Examensreport: ÖR I 1. Examen aus dem Januar 2016 Durchgang in Nordrhein-Westfalen

Sachverhalt (beruht auf einem Gedächtnisprotokoll)

R hat, nachdem er ein Lehramtsstudium in Deutschland abgeschlossen hatte, längere Zeit in den USA gelebt und dort auch unterrichtet. Als er nun zurück in seine Heimat in das Bundesland L kehrt und als Lehrer arbeiten möchte, muss er feststellen, dass er zuerst seinen Vorbereitungsdienst ableisten muss. Dieser findet seinen Abschluss nach der praktischen Ausbildung an einer Schule in einem Staatsexamen. R ist der Meinung, er besäße aufgrund seiner Unterrichtserfahrung in den USA bereits ausreichend Erfahrung und stellt daher einen Antrag auf Verkürzung des Vorbereitungsdienstes nach § 7 Abs. 2 OVP (siehe Anhang), der von der zuständigen Bezirksregierung der Stadt K positiv beschieden wird. Daraufhin wird der Vorbereitungsdienst des R um 6 Monate verkürzt. Nach 3 Monaten Vorbereitungsdienst wird R durch die Bezirksregierung unter Hinweis auf § 29 Abs. 2 OVP erinnert, sich rechtzeitig zum Staatsexamen anzumelden. R kann es kaum fassen, hat er doch mit den Vorbereitung für die anspruchsvolle Examensprüfung noch nicht einmal begonnen. R beantragt daher bei der zuständigen Bezirksregierung den Bescheid zur Verkürzung des Vorbereitungsdienstes wieder aufzuheben. Er trägt - zutreffend – vor, dass dies der Organisation des Vorbereitungsdienstes und der Prüfung nicht entgegenstehe. Die Konsequenzen d des Vorbereitungsdienstes auf den Zeitpunkt des Staatsexamens sei ihm nicht klar gewesen. Hätte R diese gekannt, hätte er den Antrag nicht gestellt und wolle an dem Antrag auf Verkürzung nicht länger festhalten.

Die Bezirksregierung lehnt den Antrag auf Aufhebung des Bescheids allein aus „grundsätzlichen Erwägungen“ ohne Befassung mit dem Einzelfall ab.

Frage 1:
Hat R einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides über die Verkürzung des Vorbereitungsdienstes?

Nachdem R den Frust über die Entscheidung der Bezirksregierung mithilfe von Alkohol beinahe vergessen hat, ist er am 01.03.2015 gegen 04:00 Uhr morgens mit einer BAK von 1,0 Promille so stark alkoholisiert, dass er statt des Autos ein Taxi nach Hause nimmt. Während der Fahrt gerät er mit dem Fahrer T so stark in Streit, dass T den R aus dem Wagen verweist. T weigert sich auszusteigen. Kurzerhand zerrt T den R in der Innenstadt von der Stadt K aus dem Taxi. R gelingt es dabei aber, sich die Autoschlüssel des T zu greifen, sodass T nicht weiterfahren kann. Außerdem ruft R die Polizei um den T zu „melden“.

Die zwei eintreffenden Polizisten wollen den t zu den Geschehnissen befragen, doch der R verhält sich äußerst aggressiv und verhindert durch lautes Schreien eine Sachverhaltsaufklärung durch die Beamten. Trotz mehrerer Versuche gelingt es nicht, den R zu beruhigen. Daher weisen sie ihn an, sich 30 Meter zu entfernen. R fährt unbekümmert mit seinem Verhalten fort und brüllt sogar die beiden Polizeibeamten an, sie sollen „nicht rumquatschen“, sondern seine Anzeige aufnehmen. Dabei gestikuliert er wild und unkontrolliert. Die Polizeibeamten wiederholen mehrfach die Aufforderung, sich zu entfernen, der R aber keine Folge leistet. Dem fortlaufend und laut schimpfenden R drohen sie schließlich an, man werde ihn in das Einsatzfahrzeug sperren. So geschieht es dann auch und R wird - begleitet von dem Jolen einer aufmerksam geworden Menschenmenge - unter heftiger Gegenwehr von den Polizeibeamten zum Einsatzfahrzeug gezerrt und dort eingesperrt, um ihn daran zu hindern, zurückzukehren und die Befragung des T weiterhin zu stören. Die Polizeibeamten nehmen sodann die Aussage des T, sowie dessen Personalien auf und notieren die Anzeige von R. Anschließend lassen sie T weiterfahren.

Unter Protest bringen die Polizeibeamten den R anschließend in das Polizeipräsidium der Stadt K, wo R in ein Gewahrsamsraum verbracht wird, da die Polizeibeamten befürchteten, er könne bei Freilassung „randalieren“ bzw. sich selbst verletzen. Die Befürchtung bestand aufgrund der polizeilichen Erfahrung, dass alkoholisierte Personen dies gelegentlich tun. 4 Stunden später und nach einer Reduzierung seines Alkoholisierungsgrades wird R aus dem Gewahrsam entlassen. Eine richterliche Entscheidung war bis zur Entlassung von R nicht herbeizuführen, da kein zuständige Richter erreichbarer war. R ist über die Behandlung durch die Polizei empört und möchte Rechtsmittel gegen sämtliche Maßnahmen der Polizei, hier nämlich die Entfernungsanordnung, das Verbringen zum Einsatzfahrzeug, sowie das Festhalten auf dem Polizeipräsidium einlegen. Am 01.05.2015 erhebt R Klage vor dem örtlich zuständigen Verwaltungsgericht.

Frage 2:

Wird die Klage des R Erfolg haben?

R hätte am 01.03.2015 einen Termin als Nachhilfelehrer in Frankfurt am Main wahrnehmen sollen, bei dem er - nach Abzug aller Kosten – ein Honorar von 150 € erhalten hätte. Hieran war er - was zu unterstellen ist - allein durch den Gewahrsam im Polizeipräsidium gehindert, da er seinen Zug nach Frankfurt am Main nicht mehr erreichen konnte. Hierfür begehrt er Schadenersatz. Außerdem meint er, ihm stehe ein Schmerzensgeldanspruch zu.

Frage 3:

Steht R gegen das Land L ein Anspruch auf Schadenersatz in Höhe von 150 € und Schmerzensgeld zu? Welches Gericht ist für eine Klage des R sachlich zuständig?

Bearbeitervermerk: Es ist auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen gegebenenfalls hilfsgutachterlich einzugehen. Zudem ist davon auszugehen, dass die zeitlich begrenzte Erreichbarkeit der Richter im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden ist.

Anhang:

Ordnung
des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungsdienstes und der Staatsprüfung - OVP)

 - § 7
Dauer des Vorbereitungsdienstes

(1) Der Vorbereitungsdienst dauert 18 Monate.

(2) Von Amts wegen sind Zeiten eines für das angestrebte oder ein vergleichbares Lehramt geleisteten Vorbereitungsdienstes anzurechnen. Auf Antrag können Zeiten einer beruflichen Tätigkeit, die nach Art und Umfang geeignet ist, die für das angestrebte Lehramt erforderlichen Fähigkeiten zu vermitteln, auf den Vorbereitungsdienst angerechnet werden. Es sind jedoch mindestens zwölf Monate zu leisten. {…}

 - § 29
Prüfungszeit
(1) {...}
(2) Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter sind verpflichtet, sich im letzten Monat vor Beginn des letzten Halbjahres ihrer Ausbildung schriftlich beim Prüfungsamt zur Prüfung zu melden. Mit Eingang ihrer Meldung im Prüfungsamt sind sie in die Prüfung eingetreten. Mit der Meldung ist ein etwaiger Vorschlag einer Prüferin oder eines Prüfers nach § 31 Abs. 2 S. 1 zu verbinden. Das Prüfungsamt informiert über die Folgen des Eintritts in das Prüfungsverfahren.
{...}

Unverbindliche Lösungsskizze

Frage 1: Anspruch auf Aufhebung des Verkürzungsbescheides

I. Anspruchsgrundlage
-> Widerruf, § 49 I VwVfG NW
-> Schutznormtheorie: § 49 VwVfG will nicht nur die Allgemeinheit schützen, sondern auch Individualinteressen.

II. Formelle Voraussetzungen
-> Antrag bei der zuständigen Behörde (+)

III. Materielle Voraussetzungen

  1. Rechtmäßigkeit des ErstVA (=Verkürzungsbescheid)

a) Ermächtigungsgrundlage: § 7 II 2 OVP

b) Formelle Rechtmäßigkeit (+)

c) Materielle Rechtmäßigkeit

aa) Voraussetzungen

(1) Zeiten einer beruflichen Tätigkeit (+)

(2) Eignung, die erforderlichen Fähigkeiten zu vermitteln (+)

(3) Minimale Dauer: 12 Monate (+)

bb) Rechtsfolge: Ermessen (+)

  1. Begünstigender ErstVA
    Hier: Verkürzung des Vorbereitungsdienstes prinzipiell günstig für R

  2. Keine Ausnahme: Gleicher VA nicht nochmal (+)

  3. Rechtsfolge: Ermessen („kann“)
    Hier: Zumindest Ermessensfehler in Gestalt eines Ermessenausfalls bzw. einer Ermessensunterschreitung; Arg.: keine Befassung mit dem Einzelfall -> Evtl. Ermessenreduzierung auf Null: Kein Einfluss auf Organisation des Vorbereitungsdienstes/der Prüfung; keine Kenntnis des R von den Konsequenzen der Verkürzung für den Prüfungstermin.

Frage 2: Erfolgsaussichten der Klage des R

1. Teil: Entfernungsanordnung

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 VwGO

  1. ÖR Streitigkeit
    Hier: § 34 PolG NW

  2. Nichtverfassungsrechtlicher Art (+)

  3. Keine abdrängende Sonderzuweisung
    -> § 23 EGGVG (-); Arg.: schwerpunktmäßig präventives Polizeihandeln

II. Statthafte Klageart
-> § 113 I 4 VwGO analog („erweiterter Fortsetzungsfeststellungsklage“)

  1. VA
    Hier: Entfernungsanordnung

  2. Erledigung
    Hier: Vollzug

  3. Zeitpunkt der Erledigung

  • Eigentlich: Nach Klageerhebung; Arg: Systematik
  • Bei Erledigung vor Klageerhebung: § 113 I 4 VwGO analog; Arg.: Vergleichbarkeit; Feststellungsklage lässt im Übrigen keine Feststellungen bzgl. der Rechtswidrigkeit eines VA zu.

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

  1. Fortsetzungsfeststellungsinteresse
    Hier: Rehabilitationsinteresse

  2. Klagebefugnis, § 42 II VwGO (analog)
    Hier: zumindest Art. 2 I GG

  3. Erfolgloses Vorverfahren, §§ 68 ff. VwGO (analog)

  • Problem: Erforderlichkeit
  • aA: (+); Arg.: Sinn und Zweck des Vorverfahrens (Selbstkontrolle)
  • hM: (-); Arg.: Sinn und Zweck des Vorverfahrens (Selbskorrektur)
  • In NRW: Ohnehin entbehrlich, § 110 I JustG
  1. Klagefrist, § 74 I 2 VwGO (analog)
  • Problem: Erforderlichkeit
  • aA: 1 Jahr
  • hM: keine Frist
  1. Klagegegner, § 78 I Nr. 1 VwGO analog
    Hier: Land NRW als Rechtsträger der Polizei

IV. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen (+)

B. Begründetheit

I. Rechtswidrigkeit des VA (= Entfernungsanordung)

  1. Ermächtigungsgrundlage
    Hier: Platzverweis, § 34 PolG NW

  2. Formelle Rechtmäßigkeit (+)

  3. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage

aa) Schutzgut
Hier: Staat und seine Einrichtungen bzw. geschriebenes Recht (Behinderung der Befragung eines Zeugen durch die Polizei).

bb) Gefahr
(+); Arg.: Fortsetzung der Störungen hinreichend wahrscheinlich.

cc) Polizeipflichtigkeit
Hier: Verhaltensstörer, § 4 PolG

b) Rechtsfolge: Ermessen
Hier: Ermessensfehler nicht ersichtlich, insbesondere war die Maßnahme auch verhältnismäßig.

II. Ergebnis: (-)

C. Ergebnis: (-)

2. Teil: Verbringung in das Einsatzfahrzeug

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg
Hier: §§ 50 ff. PolG

II. Statthafte Klageart

  1. § 113 I VwGO analog
  • Problem: Rechtsnatur von Vollstreckungsmaßmen
  • aA: konkludenter DuldungsVA
  • hM: nur Realakt; Arg.: Konstruktion eines DuldungsVA „künstlich“ und nicht erforderlich
  1. Feststellungsklage, § 43 VwGO
    (+); Arg.: Es geht um die Feststellung der Berechtigung der Polizei, in diesem konkreten Sachverhalt auf Grundlage der §§ 50 ff. PolG den R in das Einsatzfahrzeug zu verbringen.

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

  1. Feststellungsinteresse, § 43 I VwGO (+)

  2. Klagebefugnis, § 42 II VwGO analog (+)

  3. Keine Subsidiaritat, § 43 II VwGO (+)

  4. Klagegegner
    -> Rechtsträger: Land NRW

IV. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen (+)

B. Begründetheit
Die Feststellungsklage ist begründet, wenn das Rechtsverhältnis nicht bestand, also das Land (die Polizei) nicht berechtigt war, den R in das Einsatzfahrzeug zu verbringen.

I. Ermächtigungsgrundlage
Hier: Mehraktiges Vollstreckungsverfahren, § 50 I PolG

II. Formelle Rechtmäßigkeit

  1. Zuständigkeit (+)

  2. Verfahren, § 28 VwVfG

  • Anhörung nicht erforderlich; Arg.: Vollstreckungsmaßnahme kein VA (s.o.)
  1. Form
  • Formfrei

III. Materielle Rechtmäßigkeit

  1. Vorliegen der Vollstreckungsvoraussetzungen

a) GrundVA
Hier: Entfernungsanordnung

b) Wirksamkeit (+)

c) Vollstreckbarkeit
Hier: § 80 II 1 Nr. 2 VwGO

d) Rechtmäßigkeit des GrundVA

  • Problem: Erforderlichkeit
  • Hier: GrundVA rechtmäßig (s.o.)
  1. Vollstreckungspflichtigkeit (+)

  2. Ordnungsgemäße Durchführung

a) Zulässiges Zwangsmittel
Hier: Unmittelbarer Zwang, §§ 51 I Nr. 3, 55 PolG NW

b) Androhung, § 61 PolG NW (+)

c) Verhältnismäßigkeit (+)

IV. Ergebnis: (-)

C. Ergebnis: (-)

3. Teil: Festhalten auf Polizeipräsidium

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg

  1. ÖR Streitigkeit
    Hier: § 35 PolG NW

  2. Nichtverfassungsrechtlicher Art (+)

  3. Keine abdrängende Sonderzuweisung
    -> § 36 II 1 PolG (-); Arg.: betrifft nur richterliche Anordnung

II. Statthafte Klageart
-> Feststellungsklage, § 43 I VwGO; Arg.: Festhalten nur Realakt (a.A. vertretbar – konkludenter DuldungsVA – s.o.).

III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen (+)

IV. Allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen (+)

B. Begründetheit

I. Ermächtigungsgrundlage
Hier: Ingewahrsamnahme, § 35 PolG

II. Formelle Rechtmäßigkeit
-> Besondere Anforderungen der §§ 36 ff. PolG. Richterliche Anordnung gem. § 36 I 2 PolG entbehrlich.

III. Materielle Rechtmäßigkeit

  1. Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage
    -> Gefahr für Person selbst (Nr. 1) oder Schutzgüter anderer (Nr. 2) (-); Arg.: abstrakte Gefahr nicht ausreichend (kommt „gelegentlich“ vor).

  2. Ergebnis: (-)

IV. Ergebnis: (+)

C. Ergebnis: (+)

Frage 3: Schadensersatzansprüche des R

A. Amtshaftung, § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG

I. Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes
Hier: Ingewahrsamnahme

II. Verletzung einer drittbezogenen Amtspflicht
Hier: Ingewahrsamnahme rechtswidrig (s.o.)

III. Verschulden (+)

IV. Rechtsfolge: Schadensersatz, §§ 249 ff. BGB

  • Entgangener Gewinn (+), § 252 BGB
  • Schmerzensgeld (+), § 253 I, II BGB („Freiheit“)

V. Kein Ausschluss (+)

VI. Ergebnis: (+)
-> Rechtsweg/sachliche Zuständigkeit: Ordentliche Gerichte/Landgericht, § 40 II VwGO; Arg.: Art 34 S. 3 GG, § 71 II Nr. 2 GVG

B. § 67 PolG i.V.m. § 39 I lit. b OBG (+)
-> Rechtsweg: Ordentliche Gerichte/Landgericht, § 40 II VwGO; § 43 I PolG; § 71 II Nr. 2 GVG