Examensreport: ÖR I 1. Examen aus dem August 2016 Durchgang in Rheinland-Pfalz

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

Der italienische Staatsangehörige I betreibt einen Pizzaservice. Seinen Sitz hat er etwa 10 km von dem Ort entfernt, in dem viele seiner Kunden leben. Um die Pizzen zu seinen Kunden auszufahren, befährt er regelmäßig die Waldstraße. Dort hat die Gemeindeverwaltung als zuständige Straßenverkehrsbehörde ein Straßenverkehrsschild aufgestellt, das ein Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h ausweist. I ignoriert ebenso oft diese Geschwindigkeitsbegrenzung, weil er seinen Kunden möglichst ofenwarme Pizzen ausliefern möchte. Er würde aber gerne auch „legal“ schneller als 40 km/h fahren können. Daher fragt er seinen besten Kunden, den Jurastudenten J, um Hilfe. Der J legt kurze Zeit später für I Widerspruch gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung ein. Auf den Widerspruch reagiert die Behörde allerdings nicht. Daraufhin beauftragt der I den Rechtsanwalt R. Dessen Recherchen ergeben, dass die Gemeindeverwaltung schlicht nach den letzten Bauarbeiten vergessen hatte, das Schild zu entfernen und dass man jetzt aber auch nicht unglücklich sei eine neue Einnahmequelle zu haben. Im Übrigen solle der I die neu errichtete Umgehungsstraße nutzen, die Waldstraße werde ohnehin demnächst nicht mehr öffentlich nutzbar sein. Der Gemeingebrauch werde aufgehoben.

Jetzt möchte I erst recht etwas unternehmen. Die Gemeindeverwaltung könne ihm doch nicht einfach so „seine Straße“ wegnehmen. Seine Pizzen würden auf der längeren Strecke über die Umgehungsstraße – geschäftsschädigend – abkühlen. Von seinem treuen Kunden J erfährt der I allerdings, dass es keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs gebe (§ 34 I 2 LStrG). Daher wendet sich I, der das alles nicht glauben mag, wiederum an seinen Rechtsanwalt R und bittet diesen, etwas zu unternehmen.

Frage 1: Ist ein Widerspruch des I zulässig?
Frage 2: Ist ein Eilverfahren des I zulässig?
Frage 3: Verletzt § 34 I 2 LStrG den I in seinen Grundrechten?

** 34Gemeingebrauch**

(1) Der Gebrauch der Straße ist jedermann im Rahmen der Widmung und der Verkehrsvorschriften gestattet (Gemeingebrauch). Auf die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs besteht kein Rechtsanspruch.
(2) Im Rahmen des Gemeingebrauchs hat der fließende Verkehr den Vorrang vor dem ruhenden Verkehr.
(3) Gemeingebrauch liegt nicht vor, wenn der Gemeingebrauch anderer ausgeschlossen oder mehr als unvermeidbar beschränkt oder die Straße nicht vorwiegend zum Verkehr, sondern zu anderen Zwecken benutzt wird.
(4) Für die Ausübung des Gemeingebrauchs dürfen Gebühren unbeschadet besonderer gesetzlicher Regelung nicht erhoben werden. Das gilt nicht für die Gebührenerhebung auf ausgewiesenen Parkflächen an öffentlichen Straßen.

Unverbindliche Lösungsskizze

Frage 1: Ist ein Widerspruch des I zulässig?
(Anmerkung: Die Fallfrage ist insoweit nicht ganz eindeutig. Einerseits könnte darin die Aufforderung zu sehen sein, die Zulässigkeit des bereits eingelegten Widerspruchs gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung zu prüfen. Darüber hinaus könnte auch ein eventueller Widerspruch gegen die noch nicht erfolgte (ggf. aber als erfolgt zu unterstellende) Aufhebung des Gemeingebrauchs gemeint sein. Vorsorglich soll hier beides geprüft werden. Für diese Vorgehensweise spricht, dass ansonsten der erste Widerspruch etwas „in der Luft“ hängt. Dagegen spräche die Verwendung des unbestimmten Artikels „ein“ in der Fallfrage.)

A. Widerspruch gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung

I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO
Hier: StVO

II. Statthaftigkeit
Der Widerspruch ist statthaft, wenn er Sachurteilsvoraussetzung für die spätere Klage ist.
Hier: §§ 68 I 1, 42 I 1. Fall VwGO; Arg.: Verkehrszeichen = Verwaltungsakt in Gestalt einer Allgemeinverfügung, § 35 S. 2 1. bzw. 3. Fall VwVfG.

III. Widerspruchsbefugnis, § 42 II VwGO analog
Hier: zumindest Art. 2 I GG

IV. Form und Frist, § 70 I VwGO

  • Beginn: Mit Bekanntgabe (= Aufstellen)
  • Dauer: 1 Jahr; Arg: Rechtsgedanke des § 58 II VwGO
    Hier: Keine konkreten Anhaltspunkte, wie viel Zeit zwischen Aufstellen des Verkehrszeichens im Zusammenhang mit den Bauarbeiten und Einlegung des Widerspruchs verstrichen ist - Frist im Zweifel eingehalten.

B. Widerspruch gegen die Aufhebung des Gemeingebrauchs

I. Vorher (also vor Umsetzung der Aufhebungsentscheidung)

  1. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO
    Hier: Vorschriften des LStR über die Aufhebung des Gemeingebrauchs/Entwidmung

  2. Statthaftigkeit

a) §§ 68 I 1, 42 I 1. Fall VwGO
(-); Arg.: Solange die Aufhebung des Gemeingebrauchs noch nicht passiert ist, sondern nur bevorsteht, fehlt es an einem anfechtbaren Verwaltungsakt.

b) Leistungsklage in der Hauptsache
(-); Arg.: Eine spätere Leistungsklage, gerichtet auf Unterlassen der Aufhebung des Gemeingebrauchs, setzt kein Widerspruchsverfahren voraus.

c) Feststellungsklage in der Hauptsache
(-); Arg.: Auch eine eventuelle Feststellungklage würde kein Widerspruchsverfahren voraussetzen.

  1. Ergebnis: (-)

II. Nachher (also nach Umsetzung der Aufhebungsentscheidung)

  1. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO (+)

  2. Statthaftigkeit
    Hier: §§ 68 I 1, 42 I 1. Fall VwGO; Arg.: Aufhebung des Gemeingebrauchs = Entwidmung = Verwaltungsakt in Gestalt einer Allgemeinverfügung, § 35 S. 2 2. Fall VwVfG.

  3. Widerspruchsbefugnis, § 42 II VwGO analog
    Hier: zumindest Art. 2 I GG (eventuell auch Art. 14 I, 12 I, 3 I GG); § 34 I 2 LStrG steht dem wohl nicht abschließend entgegen; Arg.: nur einfaches Recht, eventuell sogar verfassungswidrig; Rechtsverletzung zumindest möglich (a.A. vertretbar).

  4. Form und Frist, § 70 I VwGO
    -> Müssten eingehalten werden.

  5. Ergebnis: (+)

Frage 2: Zulässigkeit eines Eilverfahrens
(Anmerkung: Wie oben bei Frage 1)

A. Eilverfahren gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung

I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO (+)

II. Statthaftigkeit
Hier: § 80 V VwGO; Arg.: Anfechtungsklage in Hauptsache statthaft (s.o.).

III. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
Hier: Zumindest Art. 2 I GG

IV. Antragsgegner, § 78 I VwGO

V. Rechtsschutzbedürfnis

  1. Widerspruch eingelegt (+)

  2. Nicht offensichtlich unzulässig
    (+), s.o.

  3. Keine aufschiebende Wirkung
    Hier: § 80 II Nr. 2 VwGO analog („Blechpolizist“)

  4. Vorheriger Antrag bei der Behörde, § 80 IV VwGO

  • Problem: Erforderlichkeit
  • aA: (+);Arg.: einfacherer und zumutbarer Rechtsschutz
  • hM: nur in den Fällen des § 80 II 1 Nr. 1 VwGO; Arg.: Umkehrschluss aus § 80 VI VwGO
  1. Ergebnis: (+)

B. Eilverfahren gegen die Aufhebung des Gemeingebrauchs

I. Vorher (also vor Umsetzung der Aufhebungsentscheidung)

  1. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO (+)

  2. Statthaftigkeit
    Hier: § 123 I 1 VwGO; Arg.: Anfechtungsklage in der Hauptsache nicht statthaft (vgl. § 123 V VwGO).

  3. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
    Hier: Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch denkbar. § 34 I 2 LStrG steht dem nicht abschließend entgegen (s.o.).

  4. Antragsgegner, § 78 I VwGO analog

  5. Rechtsschutzbedürfnis
    (-); Arg.: „vorbeugender einstweiliger Rechtsschutz“ nur zulässig, wenn nachträgliches Vorgehen mittels Widerspruch und Antrag nach § 80 V VwGO nicht zumutbar, was hier nicht ersichtlich ist.

  6. Ergebnis: (-)

II. Nachher (also nach Umsetzung der Aufhebungsentscheidung)

  1. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO (+)

  2. Statthaftigkeit
    Hier: § 80 V VwGO; Arg.: Anfechtungsklage in der Hauptsache statthaft (s.o.).

  3. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
    Hier: Art. 2 I GG möglich; § 34 I 2 LStrG steht dem nicht abschließend entgegen.

  4. Antragsgegner, § 78 I VwGO analog

  5. Rechtsschutzbedürfnis

a) Widerspruch eingelegt (+)

b) Nicht offensichtlich unzulässig (+)

c) Kein aufschiebende Wirkung, § 80 II VwGO
Hier: Keine der in § 80 II VwGO genannten Nummern einschlägig.

  1. Ergebnis: (-)

Frage 3: Verletzt § 34 I 2 LStrG den I in seine Grundrechten?

I. Verletzung von Art. 12 I GG
(-); Arg.: Deutschen-Grundrecht

II. Verletzung von Art. 14 I GG
(-); Arg.: Art. 14 I GG schützt – in Abgrenzung zu Art. 12 I GG - nur das bereits Erworbene, nicht den Erwerb. Außerdem ist dem Sachverhalt nicht zu entnehmen, dass I Eigentümer oder Anwohner wäre (ansonsten wäre Art. 14 GG zu diskutieren – „Anwohnergebrauch“)

III. Verletzung von Art. 2 I GG

  1. Anwendbarkeit
    (+);Arg.: Kein Schutzbereich eines speziellen Freiheitsgrundrechts betroffen.

  2. Schutzbereich

a) Persönlicher Schutzbereich
-> Jedermann-Grundrecht

  • Problem: Anwendbarkeit des Art. 2 I GG bei Ausländern, wenn das Verhalten eigentlich in den Schutzbereich eines speziellen Deutschen-Grundrechts fällt
  • aA: (-); Arg.: Umgehung der Wertungen des speziellen Deutschen-Grundrechts
  • hM: (+); Arg.: Wortlaut; keine Umgehung der Wertungen des speziellen Deutschen-Grundrechts

b) Sachlicher Schutzbereich

  1. Eingriff

a) Klassisich
(-); Arg.: nicht final

b) „Modern“
Hier: zumindest Intensität

  1. Verfassungsrechtlichen Rechtfertigung

a) Bestimmung der Schranke
-> Einfacher Gesetzesvorbehalt;Arg.: „verfassungsmäßige Ordnung“

b) Formelle Verfassungsmäßigkeit (+)

c) Materielle Verfassungsmäßigkeit
-> Verhältnismäßigkeit

aa) Zweck
Hier: Gewährleistung der straßenrechtlichen Planung

bb) Geeignetheit (+)

cc) Erforderlichkeit (+)

dd) Verhältnismäßigkeit i.e.S.

  • Handlungsfreiheit vs. Planungshoheit
  1. Ergebnis: (-)

IV. Ergebnis: (-)