Wunsiedel-Entscheidung: BVerfG zu Schranken der Meinungsfreiheit

Wunsiedel-Entscheidung: BVerfG zu Schranken der Meinungsfreiheit

Kann die Meinungsfreiheit verfassungsimmanenten Schranken unterliegen?

§ 130 IV StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 I und II GG vereinbar - mit diesem Paukenschlag begann vor etwa 9 Jahren der Leitsatz der Wunsiedel-Entscheidung des BVerfG. Der Beschluss des Ersten Senats schien damit alle vermeintlich gesicherten Erkenntnisse zu Art. 5 II GG hinter sich gelassen zu haben. Der Beschluss betrifft die Verfassungsmäßigkeit des (damals neuen) § 130 IV StGB und die damit in Zusammenhang stehenden Grundfragen der Schranken der Meinungsfreiheit.

 

Worum geht es?

Der Beschwerdeführer Jürgen Rieger meldete im Voraus bis in das Jahr 2010 jährlich wiederkehrend, darunter auch für den 20. August 2005, eine Veranstaltung unter freiem Himmel in der Stadt Wunsiedel mit dem Thema “Gedenken an Rudolf Heß” an. Die geplante Versammlung wurde - gestützt auf § 15 I VersG in Verbindung mit § 130 IV StGB - unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verboten. Die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz und die daraufhin erhobene Klage blieben durch alle Instanzen erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der am 29. Oktober 2009 verstorbene Beschwerdeführer sowohl gegen § 130 IV StGB selbst als auch gegen dessen Auslegung durch das BVerwG im konkreten Fall und rügte - unter anderem - eine Verletzung seiner Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie einen Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Der Erste Senat des BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde - unter anderem - im Hinblick auf Art. 8 I GG in Verbindung mit Art. 5 I und II GG und Art. 103 II GG als unbegründet zurück.  

Sechs grundlegende Fragen

Die Frage, ob die Meinungsfreiheit verfassungsimmanenten Schranken unterliege, mag ungewöhnlich erscheinen. Sie drängt sich aber spätestens seit der Wunsiedel-Entscheidung auf. Bis zum Beschluss des Ersten Senats hat sich bereits einiges an entsprechender Dogmatik angesammelt, das sich in sechs grundlegende Fragestellungen zusammenführen lässt:

 1. Gibt es eine funktionelle Begrenzung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit?

 2. Wie verhält sich die Meinungs- zur Versammlungsfreiheit?

 3. Wie verhält sich die Meinungsfreiheit zum Verbot der Diskriminierung politischer Auffassungen nach Art. 3 III GG?

 4. Was ist ein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 II GG?

 5. Existieren Schranken der Meinungsfreiheit abseits solcher allgemeinen Gesetze?

 6. Wie verhält sich die Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit gelebter und historisch bedingter Verfassungskultur?

 

Objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde

Der Beschluss vermittelt unmittelbare Maßgaben zur Auslegung des § 130 IV StGB - die Strafnorm richtet sich gegen die Verbreitung nationalsozialistischer Gedanken und ist insbesondere für das Versammlungsrecht relevant: Damit strafbare Äußerungen im Sinne des § 130 IV StGB verhindert werden, können rechtsradikale Versammlungen unter bestimmten Voraussetzungen von vornherein verboten werden. Bemerkenswert ist in der Entscheidung des BVerfG, dass der Senat über die Verfassungsbeschwerde auch noch nach dem Tod des Beschwerdeführers entschieden hat. Diese Vorgehensweise wurde mit der allgemeinen verfassungsrechtlichen Bedeutung der aufgeworfenen Fragen für eine Vielzahl zukünftiger Versammlungen begründet. Die Verfassungsrichter bestätigten hierbei einmal mehr - zu nennen sei an dieser Stelle die Entscheidung über eine zurückgenommene Verfassungsbeschwerde zur Rechtschreibreform aus dem Jahre 1998 / BVerfGE 98, 218 -, dass die Verfassungsbeschwerde eine objektive Funktion habe, die nicht nur neben ihre primäre Funktion für den subjektiven Grundrechtsschutz trete, sondern sich auch verselbständigen könne.

 

Die grundlegenden Erwägungen des BVerfG

Die Verfassungsrichter kamen zu dem Entschluss, dass über die Verfassungsbeschwerde trotz des Todes des Beschwerdeführers aufgrund der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde, das Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden, entschieden werden könne. Die erstrebte Entscheidung solle über die höchstpersönliche Betroffenheit des Beschwerdeführers hinaus Klarheit über die Rechtslage für Meinungsäußerungen bei einer Vielzahl zukünftiger Versammlungen und öffentlicher Auftritte schaffen und sei von allgemeiner verfassungsrechtlicher Bedeutung. Darüber hinaus sei die Sache im Zeitpunkt des Todes des Beschwerdeführers entscheidungsreif gewesen, der Senat hatte sie bereits beraten und das Verfahren stand auch unmittelbar vor seinem Abschluss. § 130 IV StGB greife in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ein, da die Norm an die Meinungsäußerungen der Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt und Willkürherrschaft anknüpfe und diese unter weiteren Voraussetzungen unter Strafe stelle.

 

GG vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe

Grundsätzlich seien Eingriffe in die Meinungsfreiheit nur auf der Basis eines allgemeinen Gesetzes gemäß Art. 5 II Alt. 1 GG zulässig. Ein meinungsbeschränkendes Gesetz sei unzulässiges Sonderrecht, wenn es nicht hinreichend offen gefasst ist und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien richtet. Dies gelte auch für Bestimmungen zum Schutz der Jugend und der persönlichen Ehre nach Art. 5 II Alt. 2 und 3 GG. Die Allgemeinheit des Gesetzes verbürgt damit entsprechend dem Verbot der Benachteiligung wegen politischer Anschauungen nach Art. 3 III S.1 Alt. 9 GG für Eingriffe in die Meinungsfreiheit ein spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot gegenüber bestimmten Meinungen.

Das Grundgesetz vertraue auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Dementsprechend falle selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung nicht von vornherein aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus. Um den damit verbundenen Gefahren entgegentreten zu können, weise die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär bürgerschaftliches Engagement im freien politischen Diskurs zu.  

130 IV StGB als nichtallgemeines Gesetz ausnahmsweise mit Art. 5 I und II GG vereinbar

Zwar sei die Vorschrift des § 130 IV StGB kein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 II Alt. 1 GG, weil sie nicht dem Schutz von Gewalt- und Willküropfern allgemein diene und bewusst nicht auf die Billigung, Verherrlichung und Rechtfertigung der Gewalt und Willkürherrschaft totalitärer Regime insgesamt abstelle, sondern auf positive Äußerungen allein in Bezug auf den Nationalsozialismus begrenzt sei. § 130 IV StGB sei aber auch als nichtallgemeines Gesetz ausnahmsweise mit Art. 5 I und II GG vereinbar. Angesichts des Unrechts und Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft verursacht hat, ist Art. 5 I und II GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts immanent.

Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden. Die Erfahrungen aus der Zerstörung aller zivilisatorischen Errungenschaften durch die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft prägen die gesamte Nachkriegsordnung und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkergemeinschaft bis heute nachhaltig.  

130 IV StGB genügt auch den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

Diese Ausnahme nimmt die Meinungsfreiheit indes nicht auch inhaltlich zurück. Die Meinungsfreiheit gewährleistet, dass sich Gesetze nicht gegen rein geistige Wirkungen von Meinungsäußerungen richten. Das Ziel, Äußerungen wegen ihrer Unvereinbarkeit mit sozialen oder ethischen Auffassungen zu behindern, hebt das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim. Das Grundgesetz rechtfertigt deshalb auch kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts. 

130 IV StGB genügt den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Vorschrift verfolgt mit dem Schutz des öffentlichen Friedens einen legitimen Zweck. Der Schutz des öffentlichen Friedens ist hierbei in einem begrenzten Sinn als Schutz der Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung zu verstehen, nicht aber als Schutz vor einer “Vergiftung des geistigen Klimas” oder einer Kränkung des Rechtsbewusstseins der Bevölkerung durch totalitäre Ideologien oder eine offenkundig falsche Interpretation der Geschichte. Der öffentliche Friede zielt auf einen vorgelagerten Rechtsgüterschutz, der an sich abzeichnende Gefahren anknüpft. Dabei ist es eine verfassungsrechtlich tragfähige Einschätzung des Gesetzgebers, dass ein Gutheißen der Gewalt- und Willkürherrschaft dieser Zeit der Bevölkerung heute regelmäßig als Aggression und als Angriff gegenüber denjenigen erscheint, die sich in ihrem Wert und ihren Rechten erneut in Frage gestellt sehen, und angesichts der geschichtlichen Realität mehr bewirkt als eine bloße Konfrontation mit einer demokratie- und freiheitsfeindlichen Ideologie.  

130 IV StGB auch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne

130 IV StGB ist in seiner Ausgestaltung auch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne. Weder verbietet er generell eine zustimmende Bewertung von Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes, noch ein positive Anknüpfung an Tage, Orte oder Formen, denen ein an diese Zeit erinnernder Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt. Seine Verwirklichung setzt vielmehr die Gutheißung des Nationalsozialismus als historisch real gewordene Gewalt- und Willkürherrschaft voraus. Diese kann auch in der glorifizierenden Ehrung einer historischen Person liegen, wenn sich aus den konkreten Umständen ergibt, dass diese als Symbolfigur für die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft als solche steht.

Daneben steht § 130 IV StGB auch mit Art. 103 II GG in Einklang. Zwar kann die Vereinbarkeit der “Störung des öffentlichen Friedens” als strafbegründendes Tatbestandsmerkmal in Straftatbeständen mit Art. 103 II GG Zweifeln ausgesetzt sein, da dieser Begriff vielfältig offen und anfällig für ein Verständnis ist, das der grundlegenden Bedeutung der Freiheitsrechte in der grundgesetzlichen Ordnung nicht hinreichend Rechnung trägt. Allerdings bestehen gegen das Tatbestandsmerkmal der “Störung des öffentlichen Friedens” in einer Strafnorm nach dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 GG dann keine Bedenken, wenn dieses durch andere Tatbestandsmerkmale konkretisiert wird, die bereits für sich allein die Strafdrohung zu tragen imstande sind. Es wirkt dann als ein Korrektiv, das es erlaubt, grundrechtlichen Wertungen im Einzelfall Geltung zu verschaffen. Insofern durfte der Gesetzgeber die öffentlich oder in einer Versammlung zum Ausdruck gebrachte Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft schon für sich jedenfalls grundsätzlich als strafwürdig und hinreichend bestimmt ansehen.

Die Bestätigung des Verbots einer Versammlung zum “Gedenken an Rudolf Heß” durch die angegriffene Entscheidung des BVerwG hält sich im fachgerichtlichen Wertungsrahmen. Insbesondere unterliegt die Beurteilung des konkreten Falls, nach der die vom Beschwerdeführer geplante Versammlung zum “Gedenken an Rudolf Heß” eine Billigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft bedeutet hätte, keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.  

Hohe Prüfungsrelevanz

130 IV StGB wurde im März 2005 vom Deutschen Bundestag im Rahmen einer Strarechtsnovelle beschlossen - die Ergänzung des § 130 StGB (Volksverhetzung) um den Absatz 4 lautet:

Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.  

In Anbetracht der aktuellen Entscheidung des BVerfG zur Leugnung des Holocaust, in der sich die Verfassungsrichter einmal mehr zur Reichweite der Meinungsfreiheit geäußert und auf die Wunsiedel-Entscheidung Bezug genommen haben, solltest Du die Gelegenheit nutzen und Dir die Lerneinheiten zur Meinungsfreiheit anschauen.