Brotmesser-Fall

A. Sachverhalt

Die Angeklagten sind Geschwister. Ihr Vater, Peter F. hatte die damals 12 oder 13 Jahre alte Angeklagte Petra F. im Jahre 1990 sexuell missbraucht. Anfang September 1997 entschlossen sich die Angeklagten nach erheblichem Alkoholgenuss im Verlauf eines Gesprächs über diesen sexuellen Missbrauch, den die Angeklagte unzutreffend als “Vergewaltigung” bezeichnete, ihren Vater zu töten. Der Angeklagte Bernd F. holte aus seiner Wohnung ein etwa 25 cm langes Bratmesser und versteckte es am Körper. Mit einem Taxi fuhren die Angeklagten zur Wohnung ihres Vaters, der alkoholische Getränke anbot. Gegen 22.30 Uhr verließ ein Nachbar ihres Vaters, den dieser eingeladen hatte, die Wohnung. Die Angeklagte veranlasste ihren Vater zweimal, in die Küche zu gehen, um ihrem Bruder Gelegenheit zu geben, die Tat auszuführen. Dieser nahm jedoch, weil ihm wegen des Besuchs des Nachbarn das Risiko der Entdeckung zu hoch erschien, “von der weiteren Ausführung der Tat Abstand”. Die Angeklagte “akzeptierte die Entscheidung ihres Bruders, hielt jedoch selbst an der weiteren Ausführung des gemeinsamen Planes fest”. Sie verbarg in der Küche ein Küchenmesser (Klingenlänge 13 cm) im Ärmel ihres Pullovers. Als sie neben ihrem Vater auf dem Sofa saß, “zog sie das Messer aus dem Ärmel und begann, ihren Vater damit zu bedrohen und sich in immer erregterer Form mit diesem über die “Vergewaltigung” auseinanderzusetzen.” Der Angeklagte griff nicht ein, obwohl ihn sein Vater darum bat.
 
“In einem insoweit vom Angeklagten unbeobachteten Moment stieß die Angeklagte dann das Messer bis an das Heft in den Unterleib ihres Vaters”, um ihn zu töten. Dieser schrie auf und versuchte zu fliehen. Die Angeklagte drückte ihren Vater “wiederholt” auf das Sofa zurück. “Peter F. konnte dann aufstehen und aus der Wohnung fliehen. Bernd F. folgte seinem Vater”, kehrte jedoch in die Wohnung zurück, als er ihn nicht finden konnte. “Kurze Zeit später verließen die Angeklagte Petra F. und ihr Bruder das Haus und suchten kurz den Vater.”
 
Zwischen 0.30 und 0.45 Uhr kehrten die Angeklagten in die Wohnung ihres Vaters zurück und begaben sich anschließend in eine Gaststätte. Von dort aus telefonierte die Angeklagte um 1.27 Uhr mit dem diensthabenden Beamten der örtlichen Polizeistation und erklärte: “Ich habe meinen Vater umgebracht”. Die Stichverletzung, die die Angeklagte ihrem Vater zugefügt hatte, erwies sich als nicht lebensbedrohlich und verheilte folgenlos.  

Schwerpunkte des Falls:

 - [Rücktritt gemäß § 24 I StGB](https://jura-online.de/lernen/ruecktritt-vom-versuch-versuch-aus-grobem-unverstand/734/excursus?unauth=true&utm_campaign=Klassiker_Brotmesser_Fall)

 - [Problem - Mehraktiger Versuch - Rücktrittshorizont](https://jura-online.de/lernen/problem-mehraktiger-versuch/383/excursus?unauth=true&utm_campaign=Klassiker_Brotmesser_Fall)

 

B. Worum geht es?

Blogleser wissen, dass der BGH für die Abgrenzung von unbeendetem und beendetem Versuch (§ 24 I StGB) auf den sogenannten Rücktrittshorizont abstellt:
 
Ein beendeter Versuch liegt vor, wenn der Täter nach der letzten Ausführungshandlung die tatsächlichen Umstände, die den Erfolgseintritt nahelegen, erkennt oder wenn er den Erfolgseintritt in Verkennung der tatsächlichen Ungeeignetheit der Handlung für möglich hält. Ist der Handlungsablauf dagegen nicht oder jedenfalls aus der Sicht des Täters nicht geeignet, den Erfolg herbeizuführen, so ist der Versuch, wenn er nicht endgültig fehlgeschlagen ist, unbeendet.
 
Das Landgericht hatte festgestellt, die Angeklagte habe unmittelbar nach dem Stich geglaubt, die Verletzung könnte tödlich gewesen sein. Danach läge ein beendeter Versuch vor. Andererseits liegt es nicht fern, dass die Angeklagte kurze Zeit später – als ihr Vater trotz seiner Verletzung ohne besondere Schwierigkeiten die Wohnung verließ – zu der Erkenntnis gelangt war, dass mit einer tödlichen Wirkung des Stiches nicht zu rechnen war. Dann läge ein unbeendeter Versuch des Totschlags (§§ 212, 22, 23 StGB) vor, von dem die Angeklagte durch Aufgabe der Tat strafbefreiend zurückgetreten wäre.
 
Der BGH hatte damit folgende Frage zu beantworten:

Liegt ein unbeendeter oder beendeter Versuch vor, wenn der Täter zwar unmittelbar nach seiner letzten Tathandlung einen Erfolgseintritt für möglich hält, unmittelbar darauf jedoch die Vorstellung gewinnt, dass dem Erfolg doch nicht zu rechnen sei?

 

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH hebt im Brotmesser-Fall (Beschl. v. 11.3.1999 – 4 StR 56/99 (NStZ 1999, 449 ff.)) das Urteil des Landgerichts, das die Angeklagte wegen versuchten Totschlags verurteilt hatte, auf. Das Landgericht hatte einen strafbefreienden Rücktritt der Angeklagten Petra F. vom Totschlagsversuch verneint, weil sie nichts unternommen habe, um die Vollendung der Tat zu verhindern (§ 24 I 1 2. Alt. StGB; auf § 24 II StGB ist das Landgericht nicht eingegangen). Dass das Landgericht einen beendeten Versuch angenommen habe, begegne rechtlichen Bedenken.
 
Einleitend führt der BGH aus, dass es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch auf den sogenannten Rücktrittshorizont ankomme:

„Zwar ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, daß es für die Abgrenzung des unbeendeten vom beendeten Versuch darauf ankommt, ob der Täter nach der letzten Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. BGHSt 31,170, 175; 33, 295, 299; 39, 221, 227), und daß dies bei gefährlichen Gewalthandlungen, wie einem Messerstich in den Unterleib, naheliegt (vgl. BGH NStZ 1994, 493; 1997, 593 jew. m. w. N).“

 
Allerdings führt der BGH aus, dass das Landgericht seiner Entscheidung eine zu enge Betrachtungsweise zugrunde gelegt habe. Es komme nicht auf die Vorstellung der Angeklagten „unmittelbar“ nach der letzten tatbestandsmäßigen Handlung (hier: der Stich mit dem Brotmesser) an. Maßgeblich sei vielmehr der Zeitpunkt, als die Angeklagte die Flucht ihres Vaters zuließ. Es sei naheliegend, dass die Angeklagte zu diesem Zeitpunkt erkannt hatte, dass der Stich keine tödlichen Folgen hatte und daher ein unbeendeter Versuch vorlag. Der BGH erlaubt damit eine „Korrektur des Rücktrittshorizonts“:

„Maßgebend für die Frage, ob ein beendeter Versuch vorliegt, sind nicht die Vorstellungen der Angeklagten “unmittelbar nach dem Stich”, sondern deren Vorstellungen zu dem Zeitpunkt, als sie es zuließ, daß ihr Vater aus der Wohnung flüchtete. Ein unbeendeter Versuch kommt nämlich auch dann in Betracht, wenn der Täter, dessen Handlungsmöglichkeiten unverändert fortbestehen, nach seinem Handeln einen Erfolgseintritt zwar zunächst für möglich hält, unmittelbar darauf aber die Vorstellung gewinnt, mit einer tödlichen Wirkung sei (noch) nicht zu rechnen, mit der Folge, daß er durch freiwilliges Absehen von weiterem Tun strafbefreiend zurücktreten kann (vgl. BGHSt 39, 221, 228; BGH NStZ 1998, 614, 615 jew. m. w. N.). Insoweit kommt vor allem dem vom Täter wahrgenommenen Verhalten des Opfers nach der letzten Ausführungshandlung indizielle Bedeutung zu. Dieses hätte hier einer Erörterung insbesondere deshalb bedurft, weil der Vater der Angeklagten sogleich nach dem Messerstich versuchte zu fliehen und, obgleich ihn die Angeklagte “wiederholt” auf das Sofa drückte, schließlich aufstehen und trotz seiner - vermeintlich lebensgefährlichen - Verletzung ohne besondere Schwierigkeiten seine Wohnung verlassen konnte (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 31). Danach liegt es nicht fern, daß die Angeklagte - möglicherweise entgegen ihren Vorstellungen “unmittelbar nach dem Stich” und zum Zeitpunkt ihres Telefonanrufs bei der Polizeidienststelle etwa eine Stunde danach - zu der Erkenntnis gelangt war, daß mit einer tödlichen Wirkung des Stiches nicht zu rechnen war, und die weitere Tatausführung aufgegeben hatte, als sie es schließlich zuließ, daß ihr Vater die Wohnung verließ, obwohl sie das Messer erneut hätte einsetzen können. Der späteren Äußerung der Angeklagten, sie habe ihren Vater “umgebracht”, kommt daher für die Beurteilung des Rücktrittshorizonts nicht die indizielle Bedeutung zu, die ihr das Landgericht zugemessen hat. Zwar ist ein solcher Schluß auf die Vorstellungen eines Täters in dem Zeitraum nach der letzten Ausführungshandlung grundsätzlich möglich. Insoweit hätte das Landgericht aber in Betracht ziehen müssen, daß möglicherweise erst die ergebnislose Suche der Angeklagten nach ihrem Vater zu der Erkenntnis geführt hat, daß der Stich doch tödlich gewesen sein konnte. Zu diesem Zeitpunkt waren der ursprüngliche Tötungsversuch abgeschlossen und, sofern die Angeklagte die weitere Tatausführung aufgegeben hatte, als sie die Flucht ihres Vaters aus der Wohnung zuließ, der darin liegende Rücktritt bereits vollzogen (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Versuch, unbeendeter 15).“

 

D. Fazit

Der Brotmesser-Fall lehrt, dass es für die Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch zwar auf die Vorstellung des Täters im sogenannten Rücktrittshorizont ankommt, diese Vorstellung aber in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der letzten Tathandlung korrigiert werden kann.