Studienplatzvergabe für Medizin teilweise verfassungswidrig
Die bundes- und landesgesetzlichen Vorschriften über das Verfahren zur Vergabe von Studienplätzen an staatlichen Hochschulen sind, soweit sie die Zulassung zum Studium der Humanmedizin betreffen, teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem am 19.12.2017 verkündeten Urteil entschieden.
Worum geht es?
Wer in Deutschland Arzt werden will, der hat einen langen Weg vor sich und muss unter Umständen bis zu 14 Semester Wartezeit mit einkalkulieren. Ein kompliziertes Zulassungsverfahren, welches vielen Bewerbern den Zugang zum Medizinstudium von vornherein versperrt, erschwert die Situation zusätzlich. Denn oft reicht bereits eine Abiturnote von 1,2 nicht aus, um sich überhaupt bewerben zu können. Zwei Studienplatzbewerber wurden aufgrund ihrer Noten für das Medizinstudium abgelehnt. Diesen Umstand wollten sie nicht hinnehmen und zogen vor das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen: Offenbar sei nur die Abiturnote und die Wartezeit bei der Studienplatzvergabe berücksichtigt worden, nicht jedoch die Tatsache, dass der eine Kläger -ein 26-jähriger ausgebildeter Rettungssanitäter- den Medizintest überdurchschnittlich gut bestanden hatte. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat sodann die Frage, ob die für die Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin im Hochschulrahmengesetz (HRG) und in den Vorschriften der Länder zur Ratifizierung und Umsetzung des Staatsvertrages über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung vorgesehenen Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind, dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
Die Entscheidung des Ersten Senats
Nach Ansicht der Verfassungsrichter ist das derzeitige Vergabesystem in Teilen nicht mit der Verfassung vereinbar: Die beanstandeten bundesgesetzlichen Rahmenvorschriften und gesetzlichen Regelungen der Länder über die Studienplatzvergabe für das Fach Humanmedizin verletzen den grundrechtlichen Anspruch der Studienplatzbewerber auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot. Außerdem verfehlen die landesgesetzlichen Bestimmungen zum Auswahlverfahren der Hochschulen teilweise die Anforderungen, die sich aus dem Vorbehalt des Gesetzes ergeben. Bis zum 31.12.2019 soll eine entsprechende Neuregelung getroffen werden.
Wesentliche Erwägungen
Das BVerfG hat entschieden, dass der Numerus Clausus als solcher zwar bestehen bleibt. Aufgrund partiell verfassungswidriger Regelungen fordern die Verfassungsrichter jedoch grundlegende Veränderungen.
Nach Art. 12 I 1 GG i.V.m. Art. 3 I GG sollen sämtliche Studienplatzbewerber ein Recht auf gleiche Teilhabe an staatlichen Studienangeboten und damit auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium ihrer Wahl haben. Die bundes- und landesgesetzlichen Vorschriften zur Studienplatzvergabe in dem bundesweit zulassungsbeschränkten Studiengang der Humanmedizin seien mit Art. 12 I 1 GG i.V.m. Art. 3 I GG unvereinbar,
- soweit sie die Angabe von Ortswünschen in der Abiturbestenquote beschränken und diese bei der Vergabe vorrangig vor der Abiturnote berücksichtigen,
- soweit sie die Hochschulen im eigenen Auswahlverfahren zur unbegrenzten Berücksichtigung eines von ihnen zu bestimmenden Grades der Ortspräferenz berechtigen,
- soweit sie im Auswahlverfahren der Hochschulen auf einen Ausgleichsmechanismus zur Herstellung einer hinreichenden Vergleichbarkeit der Abiturnoten über die Landesgrenzen hinweg verzichten,
- soweit sie gegenüber den Hochschulen neben der Abiturnote nicht die verpflichtende Anwendung mindestens eines ergänzenden, nicht schulnotenbasierten Auswahlkriteriums zur Bestimmung der Eignung sicherstellen und
- soweit sie die Wartedauer in der Wartezeitquote nicht zeitlich begrenzen.
Anforderungen an Vorbehalt des Gesetzes
Nach Feststellung der Verfassungsrichter werde die Gestaltung des Auswahlverfahrens der Hochschulen den Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes nicht gerecht, soweit nicht durch Gesetz sichergestellt ist, dass die hochschuleigenen Eignungsprüfungsverfahren oder die Auswahl nach vorangegangener Berufsausbildung oder -tätigkeit auf standardisierte und strukturierte Weise erfolgt. Weiterhin ist nach Auffassung der Richter ebenfalls nicht mit dem Vorbehalt des Gesetzes vereinbar, dass den Hochschulen im bayerischen und hamburgischen Landesrecht die Möglichkeit gegeben ist, eigenständig weitere Auswahlkriterien festzulegen. Im Kern muss der Gesetzgeber also wegen des bei der Berufsfreiheit geltenden einfachen Gesetzesvorbehalts Wesentliches selbst regeln.
Dieser Pflicht ist er insbesondere in Hamburg und Bayern nicht nachgekommen. Allgemein hat der Gesetzgeber den Universitäten zu viele Regelungsspielräume belassen, die mit der Berufsfreiheit (Art. 12 I 1 GG) i.V.m. dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) unvereinbar sind.
Aus diesen Regelungen ergebe sich ein Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Studienangeboten, die der Staat mit öffentlichen Mitteln geschaffen hat. Diejenigen, die dafür die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, haben ein Recht auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot und damit einen Anspruch auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium ihrer Wahl.
Gebot der Gleichheitsgerechtigkeit
Die Richter stellten dabei entsprechende Forderungen im Hinblick auf die Regelungen zu Vergabequoten auf, nach denen die Studienplätze für die Humanmedizin derzeit verteilt werden. Nach dem bisherigen Verfahren werden die Studienplätze nach den besten Abiturnoten (20%), nach dem universitären Auswahlverfahren (60%) und nach der verstrichenen Wartezeit (20%) verteilt.
Aus dem Gebot der Gleichheitsgerechtigkeit folge jedoch, dass sich die Regeln über die Vergabe von Studienplätzen grundsätzlich am Kriterium der Eignung orientieren müssen. Dabei bemisst sich die für die Verteilung relevante Eignung an den Erfordernissen des konkreten Studienfachs und den typischerweise anschließenden beruflichen Tätigkeiten. Bestimmte Eignungskriterien oder Kriterienkombinationen hat das BVerfG dem Gesetzgeber in seiner Entscheidung zwar nicht vorgegeben. Die vom Gesetzgeber herangezogenen Kriterien müssen sich in Zukunft aber auf das konkrete Studienfach und auf typischerweise anschließende berufliche Tätigkeiten beziehen sowie in ihrer Gesamtheit Gewähr für eine hinreichende Vorhersagekraft bieten.
Durchschnittsquote von 20% teilweise legitim
Gleichzeitig machen die Verfassungsrichter aber auch deutlich, dass die Vergabe von 20% der Studienplätze anhand der Abiturnote grundsätzlich verfassungskonform sei: Hierbei knüpft der Gesetzgeber an eine Beurteilung der Leistung der Studienbewerber an, die von der Schule am Ende einer allgemeinbildenden Ausbildung vorgenommen wurde, sodass an der Sachgerechtigkeit der Abiturnote als Eignungskriterium auf Grundlage der richterlichen Erkenntnisse keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Verfassungswidrig sei es allerdings, innerhalb dieser Vergabequoten primär auf die obligatorisch anzugebenden Ortswünsche abzustellen und somit das eigentliche Vergabekriterium -und zwar die Abiturnote- zu entwerten.
Ortswunschangabe entwertet Eignungsmaßstäbe
Die vorrangige Berücksichtigung von obligatorisch anzugebenden Ortswünschen sei somit nicht mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die gleiche Teilhabe zu vereinbaren. Die Chancen der Abiturienten auf einen Studienplatz hängen danach nämlich in erster Linie davon ab, welchen Ortswunsch sie angegeben haben und nur in zweiter Linie von ihrer Eignung für das Studium. Dies sei im Rahmen einer zentralen Vergabe von Studienplätzen nach dem Kriterium der Abiturdurchschnittsnote verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Bezüglich eines Studienfachs, das über den Zugang zu einem breiten Berufsfeld entscheidet, muss die Frage, ob überhaupt ein Studienplatz vergeben wird, der Ortspräferenz vorgehen.
Der anzugebende Wunschstudienort, den der Bewerber nach Präferenz absteigend bei der Vergabe nach der Abiturnote angeben muss, darf nach Ansicht der Verfassungsrichter kein primär sachliches Eignungskriterium darstellen, sondern allenfalls ein Sekundärkriterium.
Zur Gewährleistung der Gleichbehandlung sei auch die Beschränkung der Angabe von lediglich sechs Studienorten, die die Bewerber angeben dürfen, unzulässig und sei auch nicht mit verfahrensökonomischen Notwendigkeiten zu begründen. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseingriffe sei dies kein geeignetes Kriterium, um die Zulässigkeit der Beschränkung auf auszuwählende Universitäten zu rechtfertigen.
Unzulässiges “eigenes Kriterienerfindungsrecht”
Der Gesetzgeber sieht für weitere 60% der in den Hauptquoten zu vergebenden Studienplätze ein Auswahlverfahren der Hochschulen vor. Nach Ansicht der Richter wird die Regelung dieses Verfahrens den Anforderungen des Vorbehalts des Gesetzes nicht gerecht und erfolge derzeit in mehreren Punkten verfassungswidrig.
Zum einen müsse Wesentliches durch den Gesetzgeber geregelt werden, sodass es verfassungswidrig sei, wenn der Gesetzgeber es -wie in Hamburg und Bayern- den Universitäten überlässt, weitere eigene Auswahlkriterien festzulegen, die zudem nicht gesetzlich geregelt sind. Ein eigenes “Kriterienerfindungsrecht” der Hochschulen ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig.
So soll aus Gründen der Bestimmtheit und der Wesentlichkeit der Gesetzgeber den Hochschulen in Zukunft vorgeben, die Eignungsprüfungsverfahren standardisiert und strukturiert durchzuführen sowie vor dem Studium erworbene berufliche Kenntnisse zu berücksichtigen. Nur so könne dem Gleichbehandlungsgrundsatz und den Anforderungen an den Vorbehalt des Gesetzes Rechnung getragen werden. Zudem muss der jeweilige Gesetzgeber in Zukunft transparente Regeln schaffen, um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten.
Den Universitäten bleibt somit künftig nur noch ein geringer Ausgestaltungsspielraum. Deutlich wird dies insbesondere dadurch, dass sogar der verbleibende Spielraum von den Verfassungsrichtern mit zu berücksichtigenden Forderungen geradezu vorgegeben wird. So darf in Zukunft auch bei Vorauswahlverfahren die Ortspräferenz -wie bei der Vergabe nach Abiturbestennoten- nicht primär entscheidend sein, sondern soll nur noch ausnahmsweise und nur bei anschließender Durchführung eines individualisierten Auswahlverfahrens verfassungskonform sein. Dabei darf dieses Verfahren nur für eine begrenzte Zahl der im universitären Auswahlverfahren vergebenen Studienplätze genutzt werden.
Darüber hinaus muss aus Gründen der Gleichbehandlung eine länderübergreifende Vergleichbarkeit der Abiturnoten gewährleistet werden, wenn der Gesetzgeber den Universitäten gestatten will, in ihrem eigenen Auswahlverfahren die Abiturnote weiterhin zu berücksichtigen. Hier dürfe die Abiturnote jedoch nur noch rudimentär in die Bewertung einfließen, weil sie bereits bei der Vergabe nach Abiturbestenquoten (20%) maßgeblich sei. Das BVerfG will damit eine “doppelte” Wertung nach Abiturnoten verhindern.
Wartezeitquoten unterliegen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen
Schließlich sieht der Gesetzgeber für einen Anteil von 20 % der in den Hauptquoten zu vergebenden Studienplätze die Vergabe nach Wartezeit vor (Wartezeitquote). Die Bildung einer solchen Wartezeitquote ist verfassungsrechtlich nicht unzulässig, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen mit Art. 12 I GG i.V.m. Art. 3 I GG vereinbar. Die jetzige Bemessung der Quote ist noch verfassungsgemäß, über den Anteil von 20 % der in den Hauptquoten zu vergebenden Studienplätze hinaus darf der Gesetzgeber die Wartezeitquote jedoch nicht erhöhen.
Als verfassungswidrig erweist es sich, dass der Gesetzgeber die Wartezeit in ihrer Dauer nicht angemessen begrenzt hat. Denn ein zu langes Warten beeinträchtigt erheblich die Erfolgschancen im Studium und damit die Möglichkeit zur Verwirklichung der Berufswahl. Sieht der Gesetzgeber demnach zu einem kleineren Teil auch eine Studierendenauswahl nach Wartezeit vor, ist er von Verfassungs wegen gehalten, die Wartedauer auf ein mit Blick auf ihre negativen Folgen noch angemessenes Maß zu begrenzen. Dies gilt ungeachtet dessen, dass die verfassungsrechtlich gebotene Beschränkung der Wartedauer dazu führen mag, dass viele Bewerber am Ende keinen Studienplatz über die Wartezeitquote erhalten können. Ferner ist für die Wartezeitquote - ebenso wie für die Abiturbestenquote - eine verfahrensökonomische Notwendigkeit, die eine zahlenmäßige Beschränkung der Ortswahlangaben erfordern könnte, nicht erkennbar; auch hier hat der Gesetzgeber zudem dem Grad der Ortspräferenz eine zu große Bedeutung beigemessen.
Fazit
Bei der Vergabe von Studienplätzen handelt es sich um eine wesentliche Regelungsmaterie, die den Kern des Zulassungswesens ausmacht und damit dem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Insofern müssen die Auswahlkriterien ihrer Art nach durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber selbst bestimmt werden. Allerdings darf er den Universitäten gewisse Spielräume für die Konkretisierung der gesetzlich festgelegten Kriterien lassen, anhand derer die Eignung von Studienbewerbern beurteilt werden soll. Solche Spielräume rechtfertigen sich durch den direkten Erfahrungsbezug der Hochschulen und die grundrechtlich geschützte Freiheit von Forschung und Lehre. Eine solche Konkretisierungsbefugnis der Hochschulen schlägt sich insbesondere in den Ausgestaltungsmöglichkeiten hochschuleigener Eignungsprüfungen nieder. Allerdings verlangt der Vorbehalt des Gesetzes gesetzliche Sicherungen dafür, dass die Hochschulen Eignungsprüfungen in standardisierten und strukturierten Verfahren durchführen.
Es bleibt also mit Spannung zu erwarten, wie sich das Vergabeverfahren in Zukunft entwickeln wird. Das BVerfG hat den zuständigen Landesgesetzgebern aufgegeben, bis zum 31. Dezember 2019 eine Neuregelung zu treffen, wenn und soweit der Bund bis dahin nicht von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat.
-BVerfG, 19.12.2017 - 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14-
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