Jamba

A. Sachverhalt

Der damals 54 Jahre alte Angeklagte benutzte am Nachmittag des 7. Dezember 1993 für die Heimfahrt von der Arbeit einen Eilzug, der die Strecke von H. nach B., dem Wohnort des Angeklagten, in 24 Minuten zurücklegt. Der Angeklagte fuhr in einem Abteil der 1. Wagenklasse. Der Zug war überfüllt; Fahrgäste, die in der 2. Klasse keinen Sitzplatz gefunden hatten, standen auf dem Gang vor der Tür des Abteils, in dem der Angeklagte am Fenster saß. In diesem Abteil befand sich außer dem Angeklagten nur der 19 oder 24 Jahre alte J. Dieser saß an der Tür zum Gang. Als nach dem Zwischenhalt in H.-H. die Fahrkarten kontrolliert wurden, kaufte J. eine Fahrkarte für die 2. Klasse. Er verließ auf Aufforderung des Kontrolleurs das Abteil, kehrte jedoch kurz darauf an seinen alten Platz zurück. Er war durch Alkohol leicht bis mittelgradig berauscht und hatte eine geöffnete Bierdose bei sich; Biergeruch breitete sich im Abteil aus. Der Angeklagte wollte allein in dem Abteil sein; er fühlte sich von J. gestört. Er entschloss sich, ihn mit Kaltluft aus dem Abteil “herauszuekeln”. Er öffnete das Fenster. J., der am Oberkörper nur mit einer Jacke und darunter mit drei T-Shirts und einem Hemd bekleidet war, fror, stand auf und machte das Fenster zu. Der Angeklagte öffnete erneut das Fenster, das sodann wieder von J. geschlossen wurde. Dieser Vorgang wiederholte sich weiterhin, wobei es zu einem Wortstreit kam, bei dem J. immer lauter wurde. Nachdem der Angeklagte das Fenster zum dritten Mal geöffnet hatte, drohte J., der das Fenster abermals zumachte, dem Angeklagten mit erhobener Faust Schläge für den Fall an, dass das Fenster noch einmal geöffnet würde. Der Angeklagte zog aus der Tasche seiner links neben ihm hängenden Jacke ein Fahrtenmesser “etwas aus der Scheide heraus”, so dass die Klinge sichtbar wurde. Er wollte J. zeigen, dass ihm ein Messer zur Verteidigung gegen Tätlichkeiten zur Verfügung stehe. Der Angeklagte nahm an, dass J. das Messer sah; ob es sich wirklich so verhielt, ist ungeklärt.

Das Abteil wurde von innen nur durch die Notbeleuchtung erhellt. Doch fiel aus dem Gang, in dem man lesen konnte, durch die von Vorhängen nicht oder nur zum kleinen Teil bedeckten Fenster Licht in das Abteil; Licht kam auch durch die Außenfenster, weil der Zug, der sich dem Wohnort des Angeklagten näherte, “an immer mehr beleuchteten Häusern und Lichtquellen” vorbeifuhr. In der Annahme, das Messer werde J. von Tätlichkeiten abschrecken, machte der Angeklagte erneut das Fenster auf; anschließend nahm er wieder seine halb liegende Position ein, bei der sich seine Beine auf dem gegenüberliegenden Sitz befanden.

Nun sprang J. auf. Er ging auf den Angeklagten zu, um seine Drohung wahrzumachen und ihm Faustschläge zu versetzen. J. fasste mit beiden Händen in das Gesicht des Angeklagten. Dieser hatte den Eindruck, J. wolle ihm “an den Hals gehen”. Der Angeklagte hatte - nicht ausschließbar - keine Zeit mehr zum Aufstehen. Er holte sein Fahrtenmesser aus der neben ihm hängenden Jacke und stach damit dem über ihn gebeugten J. “ungezielt in einer Aufwärtsbewegung” acht bis zehn Zentimeter tief in den Oberbauch.

J. wich sodann etwas zurück. Der Angeklagte konnte “nunmehr” aufstehen. Zwischen ihm und J. kam es innerhalb des Abteils zu einem Kampf. Dabei stach der Angeklagte mit dem Fahrtenmesser fünf bis sechs Zentimeter tief in den Nacken des J.; auch fügte er J. zwei Schnittverletzungen am Hinterkopf zu. Ferner versetzte der Angeklagte dem J. einen Boxhieb in die Magengegend. Die Einzelheiten sind ungeklärt geblieben. J. wollte sich in den Besitz des Messers setzen; denn er wollte entweder weitere Stiche von sich abwenden oder aus Wut über die Verletzung “selbst mit dem Messer kämpfen”. Der Angeklagte wollte das Messer behalten und sich dem “fortdauernden Angriff” des J. widersetzen. Schließlich stürzten beide auf den Sitz an der Abteiltür. J. verletzte sich die Hand, als er den Arm des über ihm befindlichen Angeklagten nach oben drückte und dabei in das Messer griff, das der Angeklagte noch immer in der Hand hatte.

In dieser Phase des Geschehens trat der Zeuge F. in das Abteil ein. Er trennte die Kämpfenden, “wozu er keine große Kraft aufwenden musste”. Der Zeuge und die anderen vor der Abteiltür stehenden Reisenden hatten, nachdem die Kampfgeräusche lauter geworden waren, “immer entsetzter” in das Abteil geblickt. J. hatte zuletzt mit den Worten “he is killing me” um Hilfe gerufen. Schreien und ein Stöhnen hatten auch weiter entfernt stehende Reisende gehört. Vorher hatte der Zeuge F., der nicht in das Abteil hineinsehen konnte, die “immer lauter werdende Stimme” des J. gehört, während ein anderer Reisender, der Zeuge B., das Öffnen und Schließen des Fensters sowie das Vorzeigen des Messers durch den Angeklagten beobachten konnte. Den Stich in den Oberbauch und das ihm unmittelbar vorangegangene Verhalten des J. konnte der Zeuge B. dagegen nicht sehen, weil J. Körper zu diesem Zeitpunkt die Sicht auf den Angeklagten versperrte.

J. ist am späten Abend desselben Tages an den Folgen des Stiches in den Oberbauch verstorben.

B. Worum geht es?

Der Angeklagte hat den objektiven Tatbestand und – wenn man aus der außergewöhnlichen Gefährlichkeit der Stiche auf den Vorsatz des Angeklagten schließen möchte – auch den subjektiven Tatbestand des § 212 StGB verwirklicht. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Frage nach einer Rechtfertigung des Angeklagten wegen Notwehrs nach § 32 StGB.

Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden (§ 32 II StGB). J hat den Angeklagten gegenwärtig und rechtswidrig angegriffen, so dass dieser sich in einer Notwehrlage befand. Der BGH hatte zu entscheiden, ob die (tödlichen) Messerstiche des Angeklagten zu dessen Verteidigung auch erforderlich waren. Dabei war auch die „Gebotenheit“ der Notwehr zu berücksichtigen. Die Gebotenheitsklausel des § 32 I StGB ist dabei Einfallstor für die sogenannten „sozialethischen Einschränkungen“ des Notwehrrechts. Hintergrund ist, dass das Notwehrrecht keine Güterabwägung kennt und deswegen in bestimmten Fällen der Bedarf für eine normative Einschränkung des „schneidigen“ Notwehrrechts besteht. Zu den Fallgruppen, die im Rahmen der Gebotenheit nach § 32 I StGB diskutiert werden, gehört auch die Notwehrprovokation.

Diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass der Verteidigende ganz oder zum Teil für das Entstehen der Notwehrlage verantwortlich ist. Dabei unterscheidet man zwei Konstellationen: Bei der Absichtsprovokation, bei der der Verteidiger den Angriff planmäßig herbeiführt, um den Angreifer unter dem Vorwand einer äußerlich gegebenen Notwehrlage verletzen zu können, besteht im Ergebnis weitgehend Einigkeit darüber, dass der Täter sich nicht auf § 32 StGB berufen kann und nicht gerechtfertigt ist, weil er die Tat nur unter dem „Deckmantel“ der Rechtfertigung begangen hat. Sehr problematisch ist dagegen die Lösung sonstiger Fällen, in denen der Provozierende die Notwehrsituation vorwerfbar, aber ohne Absicht herbeiführt.

In der Literatur finden sich gewichtige Stimmen, die verlangen, dass das Vorverhalten rechtswidrig war. Nur in solchen Fällen verlasse der Verteidigende den „Boden des Rechts“. Nach der Rechtsprechung reicht es indes aus, wenn das Vorverhalten sozialethisch in seinem Gewicht einer schweren Beleidigung gleichkommt, also sozial zu missbilligen ist. Auf Rechtsfolgenseite geht der BGH davon aus, dass sich der Verteidiger eine besondere Zurückhaltung auferlegen muss, wenn er die Auseinandersetzung schuldhaft provoziert hat. In solchen Fällen ist dem Angegriffenen zuzumuten, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen. Steht fremde Hilfe - auch privater Art - zur Verfügung, so hat er auf sie zurückzugreifen. Der Sache nach geht es um eine Einschränkung der Erforderlichkeit nach § 32 II StGB im Wege eines „Drei-Stufen-Modells“: Ausweichen, Schutzwehr, Trutzwehr.

Der BGH hatte hier die Frage zu entscheiden:

Ist das Notwehrrecht des Angeklagten beschränkt, weil er zuvor den J. aus dem Abteil “herausekeln” wollte?

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH hebt im Fall Jamba (BGH Urt. v. 21.03.1996 – 5 StR 432/95 (BGHSt 42, 97), benannt nach dem Opfer, den Freispruch des Landgerichts auf.

Der BGH führt zunächst aus, dass das Verhalten des Anklagten „sozialethisch“ zu beanstanden gewesen sei, da das „Herausekeln“ aus dem Abteil der Sache nach einer schweren Beleidigung gleichkomme:

„Das Vorverhalten des Angeklagten war nach den Umständen sozialethisch zu beanstanden. Der Angeklagte hatte kein Recht und mit Rücksicht auf die verbleibende Reisezeit von wenigen Minuten keinen verständlichen Anlaß, seinen Mitreisenden durch die Zufuhr kalter Luft aus dem Abteil “herauszuekeln”. Unter diesen Umständen drückte das wiederholte Öffnen des Fensters eine Mißachtung des J. aus, die ihrem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt, auch wenn der alkoholisierte J. durch sein Verhalten seinerseits Anlaß für den Ärger des Angeklagten gegeben hatte. Ihm war es zuzumuten, einem Streit mit dem Angeklagten aus dem Wege zu gehen, indem er das Abteil verließ, zumal da er zu dessen Benutzung als Inhaber einer Fahrkarte zweiter Klasse ohnehin nicht berechtigt war. Keinesfalls durfte J. als Reaktion auf das Öffnen des Fensters körperliche Gewalt anwenden.

Das Vorverhalten des Angeklagten war indes nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung der Frage, ob die Stiche, zumal der tiefe Stich in den Oberbauch, als gebotene Verteidigung durch Notwehr gerechtfertigt waren. Ein für den Umfang des Notwehrrechts bedeutsames Vorverhalten, das “von Rechts wegen vorwerfbar” ist (BGHSt 24, 356, 359), liegt jedenfalls auch dann vor, wenn dieses Vorverhalten seinem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt.“

Sodann führt er zu den Einschränkungen des Notwehrrechts aus:

„Welches Maß der Beschränkung der Verteidigung von dem Provokateur zu verlangen ist, hängt von den Umständen ab. Die Beschränkungen sind um so geringer, je schwerer das Übel ist, das von dem Angriff droht.“

Nach diesen Umständen sei eine Gebotenheit des Handelns des Angeklagten nicht belegt:

„Nach den Urteilsausführungen drohten dem Angeklagten Faustschläge oder, wie es an anderer Stelle heißt, Prügel. Daß diese Gewalttätigkeiten lebensbedrohlich waren, hat der Tatrichter bisher nicht festgestellt. Der Umstand, daß J. den Angeklagten mit beiden Händen in das Gesicht faßte, bedeutet nicht notwendig, daß gefährliche Faustschläge in das Gesicht (vgl. dazu BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 10) bevorstanden. Daß J. von vornherein vorhatte, den Angeklagten zusammenzuschlagen und auf diese Weise lebensgefährlich zu verletzen, liegt nach den Umständen nicht nahe: Es kann J. trotz der Alkoholeinwirkung nicht verborgen geblieben sein, daß zahlreiche Personen im Gang standen, die seine Flucht hätten vereiteln können, wenn sie schon nicht dem Angeklagten zur Hilfe kamen.

Einwandfrei festgestellt ist allerdings, daß der Angeklagte durch seine liegende Position in der Verteidigung behindert war; denn der vor ihm stehende J. hinderte ihn, aufzustehen und sodann die Schläge seines Gegners zu erwidern, wozu der Angeklagte an sich, wie sein späterer Boxhieb zeigt, trotz seines Alters in der Lage gewesen wäre. Der Tatrichter hat aber nicht festgestellt, daß es dem Angeklagten in seiner Lage unmöglich war, sich mit seinen Händen vor Schlägen des J. zu schützen und den durch Alkohol beeinträchtigten Gegner mit Fußtritten aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Vor dem Abteil standen, vom Inneren des Abteils sichtbar, zahlreiche Personen im Gang. Sie konnten während des Wortstreits die lauten Worte des J. und später seinen Ruf “he is killing me” sowie sein Stöhnen hören. Hätte der Angeklagte, als J. ihn ins Gesicht faßte, seinerseits laut um Hilfe gerufen, so hätten die Mitreisenden dies ebenfalls wahrgenommen. Jedenfalls in dieser Anfangsphase der Gewalttätigkeiten bestand die Aussicht, daß ein Hilferuf des Angeklagten seine Lage verbessern würde. Zwar haben die Mitreisenden, als aus dem Abteil laut Kampfgeräusche drangen, “immer entsetzter in das Abteil geschaut”, also nicht eingegriffen, bevor der Zeuge F., der das Abteil zunächst nicht im Blickfeld gehabt hatte, beherzt einschritt. Doch mußte jener spätere Abschnitt des Geschehens, den die Mitreisenden beobachteten, besonders gefährlich erscheinen, weil ein Messer benutzt wurde; so verhielt es sich noch nicht, als J. in das Gesicht des Angeklagten faßte. Hilferufe des Angeklagten waren überdies geeignet, insofern mäßigend auf J. einzuwirken, als sie ihm deutlich machten, daß ihm der Fluchtweg versperrt war.“

C. Fazit

Fragen rund um Rechtfertigungsgründe sind klassische Ausbildungs- und Prüfungsthemen. Weil sich die sozialethischen Einschränkungen des Notwehrrechts nicht ohne Weiteres aus dem Wortlaut des § 32 StGB ergeben, sollte man sich jedenfalls einmal intensiv damit befassen. Der Fall Jamba ist dafür der ideale Anlass.

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