BGH zur "schutzlosen Lage" in § 177 StGB

BGH zur

Der Tatbestand von § 177 V Nr. 3 StGB soll auch solche Fälle erfassen, in denen das Opfer „starr vor Schreck“ sei

Der BGH hat klar gestellt, dass im Sexualstrafrecht die „schutzlose Lage“ nur objektiv bestimmt werde. Dies war bislang umstritten.

 

Worum geht es?

In einer aktuellen Entscheidung hat sich der BGH mit der Frage auseinandergesetzt, wann sich ein Opfer in einer „schutzlosen Lage“ im Sinne des § 177 StGB befindet. Die Norm wurde im Rahmen einer Sexualstrafrecht-Reform überarbeitet, der Gesetzgeber verfolgte damit einen noch stärkeren Schutz vor sexueller Gewalt. 

Grundlage für die Entscheidung des BGH bildet ein Fall, der vor dem LG Halle verhandelt wurde. Ein Mann hatte 2018 zwei Mädchen sexuell missbraucht. Unter einem Vorwand lockte er das eine Kind in ein leerstehendes Gebäude, das andere Kind wurde von ihm überrumpelt und unter der Drohung der Tötung in eine Ruine geführt. Er verging sich an beiden Kindern. Das LG Halle hat die Tat des Angeklagten als sexuellen Missbrauch von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung im Sinne der § 176 I, 177 I und V Nr. 2 StGB (Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben) gewertet. Der Täter wurde 2019 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.

Die Höhe der Freiheitsstrafe hätte möglicherweise anders aussehen können, wenn das LG Halle zusätzlich § 177 V Nr. 3 StGB bejaht hätte.
 § 177 V Nr. 3 StGB:

Auf Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr ist nicht zu erkennen, wenn der Täter eine Lage ausnutzt, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist.

 

Das Gericht hatte diese Verwirklichung der Begehungsvariante allerdings abgelehnt, weil es an einer schutzlosen Lage und einer darauf beruhenden Willensbeugung des Kindes gefehlt habe. Sowohl die Eltern als Nebenkläger als auch die Staatsanwaltschaft legten gegen das Urteil Revision ein.

 

BGH: Objektive Bewertung ausreichend

Bislang herrschte Streit darüber, wie der Begriff der „schutzlosen Lage“ anzuwenden ist. Teilweise wurde die Auffassung vertreten, dass der Begriff rein objektiv zu bestimmen sei. Wenige Stimmen der Literatur stellten hingegen darauf ab, dass eine subjektive Zwangswirkung der schutzlosen Lage auf das Opfer erforderlich sei.

Der BGH stellte nun klar, dass es für eine Bejahung des § 177 V Nr. 3 StGB ausreiche, dass „sich das Opfer dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann“. Eine teilweise geforderte subjektive Zwangslage sei durch die Sexualstrafrechts-Reform nicht mehr erforderlich. Früher sah dies nämlich noch anders aus: Zur Verwirklichung sämtlicher Tatbestandsalternativen des § 177 I StGB a. F. sei tatbestandlich stets eine nötigende Einwirkung des Täters erforderlich. Diese sei bei einem Ausnutzen der Schutzlosigkeit nur denkbar gewesen, wenn das Opfer diese tatsächlichen Umstände tatsächlich erkannte und gerade deshalb vom Widerstand absah. Auf diese Form der alten Fassung stützt sich auch die Auffassung der wenigen Stimmen aus der Literatur.

Die Richterinnen und Richter am BGH begründeten ihre Argumentation nun damit, dass sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der Intention des Gesetzgebers für die Verwirklichung von § 177 V Nr. 3 StGB allein die objektive Schutzlosigkeit des Opfers ausreiche. Das Karlsruher Gericht führte aus, wann eine „schutzlose Lage“ aus rein objektiver Sicht vorliege:

Objektiv liegt […] eine schutzlose Lage daher in der Regel vor, wenn sich das Opfer dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann.

Staat schützt sexuelle Selbstbestimmung

Im Zentrum der Reform stehe die sexuelle Selbstbestimmung, die durch das Strafrecht geschützt werden soll. Ihr zentrales Element sei der Wille des Opfers, so der BGH, selbst über das „Ob“, „Wann“ und „Wie“ von sexuellen Kontakten zu bestimmten. Sein Verständnis von § 177 V Nr. 3 StGB begründete der BGH daher mit folgendem:

Bezugspunkt des strafrechtlichen Vorwurfs ist deshalb nicht mehr die Beugung des Opferwillens im Sinne einer Nötigung, sondern die Missachtung des erkennbar entgegenstehenden Willens des Opfers durch den Täter.

Der Tatbestand von § 177 V Nr. 3 StGB soll also solche Fälle erfassen, in denen das Opfer „starr vor Schreck“ sei. Der BGH stellt mit seiner Entscheidung höchstrichterlich klar, wann sich ein Opfer in einer „schutzlosen Lage“ befindet. Das Urteil des LG Halle, das in den Medien als „zu milde“ bezeichnet wurde, hob der BGH daher auf. Der Fall muss neu verhandelt werden.

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 - Weiterer Beitrag zu § 177 StGB: [OLG Karlsruhe: Beziehungsabbruch als "empfindliches Übel"?](https://jura-online.de/blog/2019/07/16/olg-karlsruhe-beziehungsabbruch-als-empfindliches-ubel/)