Der "U-Bahn-Treter" von Berlin

F geht die Treppen am U-Bahnhof Hermannstraße in Berlin hinab. Mitten auf der Treppe nähert sich T ihr unbemerkt von hinten und tritt ihr wuchtig in den Rücken. Dadurch stürzt sie mehrere Stufen kopfüber hinab und prallt mit Gesicht und Oberkörper auf den Treppenabsatz. T und seine drei Begleiter gehen weiter und verlassen den U-Bahnhof. Andere Passanten alarmieren Polizei und Feuerwehr. F erleidet einen Armbruch, mehrere Schürfwunden und Prellungen und muss ambulant im Krankenhaus behandelt werden.

Einige Wochen später veröffentlichen die Ermittlungsbehörden auf Grund einer richterlichen Anordnung Videos des Vorfalls aus einer Überwachungskamera und bitten um Hinweise zu der Person des T. Dadurch kann T identifiziert und an einem Busbahnhof in Berlin festgenommen werden; er befand sich in einem Bus, der aus Südfrankreich kam. T wird dem Ermittlungsrichter vorgeführt, der einen Haftbefehl erlässt.

Der Fall des sogenannten “U-Bahn-Treters” von Berlin hat in den letzten Wochen erhebliche Aufmerksamkeit in den Medien erregt. Aus juristischer Sicht bietet er genügend Stoff, um beispielsweise Gegenstand eines mündlichen Prüfungsgesprächs zu werden. Daher soll der Fall unter materiell-rechtlichen und strafprozessualen Gesichtspunkten beleuchtet werden.

 

I. Materiell-rechtliche Überlegungen

1. Strafbarkeit des T wegen versuchten Mordes oder Totschlags gemäß §§ 211, 22, 23 StGB bzw. §§ 212, 22, 23 StGB

Die Strafbarkeit des Versuchs des Mordes bzw. Totschlags ergibt sich aus deren Verbrechenscharakter (§§ 23 I, 12 I StGB).

T müsste zunächst einen Tatentschluss gefasst, also im Hinblick auf den Tod der F vorsätzlich gehandelt haben (§ 15 StGB).

Geläufig wird der Vorsatz mit der bekannten (und eher unpräzisen) Kurzformel „Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung“ beschrieben oder etwas länger als „Wille zur Verwirklichung eines Straftatbestandes in Kenntnis aller seiner Umstände“. Je nach Intensität der intellektuellen und voluntativen Beziehung des Täters zum objektiven Tatumstand kann man zwischen drei Vorsatzformen unterscheiden: Absicht (dolus directus ersten Grades), Wissentlichkeit (dolus directus zweiten Grades) und Eventualvorsatz (dolus eventualis).

Hier dürften keine Anhaltspunkte für ein absichtliches oder wissentliches Handeln des T bestehen, allenfalls könnte ein Eventualvorsatz vorliegen. In der Sache geht es also um die Abgrenzung von Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit.

Nach herrschender Ansicht enthält der Vorsatz ein Wissens- und ein Willenselement. Eventualvorsatz setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH (begründet im Lederriemen-Fall, den wir als Klassiker vorgestellt haben) voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet. So hat der in einer Entscheidung aus dem Jahre 2012 zur sogenannten Hemmschwellentheorie ausgeführt:

„Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (…). Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt es nahe, dass der Täter mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne zu Tode kommen und – weil er mit seinem Handeln gleichwohl fortfährt – einen solchen Erfolg billigend in Kauf nimmt (…). Zwar können das Wissens- oder das Willenselement des Eventualvorsatzes gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Vorgehen zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko der Tötung infolge einer psychischen Beeinträchtigung – z. B. Affekt, alkoholische Beeinflussung oder hirnorganische Schädigung (…) – zur Tatzeit nicht bewusst ist (Fehlen des Wissenselements) oder wenn er trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolgs vertraut (Fehlen des Willenselements). Bei der erforderlichen Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände (…) darf der Tatrichter den Beweiswert offensichtlicher Lebensgefährlichkeit einer Handlungsweise für den Nachweis eines bedingten Tötungsvorsatzes nicht so gering veranschlagen, dass auf eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Beweisanzeichen verzichtet werden kann (…).“ (BGH Urt. v. 22.3.2012 - 4 StR 558/11)

 

Weil wir derzeit nichts über die Motivlage des T wissen, können wir uns der Frage nach einem Tötungsvorsatz allenfalls über die objektive Lebensgefährlichkeit der Tat nähern, die – wenn der Täter sie erkennt – ein wesentliches Indiz für einen Tötungsvorsatz darstellt. Der Tritt in den Rücken einer arglosen Person, die eine Treppe hinabgeht, ist für sich genommen sicherlich gefährlich, wegen der denkbaren Kopf- und Wirbelsäulenverletzungen auch lebensgefährlich. § 224 I Nr. 5 StGB zeigt aber, dass das Bewusstsein der Lebensgefährlichkeit einer Behandlung nicht zwingend auch einen Tötungsvorsatz bedeutet. Ein tödlicher Verlauf eines Treppensturzes ist auch nicht derart naheliegend und wahrscheinlich, dass sich daraus ein Tötungsvorsatz des T herleiten ließe. Nach den derzeit bekannten Informationen dürfte daher eher wenig für einen Tötungsvorsatz des T sprechen.

Bejaht man hingegen den Tötungsvorsatz, dürfte T sich gar wegen versuchten heimtückischen Mordes (§§ 211, 22, 23 StGB) strafbar gemacht haben, weil F arg- und wehrlos war.

Schließlich wird man dann die Frage zu beantworten haben, ob T strafbefreiend zurückgetreten ist (§ 24 I StGB). Auch wenn wir wenig über die Vorstellungen von T wissen, dürfte ein rücktrittsausschließender Fehlschlag des Versuchs naheliegen. T hätte sein Ziel nur durch eine wesentliche Änderung seines Tatplans und nicht zum Treten gleichwertige Tathandlungen (bspw. Erschlagen) erreichen können. Diese Überlegungen zeigen aber auch, dass die Annahme eines Tötungsvorsatzes eher unwahrscheinlich sein dürfte.

 

2. Strafbarkeit des T wegen (gefährlicher) Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 StGB

T hat sich jedenfalls wegen vorsätzlicher Körperverletzung gemäß § 223 StGB strafbar gemacht. F hat sich bei dem von T verursachten Sturz verletzt und unter anderem einen Arm gebrochen. Wer eine Person die Treppe hinuntertritt, nimmt auch wenigstens (!) billigend in Kauf, dass es zu Verletzungen kommt. Offenbar hat F auch den nach § 230 I StGB grundsätzlich erforderlichen Strafantrag gestellt; es liegt aber auch nahe, dass die Staatsanwaltschaft das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht (vgl. auch Nr. 234 RiStBV).

Er könnte auch die Qualifikation des § 224 I StGB erfüllt haben. Die Treppe ist kein gefährliches Werkzeug iSv § 224 I Nr. 2 StGB, weil dem Wortsinn nach nur bewegliche Gegenstände „Werkzeuge“ sein können. Nach den vorliegenden Informationen liegt auch kein hinterlistiger Überfall nach § 224 I Nr. 3 StGB vor, weil dafür die Arg- und Wehrlosigkeit der F nicht ausreicht. Hinterlist ist mehr als Heimtücke (§ 211 II StGB) und liegt dann vor, wenn Täter planmäßig, in einer auf Verdeckung seiner wahren (Verletzungs-)Absicht berechneten Weise vorgeht, um die Abwehr des nicht erwarteten Angriffs zu erschweren – dafür gibt es derzeit keine Anhaltspunkte.

Für eine gemeinschaftliche Tatbegehung von T und einem seiner Begleiter ist derzeit nichts ersichtlich. Zwar genügt für § 224 I Nr. 4 StGB auch das gemeinsame Wirken eines Täters und eines Gehilfen (§ 27 StGB). Die rein psychische Beihilfe durch bloßes Bestärken des Täterwillens soll aber ausscheiden, weil sie die Gefährlichkeit der Körperverletzung nicht erhöht. Eine aktive Beihilfe oder gar Mittäterschaft (§ 25 II StGB) eines der Begleiter des T ist aber auf den Videoaufnahmen nicht erkennbar.

T dürfte aber die Voraussetzungen des § 224 I Nr. 5 StGB erfüllt haben. Eine das Leben gefährdende Behandlung liegt vor, wenn die Art der Behandlung nach den Umständen des Einzelfalls dazu generell geeignet ist. Nach hM handelt es sich nicht um ein konkretes Gefährdungsdelikt. Die (abstrakte) Lebensgefährlichkeit des Tritts auf einer Treppe gegen F wird man bejahen können, weil die arglose F schon nicht in der Lage war, sich gegen die Folgen des Sturzes abzusichern und es bei dem Sturz kopfüber zu tödlichen Kopf- oder Halswirbelsäulenverletzungen kommen kann.

 

3. Strafbarkeit des T wegen Nötigung

T hat sich zudem in Tateinheit (§ 52 StGB) wegen Nötigung nach § 240 I, II StGB strafbar gemacht.

 

4. Strafbarkeit des T wegen unterlassener Hilfeleistung

§ 323c StGB soll nach der Rechtsprechung des BGH nicht anwendbar sein, wenn die aus einer vorangegangenen Tat (hier: § 224 StGB) entspringende Gefahr im Rahmen des bei dieser Tat gewollten Verletzungserfolgs bleibt (BGH Beschl. v. 13.10.1993 - 5 StR 583/93). Das dürfte hier der Fall sein, weswegen eine Strafbarkeit wegen § 323c StGB ausscheidet.

 

II. Prozessuale Überlegung

 

1. Öffentliche Fahndung

Nach dem Täter wurde öffentlich gefahndet, die Videobilder der Tat wurden veröffentlicht. Die Öffentlichkeitsfahndung zeichnet sich dadurch aus, dass sie einem nicht bestimmten, potentiell unbegrenzten Kreis von Personen zugänglich gemacht wird, während bei einer sogenannten Ausschreibung zur Fahndung (§ 131 I StPO) oder zur Aufenthaltsermittlung (§ 131a I StPO) die Daten und Informationen, mit denen die Fahndung betrieben wird, nur einem engen Kreis von Personen – in der Regel Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft (§ 152 GVG) – zur Verfügung gestellt werden (bspw. durch Einstellen von Fotos in das polizeiliche Intranet). Weil es sich dabei wegen der damit verbundenen Rufschädigung und Bloßstellung um einen Eingriff von besonders hoher Intensität in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des T nach Art. 2 I GG iVm Art. 1 I GG handelt, bedarf es dafür einer Rechtsgrundlage.

 

a. Öffentlichkeitsfahndung (§ 131 III StPO)

Als Rechtsgrundlage kommt zunächst § 131 III StPO in Betracht, wonach Richter und Staatsanwaltschaft – bei Gefahr im Verzug auch die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft iSv § 152 GVG (§ 131 III 2 StPO) – bei einer Straftat von erheblicher Bedeutung eine Öffentlichkeitsfahndung anordnen können, wenn andere Formen der Aufenthaltsermittlung erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wären. Dabei können auch Abbildungen des Beschuldigten verwendet werden (§ 131 IV StPO). § 131 III StPO verweist aber auf § 131 I und II StPO und setzt damit voraus, dass der Beschuldigte bereits identifiziert ist. Denn nur dann kann ein Haftbefehl erlassen (§ 131 I StPO) oder eine vorläufige Festnahme veranlasst (§§ 131 II, 127 II StPO) werden.

 

b. Veröffentlichung von Abbildungen des Beschuldigten (§ 131b I StPO)

Nach § 131b I StPO ist die Veröffentlichung von Abbildungen eines Beschuldigten zulässig, wenn der Beschuldigte einer Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtig ist und die Aufklärung der Straftat, insbesondere die Feststellung der Identität des unbekannten Täters auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre. Fahndungen nach § 131b StPO dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen angeordnet werden (Richtevorbehalt nach § 131c StPO).

Der Begriff der Straftat von erheblicher Bedeutung ist nicht weiter definiert, insbesondere gibt es keinen konkretisierenden Deliktskatalog (siehe dazu etwa §§ 98a, 100a II StPO). Maßgeblich ist daher eine einzelfallbezogene Beurteilung. Das Gewicht der Straftat muss so groß sein, dass der mit einer Veröffentlichung von Abbildungen verbundene intensive Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten angemessen ist. Dabei können die Rechtsfolgen der Tat eine Rolle spielen; kommt nur eine Geldstrafe in Betracht, soll eine Anwendung von § 131b StPO regelmäßig ausscheiden. Anders als bei § 131 StPO, bei dem dringender Tatverdacht bestehen muss (als Voraussetzungen für einen Haftbefehl nach § 112 StPO), genügt für § 131b I StPO einfacher Tatverdacht.

Im Hinblick auf die Videoaufnahmen liegt der (dringende) Tatverdacht einer gefährlichen Körperverletzung gegen T (s.o.) vor, die eine Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten vorsieht. Im Hinblick auf die Folgen der Tat (vgl. § 46 II StGB) dürfte die Strafe über der Mindeststrafe liegen, so dass auch eine Geldstrafe nicht mehr in Betracht kommt (siehe § 47 StGB). Da es sich zudem um eine Tat gegen eine unbeteiligte Passantin im öffentlichen Raum handelt, die das Sicherheitsgefühl der Öffentlichkeit berührt, handelt es sich um eine erhebliche Tat im Sinne von § 131b StPO. Das gilt natürlich erst recht, wenn man den Verdacht eines versuchten Tötungsdelikts bejaht.

 

2. Anordnung der Untersuchungshaft

Die Untersuchungshaft darf nach § 112 I StPO angeordnet werden, wenn

  • gegen den Beschuldigten ein dringender Tatverdacht besteht (§ 112 I 1 StPO),

  • ein Haftgrund vorliegt (§ 112 I 1 StPO) und

  • die Anordnung der Untersuchungshaft nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht (§ 112 I 2 StPO).

 

Zu den Voraussetzungen im Einzelnen:

 

a. Dringender Tatverdacht

Mit dem dringenden Tatverdacht setzt die Verhaftung als besonders intensiver Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 II 2, 104 GG) einen stärkeren Verdachtsgrad als für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens (Anfangsverdacht: §§ 160 I, 152 II StPO) oder die Erhebung einer öffentlichen Anklage (hinreichender Tatverdacht: §§ 170 I, 203 StPO) voraus. Dringender Tatverdacht liegt vor, wenn nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis in seiner Gesamtheit eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat.

Das ist hier der Fall, da der T als der „Treter“ identifiziert werden konnte und in Anbetracht der Videoaufnahmen keine Zweifel an der Tatbegehung bestehen.

 

b. Haftgrund

Das Gesetz kennt verschiedene Haftgründe (§ 112 III StPO verzichtet bei Schwerkriminalität nicht auf einen Haftgrund; bei verfassungskonformer Auslegung der Norm werden die strengeren Anforderungen des § 112 II StPO lediglich gelockert):

 

(1) Flucht (§ 112 II Nr. 1 StPO)

„Flucht“ iSv § 112 II Nr. 1 StPO liegt vor, wenn der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält. Zwar ist eine Abgrenzung zwischen beiden Begriffen schwierig, letztlich aber auch nicht notwendig. Auch kann ein Beschuldiger zugleich flüchtig sein und sich verborgen halten. Vorausgesetzt wird in jedem Fall, dass der Beschuldigte den Willen hat (bedingter Vorsatz genügt), sich dem bereits eingeleiteten oder von ihm erwarteten Strafverfahren für längere Zeit oder auf Dauer zu entziehen. Das ergibt sich einerseits aus dem Wortlaut („flüchtig“, „sich verborgen halten“), andererseits aus dem Zusammenhang mit dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 II Nr. 2 StPO. Wird der Beschuldigte, gegen den wegen „Flucht“ Untersuchungshaft angeordnet wurde, ergriffen, entfällt der Haftgrund der Flucht. Stattdessen kann aber der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 II Nr. 2 StPO) vorliegen.

Da ein Haftbefehl erst nach der Festnahme erlassen wurde, konnte er nicht auf § 112 II Nr. 1 StPO gestützt werden.

 

(2) Fluchtgefahr (§ 112 II Nr. 2 StPO)

Fluchtgefahr liegt vor, wenn bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, dass der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (§ 112 II Nr. 2 StPO). Hier ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles geboten; die auf eine Flucht hindeutenden Umstände sind gegenüber denjenigen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen (bspw. soziale Eingliederung, enge familiäre Bindungen, stabile Lebens- und Einkommensverhältnisse). Dabei sind vor allem sind die persönlichen Verhältnisse des Täters und die zu erwartenden Rechtsfolgen der Tat zu berücksichtigen.

Über die näheren Umstände der Festnahme ist nichts bekannt geworden. Die Umstände sprechen aber dafür, dass T sich entweder zunächst nach Frankreich abgesetzt hatte (also flüchtig war) oder jedenfalls Vorbereitungen zu einer Flucht getroffen hatte. Auch die zu erwartende Strafe wird wegen der nicht unerheblichen Folgen der anlasslosen Tat, der darin zum Ausdruck kommenden menschenfeindlichen und verrohten Gesinnung und der Gleichgültigkeit nach der Tat (vgl. § 46 II StGB) sicherlich erheblich über der Mindeststrafe des § 224 I StGB von sechs Monaten liegen. Wegen dieser Mindeststrafe sind auch nicht die engeren Voraussetzungen des § 113 II StPO zu prüfen. Nach Medienberichten hat der Ermittlungsrichter den Haftbefehl auf Fluchtgefahr nach § 112 II Nr. 2 StPO gestützt.

 

(3) Verdunkelungsgefahr (§ 112 II Nr. 3 StPO)

Verdunkelungsgefahr im Sinne von § 112 II Nr. 3 StPO liegt vor, wenn das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde Beweismittel vernichten, verändern, beiseiteschaffen, unterdrücken oder fälschen (Buchstabe a)) oder auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken (Buchstabe b)) oder andere zu solchem Verhalten veranlassen (Buchstabe c)) und wenn deshalb die Gefahr droht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde. Für Verdunkelungsgefahr bestehen keine Anhaltspunkte.

 

(4) Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO)

Schließlich kennt § 112a StPO den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, allerdings nur bei schwerwiegenden Taten. Bestimmte Tatsachen, die die Gefahr begründen, dass T vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werde (vgl. § 112a I StPO), liegen aber nicht vor.

 

c. Keine Unverhältnismäßigkeit

112 I 2 StPO wiederholt den verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und konkretisiert ihn dahin, dass insbesondere die Bedeutung der Sache und die Rechtsfolgenerwartung zu berücksichtigen sind. § 112 I 2 StPO ist negativ formuliert und gestaltet die Unverhältnismäßigkeit als Haftausschließungsgrund aus. Die Anordnung der Untersuchungshaft scheidet danach nur dann aus, wenn die Unverhältnismäßigkeit feststeht; der Grundsatz „in dubio pro reo“ findet hier keine Anwendung. In Anbetracht der nicht unerheblichen Straferwartung liegen die Voraussetzungen des § 112 I 2 StPO nicht vor.

 

d. Verfahrensablauf

Die Untersuchungshaft wird durch einen schriftlichen Haftbefehl des zuständigen Richters angeordnet (§ 114 I StPO); die Zuständigkeit bestimmt sich nach § 125 StPO. Wird der Beschuldigte ergriffen, ist er unverzüglich dem zuständigen Richter vorzuführen, der ihn zu vernehmen hat (§ 115 StPO). Kann der Beschuldigte nicht spätestens am Tag nach der Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden, so ist er unverzüglich, spätestens am Tage nach der Ergreifung, dem nächsten Amtsgericht vorzuführen (§ 115a StPO). Damit werden die Vorgaben aus Art. 104 GG umgesetzt.

Der Richter hat auch von Amts wegen zu entscheiden, ob der Haftbefehl gegen Sicherungsauflagen (bspw. gegen Sicherheitsleistung [„Kaution“] oder Meldeauflagen) außer Vollzug gesetzt wird (§ 116 StPO). Dabei gilt für den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 II Nr. 2 StPO) § 116 I StPO, für den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (§ 112 II Nr. 3 StPO) § 116 II StPO und für Fälle der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) § 116 III StPO. Für den Haftgrund der Flucht (§ 112 II Nr. 1 StPO) gilt § 116 StPO nicht.

Wird der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, wird er nicht aufgehoben, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aber wird der Beschuldigte von der Haft verschont, weil der Zweck der Untersuchungshaft auch durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Das BVerfG spricht davon, dass der Beschuldigte in den Fällen des § 116 StPO in einer „kontrollierten Freiheit” belassen werde (Beschl. v. 15.12.1965 – 1 BvR 513/65). Das setzt eine hinreichend begründete Erwartung (Prognose) voraus, wonach der Haftgrund infolge der verhängten Sicherungsauflagen entfällt (so bei § 116 I, III StPO) oder doch in seiner Intensität derart abgeschwächt wird (so bei § 116 II StPO), dass die Außervollzugsetzung des Haftbefehls und die Freilassung des Beschuldigten verantwortet werden kann.

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