Objektiv willkürliche und unvertretbare Vollzugslockerung
Mit Urteil vom 7. Juni 2018 hat das LG Limburg für zwei Beamte des rheinland-pfälzischen Justizvollzugs neun Monate Haft auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) ausgesprochen. Diese hatten einem bereits mehrfach wegen Straßenverkehrsdelikten vorbestraften Häftling Vollzugslockerungen gewährt.
Worum geht es?
Im Dezember 2015 verurteilte das Landgericht (LG) Limburg einen Strafgefangenen der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt Diez aufgrund einer tödlichen Geisterfahrt wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Der führerscheinlose Mann hatte sich während eines Freigangs im Januar 2015 hinter das Steuer eines Autos gesetzt und war auf der Flucht vor einer Polizeikontrolle in entgegengesetzter Richtung auf der Autobahn gegen den Wagen einer 21-Jährigen gefahren, die bei dem Unfall verstarb. Nach Ansicht der Richter hatte der Häftling den Tod anderer Menschen zumindest billigend in Kauf genommen.
Das Gericht sah damals aber auch eine staatliche Mitverantwortung bei den Entscheidungsträgern des Justizvollzuges: Sie hätten dem Mann den offenen Vollzug gar nicht gewähren dürfen.
Dementsprechend befand das LG Limburg nun auch eine Verurteilung der zuständigen Beamten des Vollzugsdienstes wegen fahrlässiger Tötung für angebracht. Denn die Entscheidung für die Gewährung von Lockerungen sei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls fehlerhaft und unvertretbar gewesen.
Offener Vollzug
Der offene Vollzug ist in Deutschland in § 10 I StVollzG geregelt:
„Ein Gefangenersollmit seiner Zustimmung in einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges untergebracht werden, wenn er denbesonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügtund namentlichnicht zu befürchtenist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzugeszu Straftaten missbrauchenwerde.“
Der Unterschied zum geschlossenen Vollzug ist, dass die Gefangenen sich innerhalb des Gefängnisses frei bewegen können. Im geschlossenen Vollzug sind die einzelnen Zellen der Häftlinge abgesperrt und werden nur zu bestimmten Zeiten geöffnet.
Da § 10 I StVollzG als “Soll-Paragraph” formuliert ist, leitet sich daraus kein direkter Anspruch von Strafgefangenen auf offenen Vollzug ab. Vielmehr ist den JVA-Beamten bei der Beurteilung, ob sich ein Insasse für den offenen Vollzug eignet, ein gewisses Ermessen eingeräumt. In der Regel werden nur Ersttäter in einer Anstalt des offenen Vollzugs untergebracht. Für den offenen Vollzug ungeeignet sind somit vor allem sucht- und fluchtgefährdete Gefangene, Gefangene, die in der Vergangenheit eine Vollzugslockerung missbraucht haben, sowie Gefangene, gegen die ein Ausweisungs-, Auslieferungs-, Ermittlungs- oder Strafverfahren anhängig ist.
Sorgfaltspflichtverletzung durch Gewährung von offenem Vollzug
Nach Ansicht des LG Limburgs dürfe man – auch entsprechend § 10 I StVollzG - jemanden nur in den offenen Vollzug verlegen, wenn neue Straftaten nicht zu erwarten sind. In dem vorliegenden Fall seien neue Straftaten jedoch sogar höchstwahrscheinlich zu erwarten gewesen. In diesem Zusammenhang hätten die Beamten ihre Sorgfaltspflichten verletzt. Denn bei der Gewährung des offenen Vollzugs durch die Angeklagten seien eine Vielzahl geradezu offensichtlicher Anzeichen nicht beachtet worden. Tatsächlich hatte der Häftling nie einen Führerschein besessen, war trotzdem immer wieder Auto gefahren und hatte wegen gefährlicher Manöver im Straßenverkehr schon mehr als 20 Vorstrafen in seinem Register. Bei sorgfaltsgemäßer Überprüfung hätten deshalb weder die Verlegung in den offenen Vollzug erfolgen noch Vollzugslockerungen gewährt werden dürfen.
Jedoch hat das LG darauf hingewiesen, dass die Entscheidung keinesfalls so zu deuten sei, dass JVA-Mitarbeiter im Falle von Lockerungsentscheidungen automatisch dafür einzustehen haben, falls Insassen während der Lockerungen neue Straftaten begehen. Hier beruhe die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Vollzugsbeamten vor allem auf der unbedingt notwendigen Übernahme von Verantwortung für die Folgen des eigenen grob sorgfaltswidrigen Verhaltens, welches nach den Feststellungen des Gerichts unter keinen Gesichtspunkten mehr vertretbar war.
Fazit
Die Verurteilung wird insbesondere von der Gewerkschaft der JVA-Beamten (BSBD) schwer kritisiert: Sie befürchtet, dass aufgrund des Urteils Vollzugsbeamte zukünftig davor zurückschrecken werden, Verantwortung für Strafgefangene zu übernehmen und Haftlockerungen somit ablehnen.
Das Urteil des LG Limburg fällt damit in einen rechtlich höchst sensiblen Bereich, in dem es gilt, die Verantwortung von staatlichen Entscheidungsträgern für eigene Sorgfaltswidrigkeiten sowie den offenen Vollzug als System der Selbstdisziplin, der Gemeinschaftsfähigkeit und Eigensteuerung, in Einklang zu bringen. Ob die Anzahl der für den offenen Vollzug ausgewählten Häftlinge in Zukunft sinkt, bleibt abzuwarten. Das auf Resozialisierung gestützte System des Strafvollzugs scheint damit jedenfalls vor neue Schwierigkeiten gestellt zu werden.
- Urt. v. 18.12.2015, Az. 3 Js 5105/15 - 2 Ks -
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