritten in den Räumen der Beklagten verlorenen Sachen. Diese, so stellt das Berufungsgericht fest, seien der Beklagten nicht gleichgültig und sie wolle sie nicht dem Zugriff jedes Beliebigen aussetzen, sondern sie im Interesse ihrer vom Verlust betroffenen Kunden oder auch Mitarbeiter behalten und in ihre Obhut nehmen. Diese - von der Revision als solche nicht angegriffene - Feststellung entspricht der Lebenswirklichkeit. Daß die Beklagte die Interessen ihrer Kunden und auch ihrer Mitarbeiter wahren will, liegt auf der Hand. Verluste von Sachen in Supermärkten, Kaufhäusern o.ä. kommen häufig vor. Vielfach werden die Verlierer, wenn sie den Verlust bemerken, dort nach dem Verbleib der verlorenen Sache fragen. Bei Mitarbeitern liegt dies noch näher. Es ist daher sachgerecht und nachvollziehbar, daß die Beklagte Sachen, die in ihren Geschäftsräumen verloren werden, nicht dem Zugriff Dritter preisgeben, sondern sie auch schon vor deren Entdeckung zur Sicherung der Rechte der Verlierer besitzen will (vgl. Alternativkommentar-BGB/Dubischar § 854 Rdn. 2).“

Dieser generelle Besitzwille sei auch hinreichend nach außen erkennbar hervorgetreten. Das ergebe sich insbesondere aus einer Anweisung an die Mitarbeiter, „Fundsachen“ bei dem Betriebsleiter abzugeben und in einem sogenannten „Fundbuch“ einzutragen und getrennt zu verwahren:

„Damit trägt die Beklagte der berechtigten Erwartung ihrer Kunden und Mitarbeiter Rechnung, daß in den Geschäftsräumen verlorene Sachen ihrer Obhut unterliegen und nach Entdeckung von ihr verwahrt werden. Hierdurch kommt für jeden Interessierten und mit den Verhältnissen Vertrauten hinreichend deutlich zum Ausdruck, daß die Beklagte verlorene Sachen in ihren Geschäftsräumen besitzen will; daß der generelle Besitzwille offensichtlich ist, ist nicht erforderlich.

Die Revision meint, die Maßnahmen der Beklagten seien für eine Manifestation ihres generellen Besitzwillens nicht ausreichend, weil sie nicht der sofortigen Sachaufnahme, sondern der späteren Aufbewahrung und Verwaltung der Sachen dienten, also nur den erst durch das Auffinden der Sache begründeten Besitz beträfen. Letzteres ist zwar richtig, begründet aber in Verbindung mit dem erkennbaren Interesse der Beklagten an der Sicherstellung von in ihren Räumen verlorenen Sachen gerade den Schluß auf ihren generellen Besitzwillen auch schon vor Entdeckung der verlorenen Sachen. Die Annahme, daß die Beklagte nicht an allen, sondern nur an den bei ihr abgegebenen »Fundsachen« Besitz erwerben will, erscheint lebensfremd.

Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts trägt die Beklagte in dem »Fundbuch« auch die Namen und Anschriften der »Finder«, d.h. derjenigen Personen ein, die die in ihren Räumen verlorenen Sachen entdeckt und bei der Beklagten abgegeben haben. Dies wäre an sich nicht erforderlich, weil derartige Sachen wegen des bereits begründeten Besitzes der Beklagten nicht gefunden werden und die Entdecker daher auch nicht die Rechte (und Pflichten) eines Finders (§§ 865 - 877 BGB) erwerben können. Die Motive der Beklagten für die Notierung der »Finder« können verschiedener Art sein. In Betracht kommen etwa Unkenntnis der Rechtslage oder der Wunsch, sich geringerwertiger Sachen, die von den Verlierern nicht abgeholt werden, nach einiger Zeit wieder zu entledigen. Hierauf kommt es aber nicht an, weil durch diese - nach der Rechtslage an sich nicht erforderliche - Übung der Beklagten der - auch auf andere Umstände gegründete - Schluß auf ihren generellen Besitzwillen nicht beeinträchtigt wird.“

Aus den Regelungen über den Verkehrsfund (§§ 978 ff. BGB) ergebe sich nichts anderes:

„Ohne Erfolg versucht die Revision schließlich, aus der gesetzlichen Regelung des sogenannten Verkehrsfundes in §§ 978 ff. BGB etwas für ihren Standpunkt herzuleiten. Sie führt aus, hinsichtlich der tatsächlichen Einwirkungsmöglichkeiten und des Herrschaftswillens des Raum-Eigentümers über in den Räumen verlorene Sachen bestehe kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Supermärkten oder Kaufhäusern einerseits und den Behördenräumen oder Beförderungsmitteln i.S.d. § 978 Abs. 1 BGB andererseits. Bejahe man im ersten Fall den Besitz des Rauminhabers an verlorenen Sachen, so müßte dies ebenso für die Behörden und Verkehrsanstalten des § 978 Abs. 1 BGB gelten; dann aber wäre die Regelung der §§ 978 ff. BGB überflüssig.

Dem ist entgegenzuhalten, daß der Regelung der §§ 978 ff. BGB nicht entnommen werden kann, Behörden oder Verkehrsanstalten seien in keinem Falle Besitzer von Sachen, die in den Behördenräumen oder Verkehrsmitteln verloren werden. Die Frage des Besitzes an in Räumlichkeiten mit Publikumsverkehr verlorenen Sachen läßt sich, wie die vorangehenden Ausführungen zeigen, weder für die Eigentümer privater Räume noch für die Behörden und Verkehrsanstalten generell beantworten, sondern hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles ab. So ist auch allgemein anerkannt, daß die §§ 978 ff. BGB über den Bereich des Fundrechts hinausgreifen und auch dann anwendbar sind, wenn aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten Besitz der Behörde oder Verkehrsanstalt an in ihren Räumen oder Verkehrsmitteln verlorenen Sachen anzunehmen ist (Staudinger/Gursky 12. Aufl. § 978 Rd. 1; BGB-RGRK/Pikart 12. Aufl. § 978 Rd. 2; Mü-Ko/Quack 2. Aufl. 1986 § 978 Rd. 2; OLG Hamburg OLGZ 14, 81, 84). Zwar ging man bei den Beratungen zum BGB davon aus, daß »die Behörde oder die Anstalt (nicht) schon Inhaberin der verlorenen Sachen sei« (Motive III S. 388 = Mugdan Mat. Bd. III S. 216 unter III), während »in Privatgebiet und Privaträumen die dort befindlichen Sachen bereits einer gewissen Detention (= Gewahrsam) unterstehen und nicht im eigentlichen Sinne gefunden werden können« (Mot. III S. 387 = Mugdan a.a.O. S. 215 unter 2). Diese Auffassung hat sich indessen in dieser generellen Form nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches in der Rechtspraxis nicht durchsetzen können, so daß die unterschiedlichen Regelungen des gewöhnlichen und des Verkehrsfundes (§§ 965 ff. BGB und §§ 978 ff. BGB) heute nicht mehr unbedingt als sachgerecht und folgerichtig erscheinen (zur Kritik insbesondere Eith MDR 1981, 189 ff.); aus der Gesetzessystematik lassen sich daher keine Anhaltspunkte für die Frage nach dem Besitz an Sachen, die in Räumen mit Publikumsverkehr verloren werden, gewinnen (vgl. auch Planck/Brodmann, BGB Bd. III 1 4. Aufl. § 965 Anm. 1a; Staudinger/Gursky aaO § 965 Rd. 6).“

D. Fazit

Fragen rund um den Besitz können – wie dieser Fall zeigt – durchaus im Mittelpunkt gerichtlicher Entscheidungen stehen und über Erfolg und Misserfolg von Klagen entscheiden. Für Ausbildung und Prüfung sollte man sich die Systematik, Struktur und maßgeblichen Wertungen der besitzrechtlichen Vorschriften anschauen, weil sie insbesondere auch im Rahmen der §§ 929 ff. BGB von enormer Prüfungsrelevanz sind.