A. Sachverhalt
Der Angeklagte unterhielt eine Beziehung zu der getrennt von ihm auf derselben Etage wohnhaften Nebenklägerin. Am Abend des 9. November 2012 kam es in der Wohnung des Angeklagten zu einem Streitgespräch, in dessen Verlauf die Nebenklägerin den insoweit uneinsichtigen Angeklagten erfolglos drängte, sich seiner Alkohol- und Aggressionsprobleme anzunehmen. Gegen 0.30 Uhr wollte die Nebenklägerin die Wohnung des Angeklagten verlassen. Dies verhinderte der alkoholisierte Angeklagte, indem er die bereits an der Tür befindliche Nebenklägerin an den Haaren zurückzog, sie im Wohnzimmer auf die Couch warf und sich auf sie setzte. Nunmehr entschlossen, die Nebenklägerin durch anhaltendes Würgen zu quälen und sie sodann zu töten, begann der Angeklagte, sie mit beiden Händen am Hals zu würgen. Unter Todesdrohungen drückte er ihr über geraume Zeit hinweg in einer Vielzahl von Fällen den Hals bzw. den Kehlkopf zu, bis sie erschlaffte, und lockerte dann jeweils seinen Griff, um sie wieder zu Bewusstsein gelangen zu lassen. Hierdurch wollte der Angeklagte der Nebenklägerin besondere Leiden zufügen und den Tötungsprozess hinauszögern.
Als es der Nebenklägerin gelang, ein Mobiltelefon zu ergreifen, äußerte der Angeklagte, nun sei sie wirklich dran. Unter der Drohung, heute werde sie sterben, drückte er ihr mit seinen Knien ein Kissen auf das Gesicht, bis sie in Atemnot geriet. Auf ihr sitzend und ihr den Mund zuhaltend meldete er sich sodann telefonisch bei seiner Arbeitsstelle krank. Hierzu erklärte er der Nebenklägerin, er habe sich jetzt Zeit genommen, um sie weiter zu quälen; “dich wird eh keiner so fünf Tage vermissen.” Auf ihre Frage, warum er kein Messer nehme, antwortete er, dass es damit keinen Spaß mache, er werde sie mit einem Messer entstellen und dann töten. Aus der Küche holte er Paketklebeband und fesselte damit die nun auf dem Boden liegende Nebenklägerin an Armen und Beinen.
Anschließend trank der Angeklagte zwei Flaschen Weißwein, eine davon nahezu in einem Zug. Darauf setzte er sich hin und schlief unwillkürlich ein. Die Nebenklägerin (N), die dies bemerkt hatte, konnte sich befreien und gegen 4.45 Uhr die Wohnung des Angeklagten (A) verlassen.
Hat sich A des versuchten Mordes schuldig gemacht?
B. Die Entscheidung des BGH (Urt. v. 20.3.2014, Az. 3 StR 424/13)
A könnte sich des versuchten Mordes gem. §§ 211, 212, 22 StGB schuldig gemacht haben. Das setzt voraus, dass er einen Tatentschluss gefasst und unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt hat (§ 22 StGB).
**I.**A wollte N töten. Da er N zudem in gefühlloser, unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügen wollte, die nach Stärke oder Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen, handelte er zudem vorsätzlich im Hinblick auf das Mordmerkmal der Grausamkeit.
II. Fraglich ist, ob A unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes angesetzt hat (§ 22 StGB).
Ein Versuchsbeginn läge danach jedenfalls dann vor, wenn es bereits zu einer Teilverwirklichung des Tatbestandes gekommen wäre, A also nach seiner Vorstellung bereits Tatbestandsmerkmale eines vorsätzliches Tötungsdelikts verwirklicht hätte. Das ist nach Ansicht des BGH aber nicht der Fall:
„Weder wollte der Angeklagte durch die wiederholte Herbeiführung der Atemnot bereits den Tod der Nebenklägerin herbeiführen noch lässt sich den Urteilsgründen entnehmen, dass er mit einem solchen Geschehensablauf rechnete. Zutreffend geht der Generalbundesanwalt auch davon aus, dass ein als bloße Vorbereitung eines Tötungsdelikts zu bewertendes Handeln des Täters nicht allein deshalb bereits eine teilweise Verwirklichung des Mordtatbestands bedeutet, weil es von Grausamkeit im Sinne des § 211 StGB getragen war (vgl. BGH, Urteil vom 17. Mai 1990 - 1 StR 99/90, BGHSt 37, 40, 41).“
Ein Versuchsbeginn setzt aber nicht voraus, dass der Täter den Tatbestand bereits teilweise verwirklich hat. Bekanntlich sind die Einzelheiten der Abgrenzung zwischen bloßen Vorbereitungshandlungen und dem Versuchsbeginn sehr umstritten. § 22 StGB lässt sich aber immerhin entnehmen, dass es auf eine individuell-objektive Sichtweise ankommt: Der Täterplan stellt die subjektive (individuelle) Beurteilungsgrundlage dar; ob der Täter seinen Plan bereits so weit verwirklicht hat, dass von einem unmittelbaren Ansetzen gesprochen werden kann, ist Frage einer objektiven Beurteilung. Hier werden indes unterschiedliche Ansätze (bspw. die Zwischenakts-, die Gefährdungs- und die Sphärentheorie) vertreten. Der BGH vertritt in ständiger Rechtsprechung im Ausgangspunkt die Zwischenaktstheorie. So hat er in einer Entscheidung aus dem Jahre 2002 - unter Rückgriff eine bekannte und gebräuchliche Formel - ausgeführt:
„Für ein unmittelbares Ansetzen ist nicht erforderlich, dass der Täter bereits ein Tatbestandsmerkmal verwirklicht. Es genügt, dass er Handlungen vornimmt, die nach seinem Tatplan der Erfüllung eines Tatbestandsmerkmals vorgelagert sind und unmittelbar in die tatbestandliche Handlung einmünden. Das Versuchsstadium erstreckt sich deshalb auch auf Handlungen, die in ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfüllung führen sollen oder die in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen. Dies ist der Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los” überschreitet, es eines weiteren „Willensimpulses” nicht mehr bedarf und er objektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, sodass sein Tun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestands übergeht (vgl. BGHSt 28, 162 (163) = NJW 1979, 378; BGHSt 26, 201 (202 ff.) = NJW 1976, 58; BGH NStZ 2000, 422; 1999, 395 (396).“ (BGH NStZ 2003, 149)
In der aktuellen Entscheidung weist der BGH darauf hin, dass eine sachgerechte Lösung nur dann möglich sei, wenn die genannten abstrakten Maßstäbe stets unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles einer wertenden Konkretisierung unterzogen werden; insoweit bemüht er auch Aspekte einer Gefährdung des Tatopfers:
„Ein wesentliches Abgrenzungskriterium ist das aus der Sicht des Täters erreichte Maß konkreter Gefährdung des geschützten Rechtsguts (BGH aaO, S. 518; Urteile vom 26. Januar 1982 - 4 StR 631/81, BGHSt 30, 363, 364; vom 13. September 1994 - 1 StR 357/94, BGHSt 40, 257, 268 f.; Beschluss vom 7. April 1983 - 1 StR 207/83, NStZ 1983, 462; Urteil vom 26. August 1986 - 1 StR 351/86, NStZ 1987, 20; Beschlüsse vom 2. August 1989 - 3 StR 239/89, StV 1989, 526; vom 15. Mai 1990 - 5 StR 152/90, NJW 1990, 2072, 2073). Auch die Dichte des Tatplans kann für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium Bedeutung gewinnen (BGH, Urteil vom 12. Dezember 2001 - 3 StR 303/01, NJW 2002, 1057). So sind Handlungen, die keinen tatbestandsfremden Zwecken dienen, sondern wegen ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit mit der Tathandlung nach dem Plan des Täters als deren Bestandteil erscheinen, weil sie an diese zeitlich und räumlich angrenzen und mit ihr im Falle der Ausführung eine natürliche Einheit bilden, nicht als der Annahme unmittelbaren Ansetzens entgegenstehende Zwischenakte anzusehen (BGH aaO, S. 1058; Urteil vom 30. April 1980 - 3 StR 108/80, NJW 1980, 1759).“
Gegen ein unmittelbares Ansetzen könnte vorliegend sprechen, dass A die nach seiner Vorstellung zum Tode führenden Gewalthandlungen zeitlich noch weiter hinausschieben wollte. Der BGH bejaht aber ein unmittelbares Ansetzen. Auf das Abgrenzungskriterium der zeitlichen Abfolge komme es vorliegend nicht an, weil dies bei der gebotenen Gesamtbetrachtung durch andere Kriterien „kompensiert“ werde. Dabei bezieht sich der BGH insbesondere auf die Gefährdung der N:
„So war die Nebenklägerin bereits ab dem Zeitpunkt, zu dem sich der Angeklagte ihrer in Tötungsabsicht bemächtigt hatte, unmittelbar und konkret an Leib und Leben gefährdet. Der Angeklagte hielt sie mittels körperlicher Gewalt in seiner Wohnung fest. Auch nach dessen Vorstellung verfügte sie damit über keine Möglichkeiten mehr, sich weiteren Tathandlungen zu entziehen oder schließlich den geplanten todbringenden Angriff abzuwehren. Diese Beschränkung der persönlichen Freiheit der Nebenklägerin stand in engem räumlichem und situativem Zusammenhang mit deren beabsichtigter Tötung, denn sie sollte gerade sicherstellen, dass der vom Angeklagten geplante Geschehensablauf ungestört Fortgang nehmen und ohne weitere Unterbrechungen in die Tatvollendung einmünden kann. Allein die zeitliche Streckung dieses Ablaufs ändert an dem situativen Zusammenhang nichts; sie war im Gegenteil wesentliches Element des Tatplans, der dahin ging, der Nebenklägerin vor der Herbeiführung ihres Todes zunächst lang anhaltende Qualen zuzufügen. Die wiederkehrenden und nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen noch weiter beabsichtigten Misshandlungen der Nebenklägerin bedeuten deshalb auch keine Unterbrechungen des Geschehensablaufs zu tatbestandsfremden Zwecken, sondern stellen sich dar als untrennbare Bestandteile eines einheitlichen, auf den Tod der Nebenklägerin abzielenden Handelns. Selbstständige Handlungsschritte unter Mitwirkung des Opfers, die durch dessen “vorzeitigen” Tod vereitelt worden wären (so der Fall BGH, Urteil vom 12. Dezember 2001 - 3 StR 303/01, NJW 2002, 1057), waren nach dem Tatplan des Angeklagten nicht vorgesehen.“
C. Fazit
Eine Entscheidung, die in der Sache nichts Neues bringt. Sie zeigt aber einmal mehr, dass der BGH im Rahmen des § 22 StGB keine „reine“ Zwischenaktlehre vertritt, sondern – auf Kosten der Vorhersehbarkeit des Ergebnisses – auch Elemente der Gefährdungstheorie einfließen lässt, während das Merkmal des unmittelbaren zeitlichen Zusammenhangs aufgeweicht wird. Den Rechtsanwender (und damit auch Prüfungskandidaten) stellt dies vor die Aufgabe, den Fall unter allen Aspekten zu würdigen und einer sachgerechten Lösung zuzuführen. In der Prüfungsvorbereitung sollten keine Fallkonstellationen auswendig gelernt, sondern die maßgeblichen Wertungen nachvollzogen werden – Jura Online hilft dabei.
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