BGH: Heimtücke bei grundsätzlicher Angst des Opfers vor dem Täter

A und G unterhielten eine langjährige Beziehung, die G im Jahre 2010 beendete, nachdem ihr die Konflikte und Spannungen zu groß geworden waren. A wollte das Ende der Beziehung nicht akzeptieren und erschien immer wieder in der Wohnung der G. Nachdem A gegenüber G Ende 2010 tätlich geworden war, wurde er von der herbeigerufenen Polizei der Wohnung verwiesen und ihm ein Rückkehrverbot auferlegt. Gleich nach der Abfahrt der Polizei suchte er G wieder auf und drohte, ihr den Kopf abzuschlagen. Da G bei A einige Zeit zuvor eine Schusswaffe gesehen hatte, bekam sie nun soviel Angst, dass sie sich eine neue Wohnung suchte, die sie vor A geheim hielt. A schickte der G eine SMS mit einer Todesdrohung, weswegen G stets damit rechnete, dass A sie “irgendwann einmal erwischen” würde. G konnte deshalb nicht mehr angstfrei vor die Tür treten und schränkte ihre Lebensführung erheblich ein.

Im April 2011 kaufte G für einen Kindergeburtstag ein. A, der zwischenzeitlich den Aufenthaltsort der G ausfindig machen konnte, wartete zu diesem Zeitpunkt in seinem in der Nähe der Einfahrt zum Parkplatz des Supermarktes geparkten Fahrzeug. Als G mit dem beladenen Einkaufswagen den Parkplatz des Supermarktes über die Einfahrt verließ, nahm sie A nicht wahr. G war jedoch noch immer in erheblicher und konkreter Sorge, dass A unvermittelt auftauchen und sie überfallen könnte. Als A die G erblickte, fuhr er mit voller Beschleunigung los, um einen Zusammenstoß mit ihr oder wenigstens mit dem Einkaufswagen herbeizuführen. Der Zusammenstoß sollte dazu dienen, G “so außer Gefecht zu setzen”, dass sie sich gegen den anschließend geplanten Angriff mit einer mitgeführten Selbstladepistole nicht mehr wehren oder davonlaufen konnte. G wurde durch den Zusammenprall mit dem Pkw zu Boden geschleudert. A verließ sogleich sein Fahrzeug und lief mit der entsicherten Pistole auf G zu, um sie zu töten. Die nur leicht verletzte G sprang auf und versuchte laut schreiend zu flüchten. A lief G nach, wobei er ihr zu verstehen gab, dass er sie jetzt töten werde. Als A die sich zwischen mehreren Fahrzeugen verbergende G eingeholt hatte, schlug er ihr von hinten mit der Waffe auf den Kopf und drückte sie zu Boden. Anschließend richtete er die Pistole auf ihre rechte Halsseite und betätigte mit Tötungsabsicht “einer Hinrichtung gleich” den Abzug und verletzte sie schwer. G überlebte.

Hat A sich wegen versuchten Heimtücke-Mordes gem. §§ 211 Abs. 1 und 2, Var. 5, 22, 23 StGB strafbar gemacht?

Der Bundesgerichtshof (Urt. v. 30.8.2012, Az. 4 StR 84/12) bejaht das Merkmal der Heimtücke.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes handelt heimtückisch, wer die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit seines Opfers in feindlicher Willensrichtung bewusst zu dessen Tötung ausnutzt.* Arglos ist das Opfer, wenn es nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei grundsätzlicher der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs.

Auf dieser Grundlage ist problematisch, ob G in Anbetracht ihrer latenten Angst vor dem A als arglos anzusehen ist. Die Rechtsprechung hat bei Opfern, die aufgrund von bestehenden Konfliktsituationen oder früheren Bedrohungen dauerhaft Angst um ihr Leben haben, einen Wegfall der Arglosigkeit allerdings erst dann in Betracht gezogen, wenn für sie ein akuter Anlass für die Annahme bestand, dass der ständig befürchtete schwerwiegende Angriff auf ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit unmittelbar bevorsteht. Eine auf früheren Aggressionen beruhende latente Angst des Opfers hebt seine Arglosigkeit erst dann auf, wenn es im Tatzeitpunkt mit Feindseligkeiten des Täters rechnet. Auf dieser Grundlage hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass G zum maßgeblichen Zeitpunkt arglos war.

Denn:

“Nach den Feststellungen hatte die Nebenklägerin G den in seinem Pkw wartenden Angeklagten bis wenige Sekunden vor der Tat nicht bemerkt. Ihre Befürchtung, der Angeklagte werde sie “irgendwann einmal erwischen”, beruhte auf vorangegangenen, zum Teil mehrere Monate zurückliegenden Todesdrohungen und dem Wissen um Nachstellungen des Angeklagten im Umfeld ihrer Wohnung. Umstände, die zu einer auf die Tatsituation bezogenen Aktualisierung und Konkretisierung dieser Befürchtung geführt haben, lassen sich den Feststellungen nicht entnehmen. Die Tatsache, dass die Nebenklägerin von dem auf ihr Leben gerichteten Angriff getroffen wurde, als sie mit ihrem gefüllten Einkaufswagen das belebte Gelände eines Supermarktes verließ, legt die Annahme nahe, dass sie sich jedenfalls in diesem Moment keines konkreten Angriffs von Seiten des Angeklagten versah und in einer hilflosen Situation überrascht wurde. Nach dem mit Verletzungsvorsatz geführten überraschenden Angriff mit dem Pkw war der Nebenklägerin zwar noch eine kurze Flucht möglich, doch vermochte sie sich aufgrund der Kürze der ihr verbleibenden Reaktionszeit dem mit Tötungsvorsatz nachsetzenden Angeklagten nicht mehr zu entziehen oder wirkungsvolle Gegenmaßnahmen zu ergreifen.”

Als Klausurbearbeiter gilt es, das Problem herauszuarbeiten und mit einer strukturierten und sauberen Subsumtion unter Auswertung sämtlicher Informationen des Sachverhalts wertvolle Punkte zu sammeln. Auf die klassischen Probleme rund um die Mordmerkmale und deren Auslegung kommt es daneben weniger an: Hier ist konkrete Arbeit mit dem Sachverhalt gefragt.

** Die restriktiveren Ansätze der Literatur (Erfordernis eines besonders verwerflichen Vertrauensbruchs; Lehre von der Typenkorrektur) sollen an dieser Stelle in Erinnerung gerufen, jedoch nicht weiter vertieft werden.*