VGH Hessen: Umtausch von zerrissenen Geldscheinen?

A. Sachverhalt

Die 1927 geborene und an Verwirrungszuständen leidende K bewahrt in ihrer Wohnung 37 ihr gehörende Banknoten zu je 500,- € auf. Aus Angst vor Einbrechern zerreißt sie die Geldscheine, um sie für Einbrecher „wertlos“ zu machen. Von der Bundesbank verlangt sie den Umtausch der beschädigten Banknoten, wobei sie jeweils mehr als 50% der beschädigten Scheine vorlegen kann. Die Bundesbank weist den Antrag mit Bescheid vom 03.04.2014 zurück. Zur Begründung führt sie aus, ihre Entscheidung beruhe auf Art. 3 III des Beschlusses der Europäischen Zentralbank vom 19.04.2013 über die Stückelung, Merkmale und Reproduktion sowie den Umtausch und Einzug von Euro-Banknoten (EZB/2013/10). Die Banknoten seien vorsätzlich von der K als Eigentümerin der Noten beschädigt worden.

Gegen diesen Bescheid erhebt die K – ordnungsgemäß vertreten – Klage am 10.04.2014 vor dem zuständigen Verwaltungsgericht und beantragt, „den Bescheid vom 03.04.2014“ aufzuheben. Sie weist darauf hin, dass ihr in einem ärztlichen Attest vom 10.04.2014 u.a. bescheinigt wird, dass sich bei ihr immer wieder Phasen der Verwirrtheit zeigen. Zudem legt sie ein psychiatrisches Gutachten vor, aus dem sich ergibt, dass es einerseits wegen eines Diabetes mellitus, unter dem sie leidet, und der auch ihr Gehirn schädige, und andererseits durch Blutzuckerschwankungen zu Verwirrtheitszuständen kommen könne. Ob es während eines solchen Verwirrtheitszustands zu den Beschädigungen an den Scheinen gekommen ist, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen.

Hat die Klage Aussicht auf Erfolg?

 

B. Die Entscheidung des VGH Hessen (Urt. v. 23.03.2016 – 6 A 682/15)

Die Klage ist begründet, soweit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist und die Klage zulässig und begründet ist.

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges

Streitentscheidende Norm ist Art. 3 EZB/2013/10, wonach die Bundesbank als Trägerin öffentlicher Gewalt unter Umständen verpflichtet ist, beschädigte Banknoten auszutauschen. Es handelt sich somit um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art. Daher ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 I VwGO eröffnet.

II. Zulässigkeit der Klage

Zunächst ist fraglich, welche Klageart statthaft ist. Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber auch nicht an die Fassung der Anträge gebunden. Der gestellte Antrag entspricht dem Antrag einer Anfechtungsklage (§ 42 I Var. 1 VwGO). Ein solcher Antrag ist aber sinnlos. Die (isolierte) Aufhebung des Ablehnungsbescheides entspricht nicht dem Begehren der K, die einen positiven Bescheid über ihren Antrag auf Umtausch der beschädigten Banknoten begehrt. Daher hat das Verwaltungsgericht das Begehren als Verpflichtungsklage (§ 42 I Var. 2 VwGO) ausgelegt; dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass der Umtausch kein bloßer Realakt ist, sondern ihm eine Entscheidung über das „Ob“ als Verwaltungsakt vorausgeht. Das wird vom VGH bestätigt:

„Zutreffend weist die Beklagte darauf hin, dass die Klägerin erst im Verlauf des Berufungsverfahrens ausdrücklich einen Verpflichtungsantrag gestellt hat. Das Verwaltungsgericht hat aber zu Recht das ursprünglich als Anfechtungsklage formulierte Klagebegehren als Verpflichtungsklage gewertet. Gemäß § 88 VwGO darf das Gericht zwar über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Ist ein Beteiligter anwaltlich vertreten, so hat das Gericht bei der Auslegung eines Antragsbegehrens zwar Zurückhaltung zu üben. Selbst dann darf die Auslegung vom Antragswortlaut aber abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide und sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsabfassung abweicht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.01.2012 -9 B 56/11-, NVwZ 2012, 375 f.). Aus dem vorgerichtlichen Verfahren und der Klagebegründung war eindeutig ersichtlich, dass es der Klägerin darauf ankam und kommt, dass die Beklagte eine Entscheidung dahingehend trifft, die beschädigten Banknoten umzutauschen. Dieses Ziel kann die Klägerin aber nur im Wege der Verpflichtungsklage erreichen, so dass das Verwaltungsgericht ohne weiteres davon ausgehen durfte, dass die Klägerin “sinngemäß” einen Verpflichtungsantrag gestellt hat.“

K steht möglicherweise ein Anspruch auf Umtausch der Banknoten aus Art. 3 EZB/2013/10 zu, weswegen sie klagebefugt ist (§ 42 II VwGO). Die Klage ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere wurde sie fristgerecht erhoben (§ 74 I 2 VwGO); eines Vorverfahrens bedurfte es nicht (§ 68 I Nr. 1, II VwGO).

III. Begründetheit der Klage

Die Verpflichtungsklage ist begründet, soweit die Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts rechtswidrig und K dadurch in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 V VwGO).

Das wäre der Fall, wenn K ein Anspruch auf den Umtausch der Geldscheine hätte.

1. Anspruchsgrundlage

Als Anspruchsgrundlage kommt Art. 3 I EZB/2013/10 in Betracht. Zur Rechtsnatur führt der BGH aus:

„Gemäß Art. 132 I, 2. Gedankenstrich des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist die EZB befugt, Beschlüsse zu erlassen, die zur Erfüllung der dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) nach den Verträgen und der Satzung des ESZB und der EZB übertragenen Aufgaben erforderlich sind. Gemäß Art. 128 I S. 1 AEUV hat die EZB das ausschließliche Recht, die Ausgabe von Euro-Banknoten innerhalb der Union zu genehmigen. Nach Art. 128 I S. 2 AEUV sind die EZB und die nationalen Zentralbanken zur Ausgabe dieser Banknoten berechtigt (vgl. auch Art. 16 ESZB-Satzung). Die Einziehung und der Umtausch von Banknoten sind weder in dem AEUV noch in der Satzung des ESZB und der EZB ausdrücklich geregelt. Als actus-contrarius-Zuständigkeit sind aber Einziehung und auch Umtausch als durch Art. 128 I AEUV bzw. Art. 16 ESZB-Satzung mitumfasst anzusehen (vgl. Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 128 AEUV Rn. 9).

Gemäß Art. 288 IV S. 1 AEUV sind Beschlüsse in allen ihren Teilen verbindlich, so dass die Klägerin sich dem Grunde nach auch auf den Beschluss der EZB vom 19.04.2013 berufen kann, wovon die Beteiligten ausweislich ihrer Einlassungen in der mündlichen Verhandlung auch übereinstimmend ausgehen.“

2. Formelle Voraussetzungen

Ein Antrag i.S.v. Art. 3 I EZB/2013/10 an die zuständige nationale Zentralbank – in Deutschland ist das gemäß § 3 S. 1 BBankG die Deutsche Bundesbank – liegt vor.

3. Materielle Voraussetzungen

Gemäß Art. 3 I lit. a EZB/2013/10 tauscht die Bundesbank beschädigte echte Euro-Banknoten auf Antrag dann um, wenn mehr als 50 % einer Banknote vorgelegt wird. Das ist hier der Fall. Auch die weiteren Voraussetzungen von Art. 3 II EZB/2013/10 sind erfüllt, insbesondere steht fest, dass K Eigentümerin der Geldscheine ist (Art. 3 II lit. a EZB/2013/10).

a. Ausschluss wegen Vorsatz

Möglicherweise ist der Anspruch aber nach Art. 3 III lit. a S. 1 EZB/2013/10 ausgeschlossen. Das wäre dann der Fall, wenn die Bundesbank weiß oder ausreichende Gründe zur Annahme hat, dass die Beschädigung der echten Euro-Banknoten vorsätzlich herbeigeführt wurde. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist unerheblich, wer die Scheine beschädigt hat. Fraglich ist, ob K die Scheine vorsätzlich beschädigt hat.

Zunächst stellt der VGH dar, was unter vorsätzlich i.d.S. zu verstehen ist:

„Der Begriff “vorsätzlich” ist im vorliegenden Zusammenhang dahingehend zu verstehen, dass der Vorsatz hier (nur) die willentliche und wissentliche Beschädigung der Banknote meint. Dies folgt entgegen der Ansicht der Beklagten aber nicht aus einer entsprechenden Anwendung der Grundsätze des deutschen Strafrechts, denn die Begriffe des Unionsrechts sind grundsätzlich aus sich selbst heraus und nicht unter Rückgriff auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auszulegen (vgl. nur Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 19 EUV Rn. 39 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Indem Art. 3 III lit. a S. 2 EZB/2013/10 trotz vorsätzlicher Beschädigung der Banknote noch Raum für einen Umtauschanspruch lässt, nämlich dann, wenn der Antragsteller gutgläubig ist, wird deutlich, dass etwa Fragen der Schuld bzw. des Wissens um die Pflichtwidrigkeit des Handelns nicht im Rahmen des Vorsatzes, sondern im Rahmen der Frage, ob der Antragsteller gutgläubig ist, zu berücksichtigen sind. Von einem guten Glauben i.S.d. Art. 3 III lit. a S. 2 EZB/2013/10 ist etwa dann auszugehen, wenn der Antragsteller beim Beschädigen der Banknoten aufgrund einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit die Pflichtwidrigkeit seines Tuns nicht erkennen kann.“

Danach hat K vorsätzlich gehandelt. Auf die Vermutung von Art. 3 III lit. a S. 3 EZB/2013/10 kann sie sich nicht berufen.

b. Gutgläubigkeit der K?

Fraglich ist aber, ob sich aus Art. 3 III lit. a S. 2 EZB/2013/10 zu Gunsten der K ein anderes Ergebnis ergibt. Danach besteht – in Ausnahme zum Ausschlusstatbestand nach Satz 1 – auch bei einer vorsätzlichen Beschädigung der Scheine ein Umtauschrecht, wenn die Bundesbank weiß oder ausreichende Gründe zur Annahme hat, dass K gutgläubig ist, oder wenn K ihre Gutgläubigkeit nachweisen kann. Die Gutgläubigkeit lässt nach der Konzeption der Norm den Vorsatz nicht entfallen („…tauschen die beschädigten echten Euro-Banknoten jedoch um…“); der Umtauschanspruch lebt aber wieder auf. Von einem guten Glauben im Sinne des Art. 3 III lit. a S. 2 EZB/2013/10 ist nach Ansicht des VGH etwa dann auszugehen, wenn der Antragsteller beim Beschädigen der Banknoten aufgrund einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit die Pflichtwidrigkeit seines Tuns nicht erkennen kann.

Die Bundesbank hat aber vorgebracht, dass die Ausnahme nach Satz 2 dann nicht eingreifen könne, wenn der vorsätzlich handelnde Schädiger und Antragsteller personenidentisch sind. Dem tritt der VGH entgegen:

„Entgegen der Ansicht der Beklagten lässt sich Art. 3 III lit. a S. 2 EZB/2013/10 nicht entnehmen, dass ein guter Glaube i.S.d. Bestimmung niemals gegeben sein könne, wenn der vorsätzlich handelnde Schädiger und der Antragsteller personenidentisch sind. Für diese Auslegung lässt der Wortlaut des Art. 3 III lit. a EZB/2013/10 keinen Raum. Wie bereits ausgeführt, ist es nach Satz 1 dieser Bestimmung ohne Belang, wer die Beschädigung herbeigeführt hat. Erklärt Satz 2 der Bestimmung, dass im Fall des guten Glaubens des Antragstellers die vorsätzliche Beschädigung dem Umtauschanspruch nicht entgegensteht, so muss dies auch dann gelten, wenn der Antragsteller die Beschädigung der Banknote vorsätzlich herbeigeführt hat.“

Es steht nicht zweifelsfrei fest, dass die K sich während der Beschädigung in einem Verwirrtheitszustand befunden hat, der sie „gutgläubig“ erscheinen ließe.  Das Gericht kommt aber zu dem Ergebnis, dass nach den Gesamtumständen die Bundesbank „ausreichende Gründe zu der Annahme“ hat, dass K gutgläubig war:

„Solche ausreichenden Gründe sind angesichts des ärztlichen Attests vom 10.04.2014, des psychiatrischen Gutachtens vom 05.05.2014 und der außergewöhnlichen Umstände der Beschädigung der Banknoten gegeben. In dem ärztlichen Attest vom 10.04.2014 wird u.a. bescheinigt, dass sich bei der Klägerin immer wieder Phasen der Verwirrtheit zeigen. In dem psychiatrischen Gutachten wird festgestellt, dass es einerseits wegen des Diabetes mellitus, unter dem die Klägerin leidet, und der auch das Gehirn schädige, und andererseits durch Blutzuckerschwankungen zu Verwirrtheitszuständen kommen könne. Die Umstände der Beschädigung der Banknoten, die angesichts des gesundheitlichen Zustandes der Klägerin ohnehin nicht mehr im Detail aufgeklärt werden können, sprechen deutlich dafür, dass die Klägerin die Beschädigung der Banknoten im Zustand der Verwirrtheit vorgenommen hat. Soweit diese Beschädigungen vorgenommen worden sein sollen, um Einbrecher vor dem Diebstahl des Geldes abzuhalten, entspricht ein solches gänzlich ungewöhnliches Verhalten nicht dem eines geistig gesunden Menschen.

Nach alledem ist festzustellen, dass angesichts der vorliegenden medizinischen Befunde und im Hinblick auf die für einen geistig gesunden Menschen völlig ungewöhnlichen Tatumstände ausreichend Grund zur Annahme besteht, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Beschädigung der Banknoten sich in einem krankheitsbedingten Zustand der Verwirrtheit befunden hat und somit gutgläubig i.S.d. Art. 3 III lit. a S. 2 EZB/2013/10 ist.“

IV. Ergebnis

Die Klage ist zulässig und begründet.

C. Fazit

Eine aktuelle Entscheidung, die eine außergewöhnliche Rechtsfrage behandelt, ein großes Medienecho gefunden hat und sich daher hervorragend – wenigstens – für eine mündliche Prüfung mit europarechtlichen Bezügen eignet.