Feldbahnlokomotiven-Fall

A. Sachverhalt (vereinfacht)

Der Kläger war Eigentümer von sieben Feldbahnlokomotiven (Nr. 1813, 1839, 1870, 2016, 2020, 13356 und 13357), die sich im Jahre 1944 im Raume von Wilna befanden. Beim Herannahen der Russen wurden sie verladen und sollten nach Falkenburg in Pommern geschickt werden. Der Zug gelangte jedoch nach Bad Charlottenbrunn in Schlesien. Dort wurde er entladen; die dem Kläger gehörigen Lokomotiven wurden auf einem sog. “Gerätefriedhof” in Erlenbusch abgestellt.

Damals führte die Arbeitsgemeinschaft Dü./Tr./U. Arbeiten in diesem Raume aus. Sie nahm neben anderen Materialien auch die Lokomotiven des Klägers an sich und ließ sie am 12. März 1945 durch die Bahnmeisterei in Charlottenbrunn als “Dienstgut” verladen. In dem Dienstgutfrachtbrief wurde als Empfänger die Reichsbahndirektion E. und als Bestimmungsbahnhof E.-Ost angegeben. Außerdem wurde an diesem Tage eine von der Arbeitsgemeinschaft, der Organisation T. und der Bahnmeisterei in Charlottenbrunn unterzeichnete Versandanzeige gefertigt, in der der Kläger als Eigentümer der Lokomotiven 1813, 1839, 1870, 13356 und 13357 bezeichnet war; als Eigentümerin der Lokomotiven 2016 und 2020 war die Organisation T. angegeben. Wann diese Versandanzeige bei der Reichsbahndirektion E. eingegangen ist, ist streitig.

Ein Teil des Zuges mit der Lokomotive 1813 kam im August 1945 in E.-Ost an. Die Reichsbahn veräußerte sie an die Baufirma Mü. & Co.

Der Kläger verlangt von der Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn, der Deutschen Bundesbahn, den Ersatz seines Schadens, der ihm durch den Verkauf der Lokomotive 1813 entstanden ist.

B. Worum geht es?

Zunächst hat die Reichsbahn berechtigten Besitz an der Lokomotive des Klägers begründet. Sie wurde nämlich im Rahmen einer echten berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag tätig (§§ 677, 683 S. 1 BGB), als sie die Lokomotive durch die Übergabe seitens der Arbeitsgemeinschaft in Charlottenbrunn in Empfang nahm, um sie vor dem Zugriff der herannahenden sowjetischen Truppen zu schützen. Da die tätigen Beamten der Reichsbahn den Kläger in der Versandanzeige als Eigentümer angaben, begründete die Reichsbahn Fremdbesitz.

Echte, berechtigte GoA, §§ 677, 683 S. 1 BGB (Voraussetzungen)
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Das änderte sich jedoch, als die Lokomotive 1813 im August in E. eintraf. Zwar begründete die Reichsbahn dort keine neue tatsächliche Sachherrschaft, vielmehr setzte sich das bereits zuvor begründete tatsächliche Herrschaftsverhältnis fort. Allerdings übte die Reichsbahn den Besitz jetzt nicht mehr für den Eigentümer der Lok, den Kläger, aus sondern für sich selbst, weil sie das Deutsche Reich für den Eigentümer hielt. Sie begründete damit Eigenbesitz (§ 872 BGB). Weil sie ab dem Zeitpunkt ohne Fremdgeschäftsführungswillen handelte, endete die berechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag (vgl. § 687 I BGB) und zugleich ihr Recht zum Besitz. Als sie die Lokomotive veräußerte, handelte sie damit als nichtberechtigte Besitzerin, so dass sich eine Schadensersatzhaftung aus §§ 989, 990 I BGB ergeben könnte.

Nach §§ 989, 990 I 1 BGB haftet der unrechtmäßige Besitzer, wenn er „bei dem Erwerb des Besitzes“ nicht im guten Glauben war, also die fehlende Berechtigung zum Besitz wenigstens grob fahrlässig verkannt hat (§ 932 II BGB analog). Nach dem Erwerb des Besitzes schadet dem Besitzer nur noch positive Kenntnis (§ 990 I 2 BGB). Das OLG als Berufungsgericht hatte angenommen, dass die Reichsbahn bei der Umwandlung von Fremd- und Eigenbesitz (nur) grob fahrlässig gehandelt hatte, so dass die Voraussetzungen des § 990 I 2 BGB nicht vorliegen. Eine Haftung der Beklagten kommt damit nur in Betracht, wenn die Umwandlung von Fremd- in Eigenbesitz unter § 990 I 1 BGB fällt. Der BGH hatte damit die folgende Frage zu beantworten:

Stellt die Umwandlung von berechtigtem Fremd- in unberechtigten Eigenbesitz einen „Erwerb des Besitzes“ i.S.v. § 990 I 1 BGB dar?

C. Wie hat der BGH entschieden?

Der BGH bejaht in dem Feldbahnlokomotiven-Fall (Urt. v. 29.01.1959 – VII ZR 197/58 (BGHZ 31, 129 ff.) eine Haftung der Beklagten aus §§ 989, 990 I 1 BGB.

Zunächst stellt der BGH den (damaligen) Meinungsstand dar:

„Nach § 990 Abs. 1 S. 1 BGB haftet der Besitzer, der beim Erwerb des Besitzes nicht in gutem Glauben war, dem Eigentümer nach den §§ 987, 989 BGB. Es ist streitig, ob unter dem Besitzerwerb in diesem Sinne nur die erstmalige Ergreifung der Sachherrschaft zu verstehen ist, oder auch die Umwandlung berechtigten Fremdbesitzes in unberechtigten Eigenbesitz, wie sie hier in Betracht kommt. Der Bundesgerichtshof hat die Frage in dem Urteil JZ 1951, 716 berührt, ohne sie zu entscheiden. Im Schrifttum wird sie zum Teil verneint (u.a. Dietz, Anspruchskonkurrenz bei Vertragsverletzungen und Delikten S. 191 ff), oder es wird angenommen, daß für eine derartige Ausweitung kein Bedürfnis bestehe (Wolff-Raiser a.a.O. S. 329 Note 2). Andere bejahen sie (Wolff, Sachenrecht 1932 S. 290 und 294 Note 20; Soergel § 990 BGB Anm. 1; Landgericht Hof in BayerJMBl 1952, 14). In der gleichen Richtung liegt die Entscheidung des Reichsgerichts JW 1924, 1715.“

Der BGH ist der Auffassung, dass die Umwandlung berechtigten Fremd- in unberechtigten Eigenbesitzes als „Erwerb des Besitzes“ i.S.v. § 990 I 1 BGB anzusehen sei (sogenannte Aufschwungtheorie). Dafür spreche vor allem die Wesensverschiedenheit von Eigen- und Fremdbesitz:

„Das Gesetz spricht zwar in dem § 990 Abs. 1 S. 1 BGB vom “Erwerb des Besitzes” schlechthin. Das könnte darauf hindeuten, daß damit die Erlangung der tatsächlichen Gewalt gemeint ist, wie sie im § 854 BGB als Kennzeichen des Besitzerwerbs angegeben ist. Andererseits darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß das Gesetz zwei Arten des Besitzes kennt, den Fremd- und den Eigenbesitz i.S.d. § 872 BGB, die sich ihrem Wesen nach grundsätzlich voneinander unterscheiden. Auch bei der Auslegung des § 990 BGB können sie nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden; das folgt schon aus dem Grundgedanken, auf den die in dem § 990 BGB getroffene Regelung zurückzuführen ist.
Die Haftung des Besitzers wegen Eigentumsverletzung hätte auch den Bestimmungen über die unerlaubte Handlung entnommen werden können. Die sich daraus ergehende Verantwortlichkeit des redlichen Besitzers auch für leichte Fahrlässigkeit hätte aber zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt. Denn wenn dieser an sein Eigentum glaubt, dann hält er sich für berechtigt, mit der Sache nach Belieben zu verfahren; vernachlässigt oder verschleudert er sie unter solchen Umständen, dann trifft ihn nur ein “Verschulden gegen sich selbst”. Dem hat das Gesetz durch eine Sonderregelung Rechnung getragen. Es sieht vor, daß ein solcher Besitzer dem Eigentümer nur haftet, wenn der Glaube an sein Recht beim Erwerbe des Besitzes mindestens auf grober Fahrlässigkeit beruht; ist dies nicht der Fall, so kann ihm später lediglich die positive Kenntnis seiner Nichtberechtigung zum Schaden gereichen (vgl. hierzu Planck § 990 BGB Anm., 2 aβ; Wolff-Raiser a.a.O. S. 334).
Diesen Erwägungen liegt also das Verhältnis des Eigenbesitzers zum Eigentümer zugrunde; denn nur der Eigenbesitzer kann sich für befugt halten, mit der Sache nach Belieben zu verfahren. Das besagt zwar nicht, daß sich die gesetzliche Regelung nur auf ihn bezieht; vielmehr haftet unter Umständen auch der dem Eigentümer gegenüber nichtberechtigte Fremdbesitzer nach den §§ 987 ff. BGB (RGZ 101, 307, 310). In jedem Falle ist aber davon auszugehen, daß die erstmalige Erlangung der Stellung des Eigenbesitzers als “Erwerb des Besitzes” i.S.d. § 990 Abs. 1 BGB anzusehen ist.
Es ist auch nicht richtig, daß für eine solche Auslegung kein Bedürfnis bestehe, weil durch die unberechtigte Umwandlung von Fremd- und Eigenbesitz immer vertragliche Schadensersatzansprüche entständen. Der hier zu entscheidende Fall erweist das Gegenteil; denn der Kläger hatte mit der Reichsbahn keinen Vertrag geschlossen, und Forderungen aus Geschäftsführung ohne Auftrag kann er nach den bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts aus den bereits angeführten Gründen nicht erheben.“

D. Fazit

Der BGH stellt im Rahmen des § 990 BGB dem erstmaligen Besitzerwerb die spätere Umwandlung von Fremd- in Eigenbesitz gleich. Die Entscheidung ist in der Literatur vielfach besprochen und überwiegend auf Kritik gestoßen. Insbesondere wird angeführt, dass der Ausdruck „Erwerb des Besitzes“ – dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend – als Verweis auf § 854 BGB und somit als erstmalige Erlangung der tatsächlichen Sachherrschaft zu verstehen sei. Wie auch immer man zu dieser Rechtsfrage steht: Der Feldbahnlokomotiven-Fall ist ein Klassiker des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses und sollte bekannt sein, zumal auch aktuelle und prüfungsrelevante Gerichtsentscheidungen auf ihn zurückgreifen (etwa OLG Hamm, Urt. 30.10.2014 - 5 U 2/14).

Schadensersatzhaftung aus §§ 989, 990 I BGB: Verklagter bzw. bösgläubiger Besitzer
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