OVG Nordrhein-Westfalen: Mindestpunktzahl bei der Einstellung von Richtern und Staatsanwälten rechtmäßig?

A. Sachverhalt

K hat in der zweiten juristischen Staatsprüfung die Gesamtnote von 6,55 Punkten erzielt. Er bewirbt sich nach einigen Jahren Berufserfahrung im höheren Verwaltungsdienst der Bundeswehr um eine Einstellung als Staatsanwalt bei einer Generalstaatsanwaltschaft in Nordrhein-Westfalen. Ein Erlass des Justizministeriums sieht vor, dass eine Vorabauswahl anhand der in der zweiten juristischen Staatsprüfung erreichten Gesamtnoten zu erfolgen habe und ein Bewerber, der dem Regelerfordernis (Prädikatsnote, d. h. mindestens 9,0 Punkte) nicht genüge, nur dann zum Auswahlgespräch geladen werden könne, wenn er zumindest eine Gesamtnote von mehr als 7,75 Punkten vorweisen könne und sich zudem durch besondere persönliche Eigenschaften auszeichne. Deswegen erteilt die Generalstaatsanwaltschaft dem K eine Absage und lädt ihn nicht zu einem Auswahlgespräch sein.

K sieht sich in seinem Recht aus Art. 33 II GG verletzt. Zu Recht?

B. Die Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen (Beschl. v. 24.10.2019 – 4 MB 58/19)

Assessoren, die als Staatsanwälte tätig werden, werden gemäß § 12 DRiG zum Richter auf Probe ernannt und führen in der Probezeit die Amtsbezeichnung „Staatsanwalt“ (§ 19a III DRiG). Nach Art. 33 II GG und § 9 BeamtStG, der gemäß § 71 DRiG für Richter entsprechend gilt, sind Ernennungen nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse oder ethnische Herkunft, Behinderung, Religion oder Weltanschauung, politische Anschauungen, Herkunft, Beziehungen oder sexuelle Identität vorzunehmen. Daraus folgt kein Einstellungsanspruch, wohl aber der sogenannte Bewerbungsverfahrensanspruch, nämlich ein Anspruch auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl. So hat das BVerfG im Jahr 2016 ausgeführt:

„Gemäß Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.

aa) Danach sind öffentliche Ämter nach Maßgabe des Grundsatzes der Bestenauslese zu besetzen. Die von Art. 33 Abs. 2 GG erfassten Auswahlentscheidungen können grundsätzlich nur auf Gesichtspunkte gestützt werden, die unmittelbar Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber betreffen (vgl. BVerfGE 139, 19 <49 Rn. 59, 55 f. Rn. 76>; aus der ständigen Kammerrechtsprechung vgl. BVerfGK 12, 284 <286 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2013 - 2 BvR 2582/12 -, juris, Rn. 15 m.w.N.). Dabei dient Art. 33 Abs. 2 GG zum einen dem öffentlichen Interesse der bestmöglichen Besetzung des öffentlichen Dienstes. Zum anderen trägt Art. 33 Abs. 2 GG dem berechtigten Interesse der Beamten an einem angemessenen beruflichen Fortkommen dadurch Rechnung, dass er ein grundrechtsgleiches Recht auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl begründet (sogenannter Bewerbungsverfahrensanspruch, vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 16. Dezember 2015 - 2 BvR 1958/13 -, juris, Rn. 31, zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen).“

K könnte daher durch die Absage der Generalstaatsanwaltschaft in seinem Bewerbungsverfahrensanspruch verletzt worden sein.

 

I. Festlegung von Mindestnoten

K könnte zunächst durch die Festlegung von Mindestnoten in seinem Bewerbungsverfahrensanspruch verletzt sein. Der Senat führt aus, dass die Festlegung von Mindestnoten grundsätzlich rechtmäßig sei. Im Hinblick auf die in Art. 33 II GG genannte Trias „Eignung, Befähigung, fachliche Leistung“ und die danach erforderliche Bestenauslese ist das Anknüpfen an Mindestnoten nur konsequent:

„Es ist grundsätzlich frei von Rechtsfehlern, wenn die Justizverwaltung die Einstellung in den richterlichen und staatsanwaltlichen Probedienst an die notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung knüpft, dass die Bewerber in der zweiten juristischen Staatsprüfung ein bestimmtes (überdurchschnittliches) Mindestnotenniveau erreicht haben, weil die in dieser Prüfung erzielte Gesamtnote für die im Rahmen der Bestenauslese (Art. 33 Abs. 2 GG) erforderliche prognostische Beurteilung der fachlichen und persönlichen Eignung der Bewerber besonders aussagekräftig ist. … Hiervon geht erkennbar auch das Bundesverfassungsgericht in seinem die Richterbesoldung betreffenden Urteil vom 5. Mai 2015 – 2 BvL 17/09 u. a. –, juris, Rn. 117 und 150 ff. aus. In diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur ausgeführt, dass die Ämter eines Richters oder Staatsanwalts in der Besoldungsgruppe R 1 hohe Anforderungen an den akademischen Werdegang und die Qualifikation ihrer Inhaber stellen (Rn. 150) und dass Gradmesser für die fachliche Qualifikation die Examensergebnisse sind (Rn. 117), sondern daran anknüpfend auch die die Praxis der Justizverwaltungen dargestellt, das Erreichen einer Mindestnote zu verlangen, ohne diese Praxis auch nur ansatzweise in Frage zu stellen (Rn. 152).“

 

II. Festlegung von Mindestnoten auf einen Wert innerhalb einer Notenstufe

Die einstellende Behörde hat die Mindestnote auf einen Wert innerhalb der Notenstufe „befriedigend“ festgelegt. Hiergegen könnte man einwenden, dass zumindest Tatsachen, Erfahrungsergebnisse oder wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen müssen, die die Annahme rechtfertigen, mit einer erreichten Examensnote von 7,76 Punkten werde dem Erfordernis der Bestenauslese besser Rechnung getragen als mit einer Note von 6,5 Punkten. Dem tritt das OVG entgegen und verweist auf den Einschätzungsspielraum der einstellenden Behörde:

„Nichts anderes gilt entgegen dem Zulassungsvorbringen dann, wenn die Notenuntergrenze auf einen innerhalb einer Notenstufe befindlichen Punktwert festgelegt wird, also etwa – wie hier absenkend, aber nur für bestimmte Ausnahmefälle – auf die Mitte (7,76 Punkte) der Notenstufe “befriedigend” (6,50 bis 8,99 Punkte). Auch in einem solchen Fall darf der Dienstherr nämlich in Ausschöpfung seines Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums die typisierende Annahme zugrunde legen, nach der eine oberhalb der festgesetzten Grenze liegende Benotung in der Regel auf eine bessere Qualifikation hindeutet als eine Benotung, die die Grenze nicht überschreitet. Die Festlegung einer jeglichen Notenuntergrenze ist deshalb unabhängig von dem konkret gewählten Punktwert immer leistungsbezogen. Soweit es um eine Begründung des konkret festgesetzten Punktwerts geht, hat der Kläger schon nicht dargelegt, welche (“wissenschaftlichen”) Tatsachen angeführt werden könnten, um eine (unter Berücksichtigung der hohen Anforderungen des Amtes und ggf. auch der Bewerberlage) innerhalb einer Notenstufe festgesetzte Notengrenze plausibler zu machen, sondern ein solches Erfordernis nur behauptet. Im Übrigen ist aber auch der Sache nach nicht erkennbar, welcher näheren, “wissenschaftlichen” Begründung dieser letztlich voluntative, in den weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Dienstherrn fallende Akt der Festlegung einer Notenuntergrenze zugänglich sein sollte. Die Forderung des Klägers nach einer (weiteren) Plausibilisierung ist mithin schon deswegen nicht berechtigt, weil nicht ersichtlich ist, wie der Dienstherr dieser Forderung nachkommen können sollte.

 

III. Gesamtnote als Ausdruck der juristischen Fähigkeiten?

Das OVG erkennt an, dass die Punktzahl im Examen nicht in jedem Fall die „wirklichen“ juristischen Fähigkeiten der Bewerberin oder des Bewerbers abbildet. Es sei nicht ausgeschlossen, dass unterschiedliche Punktwerte auch eine gleich gute juristische Qualifikation ausweisen:

„Zwar trifft es zu, dass die Annahme des Klägers, eine Gesamtnote oberhalb von 7,75 Punkten weise nicht (zwangsläufig) auf bessere juristische Kenntnisse hin als die von ihm erzielte Gesamtnote (6,55 Punkte), nicht schon den Gesetzen der Logik widerspricht. Ein solcher Widerspruch liegt vor, wenn der in Rede stehende Schluss aus Gründen der Logik schlechthin nicht gezogen werden kann, nicht aber bereits dann, wenn Schluss zwar fernliegend, aber denkgesetzlich zumindest möglich ist. … Die Schlussfolgerung des Klägers, die von ihm angeführten unterschiedlichen Punktwerte könnten auch eine gleich gute juristische Qualifikation ausweisen, ist jedenfalls bei einer nicht nur formalen, sondern gleichsam materiellen Betrachtung nicht denkgesetzlich unmöglich. Unter dieser Voraussetzung ist es nämlich schon wegen des den Prüfern zukommenden Beurteilungsspielraums im Einzelfall ohne weiteres denkbar, dass eine im Vergleich (geringfügig) schlechtere Gesamtnote vergeben worden ist, obwohl der betroffene Absolvent bei wertender Betrachtung “in Wahrheit” als juristisch gleich oder besser qualifiziert angesehen werden kann als der besser benotete Prüfling.“

Gleichwohl mache dies die Festlegung einer Mindestpunktzahl nicht ermessensfehlerhaft, kommt es doch auf eine typisierende Betrachtungsweise an:

„Aus der danach zutreffenden Rüge folgen aber keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils. Es trifft nämlich jedenfalls die in der fraglichen Äußerung des Verwaltungsgericht als “minus” mitenthaltene Einschätzung zu, dass eine (ggf. auch nur geringfügig) bessere Examensnote nach allgemeiner Lebenserfahrung regelhaft bzw. zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf eine (geringfügig) bessere fachliche Qualifikation schließen lässt. Diese Einschätzung teilt im Übrigen auch der Kläger, indem er in der Zulassungsbegründung insoweit davon spricht, das Verwaltungsgericht habe Denk- mit Erfahrungssätzen verwechselt.“

 

IV. Mindestnoten auch für Bewerber mit Berufserfahrung?

Schließlich stellt sich die Frage, ob auch nach langjährig zurückliegend erbrachter Examensnote dem Prinzip der Bestenauslese gerecht wird, wenn ganz maßgeblich auf diese abgestellt wird. Das OVG entgegnet dem, dass die erzielte Note bei der zulässigen typisierenden Betrachtung auch längerfristig eine belastbare Aussage über die fachliche und persönliche Eignung für den richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst trifft:

„Nur ergänzend sei insoweit ausgeführt, dass nichts für die Annahme spricht, die in Rede stehenden, die Ermessensbetätigung des Beklagten steuernden Erlasse könnten nur dann rechtmäßig sein, wenn für “Späteinsteiger”, die eine nach den bestehenden Regelungen nicht hinreichende Examensnote durch später erworbene “vergleichbare” berufliche Fähigkeiten ausgleichen könnten, eine noch weiter abgesenkte Notengrenze (bis zu welcher Note eigentlich?) vorgesehen werde. Es fällt vielmehr in den Beurteilungsspielraum des Dienstherrn, eine solche Möglichkeit nur bis zu einer (hier beanstandungsfrei gewählten, s. o.) Notenuntergrenze (Mindesterfordernis von 7,76 Punkten) zu eröffnen und zugrunde zu legen, dass eine Gesamtnote in der zweiten juristischen Staatsprüfung, die diese Grenze unterschreitet, bei der zulässigen typisierenden Betrachtung auch längerfristig eine belastbare Aussage über die mangelnde fachliche und persönliche Eignung für den richterlichen und staatsanwaltlichen Dienst trifft. Die Behauptung des Klägers im Schriftsatz vom 26. September 2017, Fähigkeiten wie z. B. dass analytische, strukturierte und systematische Aufarbeiten unbekannter Sachverhalte und Probleme entwickelten sich nach allgemeiner Erfahrung mit fortschreitender Berufspraxis, zwingt nicht zu einer anderen Bewertung. Es ist nämlich bei der – zulässigen – typisierenden Betrachtung durchaus zweifelhaft, dass die Berufserfahrung, die ein Bewerber nach dem erfolgreichen Abschluss des zweiten juristischen Staatsexamens in anderen (juristischen) Berufen gewonnen hat, zum nachträglichen Erwerb aller derjenigen eignungsrelevanten fachlichen und insbesondere auch persönlichen Befähigungskomponenten (insbesondere: Wissen, Rechtsanwendungstechnik, Auffassungsgabe und Ausdrucksvermögen) … in einer solchen Qualität zu führen vermag, wie sie regelmäßig erst durch das Erreichen der Mindestnote im zweiten juristischen Staatsexamen belegt werden bzw. belegt worden sind.“

 

V. Ergebnis

K ist nicht in seinem Berwerbungsverfahrensanspruch aus Art. 33 II GG verletzt.

C. Fazit

Eine Entscheidung, die die Grundsätze des Bewerbungsverfahrensanspruchs in Erinnerung ruft und zugleich die Anforderungen an zukünftige Staatsanwälte und Richter (siehe dazu die Parallelentscheidung des OVG) betrifft. Das allein dürfte genügen, um diese Entscheidung in den Fokus der Prüfungsämter zu rücken.