"Auslieferung" in Rekordgeschwindigkeit

Der Fall Susanna F. - viele offene Fragen zur Asylpolitik

Blickt man derzeit auf das innenpolitische Geschehen in Deutschland, so scheint es, als ob die hitzige Debatte um die deutsche Migrationspolitik auf ihren absoluten Höhepunkt zusteuert. Eine baldige Deeskalation der Lage ist gerade im Hinblick auf den Fall Susanna F. und den Umstand, dass es sich bei dem Tatverdächtigen Ali B. um einen 20-jährigen irakischen Flüchtling handelt, nicht zu erwarten. Doch auch in rechtlicher Hinsicht werfen die Geschehnisse in den rund zweieinhalb Wochen zwischen dem Mord an Susanna F. und der Festnahme ihres mutmaßlichen Mörders Ali B., dessen Asylantrag vom BAMF abgelehnt wurde, einige heikle Fragen auf. Insbesondere die Überstellung von Ali B. nach Deutschland stellt sich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als problematisch dar. Die irakische Regierung kritisiert die Übergabe der kurdischen Regionalregierung als Rechtsverstoß - zwischen beiden Ländern gebe es kein Auslieferungsabkommen.

Worum geht es?

Susanna F., 14 Jahre, kommt am 22. Mai 2018 nicht nach Hause. Nach derzeitigem Ermittlungsstand wirde sie noch in derselben Nacht ermordet. Die Mutter von Susanna alarmiert am nächsten Tag die Polizei. Die Ermittlungen werden jedoch von der zuständigen Polizei nur zögerlich in die Wege geleitet. Am 30. Mai 2018 reist die gesamte Familie, des zu diesem Zeitpunkt von der Polizei noch nicht ins Visier genommenen Ali B., über Nacht aus ihrer Flüchtlingsunterkunft ab. Bereits am darauffolgenden Tag fliegt die achtköpfige Familie in den Irak. Am 03. Juni 2018 erhält die Polizei in Mainz einen weiteren Hinweis, der den Tatverdacht auf den 20-jährigen Iraker Ali B. lenkt. Aufgrund dieser Information wird schließlich auch die Leiche der 14-jährigen Susanna F. am 6. Juni 2018 nahe der Bahnlinie in Erbenheim gefunden. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass das Mädchen wohl Opfer eines Sexual- und Gewaltdelikts geworden ist.

Ali B. wird am 8. Juni 2018 im Nordirak von kurdischen Sicherheitskräften festgenommen und legt vor dem irakischen Polizeichef ein Geständnis hinsichtlich des Mordes an und der Vergewaltigung von Susanna F. ab. Der Verdächtige wird angeblich aufgrund einer direkten persönlichen Absprache zwischen dem Präsidenten der Bundespolizei und dem Ex-Präsidenten der nordirakischen Kurden nach Deutschland geflogen und in Wiesbaden von einer Amtsrichterin vernommen. Hier gibt er zu, Susanna getötet zu haben, bestreitet jedoch die Vergewaltigung. Als Motiv für den Mord an Susanna gibt der 20-jährige an, dass er aufgrund von Verletzungen im Gesicht der 14-jährigen Mainzerin befürchtet habe, dass sie die Polizei informieren würde. Die Verletzungen seien durch einen Sturz entstanden. Die Ermittlungsrichterin ordnet daraufhin die Untersuchungshaft an. Doch wie ist die Überstellung des Tatverdächtigen Ali B. an Deutschland rechtlich einzuordnen? Aus (völker-) rechtlicher Sicht kommen hierfür eine Abschiebung, eine Auslieferung oder eine Rückführung in Betracht.

 

Abschiebung?

Das deutsche Innenministerium spricht im Falle Ali B. von einer “Abschiebung”. Dies erscheint ein wenig außergewöhnlich, da die Abschiebung normalerweise etwas anders abläuft. Im Völkerrecht versteht man unter einer Abschiebung die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht eines ausreisepflichtigen Ausländers durch Überstellung an die zuständigen Behörden seines Herkunfts- oder eines Drittstaates. Damit kann aber die zwangsweise Überstellung eines eigenen Staatsbürgers an einen anderen Staat bereits keine Abschiebung im herkömmlichen Sinne sein. Zudem geht bereits aus dem Wortlaut des § 58 I AufenthG hervor, dass eine Abschiebung nur einen Ausländer betreffen kann. Die Überstellung des irakischen Staatsangehörigen Ali B. durch die kurdischen Sicherheitsbehörden an Beamte der deutschen Bundespolizei kann folglich nicht als Abschiebung verstanden werden.

Auslieferung?

Womöglich wurde Ali B. jedoch rechtmäßig nach Deutschland ausgeliefert. Ein Auslieferungsverfahren dient dazu, einen mutmaßlichen Straftäter der nationalen Gerichtsbarkeit des ersuchenden Staates zuzuführen, wozu es seiner körperlichen Überstellung aus dem ersuchten Staat bedarf. Das Auslieferungsverfahren beginnt damit, dass ein ausländischer Staat mittels förmlichen Ersuchens um die Auslieferung einer bestimmten Person zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung bittet oder der ausländische Staat gegen die Person einen internationalen Haftbefehl erlassen hat. Daneben kann auch ein Europäischer Haftbefehl sowie eine Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) zum Erlass eines Auslieferungshaftbefehls führen.

Zwischen Deutschland und dem Irak besteht jedoch kein spezielles Auslieferungsabkommen. Nach Aussage der Bundesregierung sei ein offizielles Auslieferungsersuchen noch in Vorbereitung gewesen. Dies würde gleichzeitig bedeuten, dass im Zeitpunkt der Überstellung des Verdächtigen Ali B. gerade noch kein Ersuchen gestellt und ein förmliches Auslieferungsverfahren nicht in die Wege geleitet worden war. Hinzu kommt, dass Art. 21 I der irakischen Verfassung von 2005 ein Auslieferungsverbot für eigene Staatsbürger enthält. Somit hätte Ali B. - als irakischer Staatsangehöriger - nicht nach Deutschland ausgeliefert werden dürfen. Eine vergleichbare Regelung findet sich auch in Art. 16 II GG, der ein derartiges Auslieferungsverbot für deutsche Staatsangehörige enthält.
 
Rückführung?

Letztlich könnte es sich allerdings um eine Rückführung im Sinne von § 71 III Nr. 1d AufenthG gehandelt haben. Eine Rückführung ist im Aufenthaltsrecht grundsätzlich der abschließende Teil einer Abschiebung. Diese erfasst die tatsächliche Verbringung des Ausländers über die staatliche Grenze in den Zielstaat und die Überstellung an die dort zuständigen Behörden. 

Allerdings erfasst § 71 III Nr. 1d AufenthG sowohl nach Wortlaut als auch nach der Systematik des AufenthG keine aufenthaltsbegründenden, sondern ausschließlich den Aufenthalt in Deutschland beendenden Maßnahmen. Um eine den Aufenthalt auf deutschem Boden beendende Maßnahme handelt es sich bei der Festnahme von Ali B. durch die Bundespolizei aber nicht.

 
Möglicher Rechtsverstoß?

Mit dem Vorgehen im Rahmen der Überstellung von Ali B. könnte sich Deutschland sowohl einer Verletzung von irakischem Verfassungsrecht (Auslieferungsverbot für irakische Staatsbürger) als auch einer Verletzung verschiedener, geltender völkerrechtlich geschützter Rechtsgüter, wie z.B. das völkerrechtliche Einmischungsverbot, die Souveränität des irakischen Staates und dessen Gebietshoheit, schuldig gemacht haben. Soweit die näheren Umstände der Festnahme von Ali B. dafür Anlass bieten, könnte auch eine Verletzung von Menschenrechten im Raum stehen. Es wird folglich zu prüfen sein, ob eine Illegalität der Überstellung vorliegt und ob dies auch Einfluss auf das nachfolgende Strafverfahren haben wird, sodass der nationalen Strafverfolgung von Ali B. gegebenenfalls Hindernisse entgegenstünden.  

„Society is the ultimate loser when, in order to convict the guilty it uses methods that lead to decreased respect for the law.“

Bedient sich der Staat selbst rechtswidriger Methoden, wird die Ausübung von Gerichtsbarkeit durch nationale Strafverfolgungsorgane vor bestimmte Schwierigkeiten gestellt („male captus, bene detentus“-Grundsatz). Es bleibt abzuwarten, ob die höchstrichterliche Rechtsprechung in der (vermutlich rechtswidrigen) Verbringung von Ali B. in die Bundesrepublik, ein Verfahrenshindernis sieht. Dafür spricht jedenfalls, dass das in Art. 20 III GG verankerte Rechtsstaatsprinzip ein solches Handeln der Strafverfolgungsorgane fordert, das mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit vereinbar ist. Ob die Festnahme von Ali B. im Fall Susanna F. mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang steht, erscheint aufgrund des fehlenden, förmlichen Auslieferungsersuchens derzeit fraglich. 

Oder handelt es sich im Falle Ali B. um einen rechtsstaatlich bedenklichen Ausnahmefall? Die autonomen Kurden erkennen die irakische Verfassung, an die sie formal gebunden sind, nicht an. Die irakische Regierung ist daher nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf die kurdische Regionalregierung sauer, da beide gegen irakisches Recht verstoßen hätten - die diplomatischen Schwierigkeiten lassen sich hier bereits erahnen. Allerdings sei beim Innenministerium bislang noch keine formale Beschwerde von irakischer Seite angekommen. Gerichte werden jetzt dennoch zu prüfen haben, ob die Bundespolizei ihre rechtliche Grenzen überdehnt hat. Daniel Sprafke, Strafverteidiger aus Karlsruhe, hat gegen den Bundespolizei-Chef und gegen sämtliche an der Rückführung des geflüchteten Ali B. beteiligte Polizisten Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung gestellt.