Examensreport: ÖR II 1. Examen November 2015 in NRW

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Das Bundesministerium für Verkehr plant die Einführung einer PKW-Maut. Hierzu sollen in einem Einführungsgesetz die wesentlichen Fragen zum Abgabenrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungs- und Verfahrensrecht in einem Einführungsgesetz geklärt werden (Mauteinführungsgesetz – MEG).

Das Geld soll für die Sanierung und den Neubau von Straßen verwendet werden.

Zur Auftragung eines Entwurfs beauftragt das Ministerium die große Kanzlei A-Lawyers, die Unternehmen mit Spezialisierung auf Infrastruktur betreut und solche, die Maut-Systeme herstellen. Dazu lässt sie ihr ein Positionspapier von drei Seiten zukommen, in dem die wesentlichen Ziele, Eckpunkte und die als problematisch angesehenen Punkte stichpunktartig aufgeführt sind. Die Kanzlei arbeitet einen 400 Normen umfassenden Entwurf – ohne weitere Mitarbeit des Ministeriums – aus, in dem sie die Vorgaben des Ministeriums einhält und die Probleme einer Lösung zuführt.

Den Entwurf nimmt das Ministerium dankend an und lässt ihn ohne weitere Rücksprache mit der Bundesregierung als Entwurf der Bundesregierung unter dem Briefkopf der Kanzlei in den Bundestag einreichen.

Die Vorlage wurde dem Bundesrat ordnungsgemäß zugeleitet. In der ersten Lesung zu dem Gesetz beschließt der Bundestag ohne Beratung, den Entwurf unmittelbar in den zuständigen Ausschuss zu verweisen. Dort entbrennt eine hitzige Debatte, in der die Vereinbarkeit einiger Regelungen mit dem Grundgesetz bezweifelt wird. In der zweiten Lesung werden sodann unter dem entsprechenden Tagesordnungspunkt einige Änderungen beschlossen. Nach einem Beschluss soll unmittelbar daran auch die dritte Lesung stattfinden. In dieser entschließt sich ein Abgeordneter der „Verkehrspartei“, die sich zu einer Gruppe [sic] zusammengefunden haben, zusammen mit anderen Abgeordneten der Gruppe, einen Änderungsantrag einzureichen. Der Bundestagspräsident weist diesen im Hinblick auf die Geschäftsordnung zurück.

Nach Feststellung der Beschlussunfähigkeit ruft der Bundestagspräsident zu einer erneuten Sitzung mit derselben Tagesordnung auf. Zu dieser erscheinen rund 300 Parlamentarier. Im Laufe des Abends leert sich der Saal jedoch allmählich. Bis auf die wirtschafts- und verkehrspolitischen Fachpolitiker der einzelnen Fraktionen ist niemand mehr da. Diese 50 Personen stimmen sodann mit einem Ergebnis von 26 Ja Stimmen, 10 Enthaltungen und 14 Nein Stimmen für den Entwurf.

Nachdem das Gesetz den Bundesrat passiert hat, verweigert der Bundespräsident die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzentwurfs mit Hinweis auf offensichtliche Verfahrensverstöße gegen die Geschäftsordnungen und das Grundgesetz. Auch moniert er die Ausarbeitung durch die Kanzlei. Zudem seien die Vorschriften über die Zurückweisung von Anträgen in der Geschäftsordnung des Bundestages offensichtlich verfassungswidrig. Mit Demokratie habe das alles nichts mehr zu tun.

B (Abgeordneter des Bundestages) wendet sich daraufhin form- und fristgerecht an das BVerfG mit der Bitte festzustellen, dass der Bundespräsident die Rechte des Bundestages verletzt. Der Bundespräsident ist der Meinung, dass B schon nicht die Rechte des Bundestages geltend machen kann.

Frage 1:

Hat das Organstreitverfahren des B Erfolg? Auf §§ 10, 13f, 45, 84, 85 GO BT sowie § 24 GO BReg wird hingewiesen. Die Vereinbarkeit mit Europarecht ist nicht zu prüfen.

Frage 2:

Kann der Bundespräsident ein verfassungsmäßiges Gesetz auf seine materielle Vereinbarkeit mit Europarecht prüfen und entsprechend die Ausfertigung des Gesetzes verweigern?

Auf Art 4 UAbs 3 EUV wird hingewiesen.

 

Unverbindliche Lösungsskizze

Frage 1: Erfolgsaussichten des Organstreitverfahrens

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit des BVerfG
-> Art. 93 I Nr. 1 GG; §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG

II. Antragsteller/Antragsgegner, § 63 BVerfGG
-> Organe oder Organteile mit eigenen Rechten

  • Antragsteller: „B“ wohl Abgeordneter (Gedächtnisprotokoll insoweit nicht eindeutig); Arg.: Art. 38 I 2 GG
  • Antragsgegner: Bundespräsident (+); Arg. 54 ff. GG

III. Antragsgegenstand, § 64 I BVerfGG
-> Rechtserhebliches Verhalten des Antragsgegners
Hier: Unterlassen der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten

IV. Antragsbefugnis, § 64 I BVerfGG
-> Mögliche Verletzung von verfassungsrechtlichen Rechten des Antragstellers Hier: Mögliche Verletzung der Abgeordnetenrechte aus Art. 38 ff. GG (sofern davon ausgegangen wird, dass „B“ Abgeordneter ist).

V. Form, Frist, §§ 64 II, III BVerfGG (+)

B. Begründetheit

Das Organstreitverfahren ist begründet, wenn das Verhalten des Antragsgegener verfassungswidrig ist (und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist). Hier hat der Bundespräsident die Ausfertigung des Mauteinführungsgesetzes (MEG) aus Gründen der formellen Verfassungswidrigkeit verweigert. Ein vollumfängliches formelles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ist insoweit nicht umstritten (anders das materielle Prüfungsrecht – siehe Abwandlung). Fraglich ist also, ob das MEG formell verfassungswidrig ist. Sollte das MEG formell verfassungsgemäß sein, dann hätte der Bundespräsident die Ausfertigung zu Unrecht verweigert.

I. Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes
Hier: Konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, Art. 74 I Nr. 22, 72 II GG.

II. Gesetzgebungsverfahren

  1. Einleitungsverfahren, Art. 76 GG
    -> „Bundesregierung“
  • Problem: Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs durch Großkanzlei A und Einbringung mit Briefkopf der Großkanzlei A. Aber: Vorgaben durch die Bundesregierung („Positionspapier“ mit Eckpunkten) und Zueigenmachen der Bundesregierung; Einbindung externen Sachverstandes sinnvoll.

  • Problem: Einbringung des Gesetzesentwurfs durch Ministerium ohne Rückspräche mit Bundesregierung. Dafür: Ressortprinzip, Art. 65 S. 2 GG; Dagegen: Kollegialprinzip, Art. 65 S. 3 GG. Beachte: GO BReg nicht beachtlich bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit; Arg.: GO BReg nur autonome Satzung.

  1. Hauptverfahren

a) Beschluss des BTages

  • Problem: Beschlussfähigkeit des BTages
    (+); Arg.: Art. 42 II GG; § 45 GO BT als autonome Satzung unbeachtlich bei Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
  • Problem: Zurückweisung des Änderungsantrages der „Gruppe“ durch den Bundestagspräsidenten in 3. Lesung
    (+); Arg.: Verstoß gegen Abgeordnetenrechte, Art. 38 ff. BB und gegen Demokratieprinzip

b) Mitwirkung des Bundesrates

C. Ergebnis: (+)

Frage 2: Materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten/Europarecht

  • aA: (+); Arg.: Wortlaut des Art. 82 I 1 GG; Art. 56 GG; Art. 4 UAbs. 3 EUV
  • aA: (-); Arg.: Systematik; Sinn und Zweck; Entstehungsgeschichte
  • hM: Evidenztheorie; Arg.: Systematik; Art. 1 III, 20 III GG, Art. 4 UAbs. 3 EUV Fraglich demnach, ob evidenter Verstoß gegen Diskriminierungsverbot, Art. 18 AEUV. Hier: wohl (+) – aA gut vertretbar.