BVerwG: Anspruch eines IHK-Mitglieds auf Austritt seiner Kammer aus einem Dachverband

A. Sachverhalt

Die K-GmbH (K) ist ein Unternehmen zur Planung und Errichtung von Windenergieanlagen und kraft Gesetzes Mitglied der Industrie- und Handelskammer X (IHK), die ihrerseits Mitglied im Deutschen Industrie- und Handelskammertag e.V. (DIHK) ist. Der DIHK verfolgt als privatrechtlich organisierter Dachverband der deutschen Industrie- und Handelskammern nach § 1 I seiner Satzung unter anderem den Zweck, in allen das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft im Bereich des DIHK betreffenden Fragen einen gemeinsamen Standpunkt der Industrie- und Handelskammern auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene gegenüber der Politik, der Verwaltung, den Gerichten und der Öffentlichkeit zu vertreten. § 1 III der Satzung stellt klar, dass die Behandlung allgemeinpolitischer, insbesondere parteipolitischer Fragen nicht zur Zuständigkeit des DIHK gehört. § 4 I der Satzung lautet:

„Die Mitgliedschaft in dem DIHK kann mit halbjähriger Frist zum Ende eines Geschäftsjahres gekündigt werden. Die Kündigung hat schriftlich zu erfolgen und ist an den DIHK zu richten.“

Der DIHK äußert sich wiederholt in Publikationen wie einem eigenen Newsletter oder durch seinen Präsidenten auch zu allgemein- und/oder bildungspolitischen Themen oder zu Themen sozial-und arbeitsrechtlicher Natur. In einer Pressemitteilung und in weiteren Veröffentlichungen äußert sich der DIHK auch zur Klimapolitik, namentlich gegen die weitere Erhöhung des Marktanteils von erneuerbaren Energien, gegen den Ausstieg aus der Kernenergie und gegen die Umsetzung des Kyoto-Protokolls.

Weil er darin Kompetenzüberschreitungen und die Verletzung eigener wirtschaftlicher Interessen erblickt, fordert K die IHK auf, ihren Austritt aus dem DIHK zu erklären. Die IHK dürfe sich nur im Rahmen der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben betätigen und keinen Vereinigungen angehören, die jenseits dieses Aufgabenbereichs tätig seien.

Die IHK lehnt einen Austritt ab. Die Stellungnahmen des DIHK zur Energiepolitik gingen nicht über den Aufgabenkreis der Mitgliedskammern hinaus. Wenn bei der Ermittlung des Gesamtinteresses kein vollständiger Interessenausgleich möglich sei, dürfe auch eine Position vertreten werden, die den Interessen einer bestimmten Mitgliedergruppe zuwiderlaufe. Den Veröffentlichungen lägen Grundsatzbeschlüsse der Vollversammlung des DIHK oder seines Vorstandes zugrunde. Im Übrigen sei der DIHK als Privatrechtssubjekt nicht an Verfassungsrecht gebunden.

K erhebt Klage und begehrt, die IHK zu verurteilen, ihren Austritt aus dem DIHK zu erklären.

Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?

B. Die Entscheidung des BVerwG (Urt. v. 23.03.2016 – 10 C 4.15)

Das VG wird der Klage stattgeben, soweit der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist und die Klage zulässig und begründet ist.

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges

Der Verwaltungsrechtsweg ist gem. § 40 I VwGO eröffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art handelt. Öffentlich-rechtlich ist die Streitigkeit, wenn die streitentscheidenden Normen dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind. K begehrt von der IHK, bei der es sich um eine Körperschaft öffentlichen Rechts handelt (§ 3 I IHKG) und dessen (Pflicht-)Mitglied kraft Gesetzes K ist (§ 2 I IHKG), die Abgabe einer Kündigungserklärung gegenüber dem DIHK (§ 4 I der Satzung). Der DIHK ist ein privatrechtlich organisierter Verein i.S.v. § 21 BGB. Bei der Kündigungserklärung handelt es sich damit um eine privatrechtliche Willenserklärung. Ob K der behauptete Anspruch auf Abgabe einer solchen Willenserklärung zusteht, bestimmt sich nach dem mitgliedschaftlichen Verhältnis zwischen K und der IHK, das sich nach dem IHKG bestimmt und öffentlich-rechtlich ausgestaltet ist. Damit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

II. Zulässigkeit der Klage

K begehrt von der IHK den Austritt aus dem DIHK. Ihr Begehren ist nicht auf den Erlass eines Verwaltungsaktes gerichtet, sondern auf die Abgabe einer Willenserklärung (§ 4 I der Satzung). Damit ist nicht eine Verpflichtungsklage (42 I Alt. 2 VwGO), sondern die allgemeine Leistungsklage statthaft. Diese ist zwar nicht ausdrücklich in der VwGO geregelt, ihre Existenz wird aber in zahlreichen Vorschriften der VwGO vorausgesetzt (§§ 43 II, 111, 113 IV VwGO). K kann geltend machen, durch eine mögliche Überschreitung der der IHK gesetzlich gesetzten Grenzen jedenfalls in ihrem Grundrecht aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 19 III GG verletzt zu sein, weswegen sie klagebefugt ist (§ 42 II VwGO analog). Eines Vorverfahrens i.S.d. §§ 68 ff. VwGO oder der Einhaltung einer Klagefrist (§ 74 VwGO) bedarf es nicht. Die Klage ist damit zulässig.

III. Begründetheit der Klage

Die Klage ist begründet, soweit K ein Anspruch auf Abgabe der begehrten Kündigungserklärung zusteht.

1. Anspruchsgrundlage

Eine ausdrücklich gesetzlich festgeschriebene Anspruchsgrundlage existiert nicht – auch nicht im IHKG. In Betracht kommt daher nur ein Anspruch, der sich unmittelbar aus den Grundrechten herleiten lässt.

a) Vereinigungsfreiheit (Art. 9 I GG)

Bekanntlich geht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die (negative) Vereinigungsfreiheit nicht vor einer Pflichtmitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft schütze. Begründet wird dies damit, dass ein „Verein“ i.S.v. Art. 9 I GG nur freiwillige Zusammenschlüsse erfasse. Zudem ergebe sich dies aus der Entstehungsgeschichte der Norm. So hat das BVerfG in einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 ausgeführt:

„Art. 9 I GG schützt nicht vor einer gesetzlich angeordneten Eingliederung in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft (…).

Der Schutz der Vereinigungsfreiheit greift ein, wenn es um einen privatrechtlichen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen geht, der auf Dauer angelegt ist, auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt, zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks konstituiert ist und eine organisierte Willensbildung aufweist (…). Damit ist das Element der Freiwilligkeit für den in Art. 9 I GG verwandten Vereinsbegriff konstituierend. Vereinigungen, die ihre Entstehung und ihren Bestand nicht grundrechtsinitiierter Freiwilligkeit verdanken - wie hier die Industrie- und Handelskammer -, unterfallen daher von vornherein nicht dem Vereinsbegriff des Art. 9 I GG.

Auch aus der Entstehungsgeschichte folgt, dass Art. 9 I GG nicht i.S.e. umfassenden Fernbleiberechts gegenüber öffentlich-rechtlichen Verbänden verstanden werden kann.

Schon im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee wurde der Vorschlag der Ergänzung der Vereinigungsfreiheit um eine Regelung, dass niemand solle gezwungen werden dürfen, sich einer Vereinigung anzuschließen, abgelehnt. Die Ablehnung gründete sich auf die möglicherweise bestehende Notwendigkeit, auch künftig Angehörige bestimmter Berufe in öffentlich-rechtlichen Organisationen verpflichtend zusammenzufassen (…). Auf dieser eindeutigen Stellungnahme bauen die Beratungen des Parlamentarischen Rats auf. Dieser trennte die allgemeine Vereinigungsfreiheit von den arbeitsverfassungsrechtlichen Problemen, fasste aber beide Aspekte der Vereinigungsfreiheit in einen Artikel, wobei nur für die Koalitionsfreiheit ein ausdrückliches Fernbleiberecht diskutiert wurde (…). Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats war in dieser Diskussion die Existenz berufsständischer Zwangszusammenschlüsse bewusst. Diesen alten Traditionszusammenhang wollten sie weder unterbrechen noch aufheben, sonst hätte dies besonders zum Ausdruck gebracht werden müssen.

Wenn vom BVerfG der Schutzbereich des Art. 9 I GG in ständiger Rechtsprechung auf das Recht ausgedehnt wird, einer Vereinigung fernzubleiben (…), so reicht dieser Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit daher nicht weiter als der Schutzbereich der positiven Gewährleistung. Den Bürgerinnen und Bürgern ist die Freiheit garantiert, sich auf freiwilliger Basis zusammenzuschließen, und der Staat darf nicht andere Bürger zwingen, sich diesem freiwilligen Zusammenschluss anzuschließen.“ (Kammerbeschl. v. 07.12.2001 – 1 BvR 1806/98)

Der Schutzbereich des Art. 9 I GG ist damit nicht eröffnet; auf Art. 9 I GG kann sich K damit nicht berufen.

b) Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)

Auch die Berufsfreiheit nach Art. 12 I GG sei nicht einschlägig. Die Zwangsmitgliedschaft sei kein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit, da der Mitgliedschaft die berufsregelnde Tendenz fehle. Dies hat das BVerfG bereits 1962 entschieden:

„Auch Art. 12 I GG ist nicht berührt. Die Zugehörigkeit zur Industrie- und Handelskammer ist eine einfache Folge der Ausübung eines bestimmten Berufs. Mit ihrer Anordnung hat der Gesetzgeber weder die Art und Weise der Ausübung des Berufs geregelt noch eine berufspolitische Tendenz verfolgt.“ (Beschl. v. 19.12.1962 - 1 BvR 541/57)

c) Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG)

Das BVerwG leitet – in Übereinstimmung mit dem BVerfG – einen Anspruch auf Abwehr „unnötiger“ öffentlich-rechtlicher Zwangsverbände aus Art. 2 I GG i.V.m. – soweit es sich wie hier um eine inländische juristische Person handelt – Art. 19 III GG her. Überschreitet der öffentlich-rechtliche Zwangsverband, dessen Errichtung am Maßstab des Art. 2 I GG zu messen ist und der seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung im Wesentlichen in der Repräsentation der Interessen seiner Mitglieder findet (vgl. hier § 1 I IHKG), seine ihm gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen, greift er ohne die dafür erforderliche Rechtsgrundlage in dieses Grundrecht seiner Mitglieder ein. Zwangsmitglieder können diese Kompetenzüberschreitung dann auf der Grundlage von Art. 2 I GG abwehren:

„Die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG gibt dem Grundrechtsträger das Recht zur Abwehr “unnötiger” Zwangsverbände. Die Begründung und die Ausgestaltung der Pflichtmitgliedschaft in einem solchen Verband müssen durch formelles Gesetz gedeckt und verhältnismäßig sein. Das gilt auch für die Pflichtmitgliedschaft in der Industrie- und Handelskammer. (…) Überschreitet die Kammer die ihr verfassungskonform zugewiesenen Kompetenzen, greift sie ohne gesetzliche Grundlage in die allgemeine Handlungsfreiheit ihrer Pflichtmitglieder ein. Diesen gibt Art. 2 I GG das Recht, Kompetenzüberschreitungen der Kammer abzuwehren, und zwar unabhängig davon, ob sie durch die Kompetenzüberschreitung einen darüber hinausgehenden rechtlichen oder faktischen Nachteil erleiden (BVerfG, Kammerbeschl. v. 07.12.2001 - 1 BvR 1806/98 - NVwZ 2002, 335 <337>; BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 1 C 29.99 - BVerwGE 112, 69 <72> und v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - NVwZ-RR 2010, 882 Rn. 21).“

2. Voraussetzungen der Anspruchsgrundlage

Ein Anspruch auf Austritt aus dem DIHK aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 19 II GG wäre damit grundsätzlich erfüllt, wenn die IHK durch die Mitgliedschaft im DIHK ihre gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen überschreiten würde. Die Besonderheit des Falles liegt also darin, dass K „seiner“ IHK keine unmittelbare, sondern – über den DIHK – eine mittelbare Kompetenzüberschreitung vorwirft. Die Bindung der IHK an die gesetzlichen Kompetenzzuweisungen und -grenzen gilt uneingeschränkt aber auch dann, wenn sie sich – gemeinsam mit anderen Kammern – für die gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung eines privatrechtlich organisierten Dachverbandes bedient. Zwar werden die Aufgaben eines solchen Verbandes selbst - im Unterschied zu denen seiner Mitgliedskammern - nicht durch § 1 I IHKG geregelt und begrenzt. Die an die Kompetenzregelung gebundenen Kammern dürfen sich aber an dem Verband nur beteiligen, wenn dessen Tätigkeit sich im Rahmen der ihnen gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen hält. Das gilt unabhängig davon, ob der Zusammenschluss selbst mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet ist oder nicht:

„Ein solcher Zusammenschluss erweitert allerdings nicht die Kompetenzen der einzelnen Mitgliedskammern. Diese dürfen auch gemeinschaftlich keine anderen als die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben wahrnehmen. Sie dürfen dem Dachverband mangels gesetzlicher Ermächtigung zur Aufgabendelegation keine eigenen Aufgaben übertragen. Vielmehr bleiben sie selbst für die Aufgabenerledigung zuständig und dafür verantwortlich, dass die Verbandstätigkeit die Grenzen der Kammerkompetenz wahrt.

Für die Tätigkeit eines Verbandes mit eigener Rechtspersönlichkeit (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 1 C 29.99 - BVerwGE 112, 69 <72>) gilt das ebenso wie für einen nicht rechtsfähigen Verband (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - NVwZ-RR 2010, 882, Rn. 21). Die Kammern können sich ihrer grundrechtlichen Bindung an Art. 2 I GG und ihrer gesetzlichen Bindung an die Kompetenzregelung des § 1 I IHKG auch dann nicht durch einen Zusammenschluss entledigen, wenn dieser rechtlich verselbständigt ist. Sie dürfen sich daher nicht an einer juristischen Person des Privatrechts beteiligen, die satzungsgemäß Aufgaben jenseits der Kammerkompetenzen wahrnimmt. Ebenso wenig dürfen sie einem Verband angehören, der sich trotz kompetenzkonformer satzungsrechtlicher Aufgabenzuweisung jenseits des Kompetenzrahmens der Kammern betätigt. In diesem Fall läge ein faktischer Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit der Pflichtmitglieder der dem Verband angehörenden Kammern vor, der mangels gesetzlicher Grundlage verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt wäre. Für die Beurteilung, ob die Tätigkeit eines Zusammenschlusses noch von der Kompetenz seiner Mitgliedskammern gedeckt wird, ist daher nicht allein auf die satzungsrechtlichen Aufgaben des Verbandes, sondern auch auf dessen faktisches Handeln abzustellen (…).“

Ein Anspruch käme damit in Betracht, wenn es der IHK bereits untersagt wäre, dem DIHK überhaupt beizutreten (dazu unter a)), mit der Mitgliedschaft eine unzulässige, da gesetzlich nicht vorgesehene, Aufgabendelegation von der IHK an den DIHK verbunden wäre (dazu unter b)), der DIHK satzungsmäßige Aufgaben wahrnehmen würde, die die Kompetenzen der IHK überschreiten (dazu unter c)) oder der DIHK tatsächlich Tätigkeiten ausüben würde, die seine und zugleich die Kompetenzen der IHK überschreiten (dazu unter d)).

a) Verbot eines Beitritts zum DIHK

Das BVerwG stellt klar, dass sich die IHK grundsätzlich auch an (privatrechtlichen) Zusammenschlüssen beteiligen darf:

„Das den Kammern gesetzlich verliehene Selbstverwaltungsrecht (§§ 1, 4 IHKG) gestattet es ihnen, zur gemeinsamen Wahrnehmung des Gesamtinteresses ihrer Mitglieder einen privatrechtlich organisierten Dachverband zu gründen und sich an einem solchen Verband zu beteiligen, wenn die Rechtsgrenzen der Kammertätigkeit gewahrt bleiben. § 10 IHKG steht dem nicht entgegen. Er ermächtigt zur Kooperation bei der Erfüllung von Hoheitsaufgaben, ohne einen privatrechtlichen Zusammenschluss zur Wahrnehmung anderer Aufgaben zu hindern.“

b) Unzulässige Aufgabendelegation an den DIHK

Das BVerwG sieht keine unzulässige Aufgabendelegation an den DIHK:

„Eine Aufgabendelegation hat nicht stattgefunden. Die Beklagte und die übrigen Mitgliedskammern des DIHK sind weiterhin für alle den Kammern gesetzlich übertragenen Aufgaben zuständig. Sie bedienen sich des Dachverbandes nur zur gemeinschaftlichen Erfüllung der Aufgabe, das Gesamtinteresse der ihnen jeweils zugehörigen Gewerbetreibenden in Angelegenheiten, die mehr als einen Kammerbezirk betreffen, gegenüber nationalen und supranationalen Stellen wahrzunehmen. Das ergibt sich aus § 1 der DIHK-Satzung. Das Berufungsgericht hat diese irrevisible Bestimmung ohne Verstoß gegen revisibles Recht dahin verstanden, dass nicht die Zuständigkeit für die Gesamtinteressenwahrnehmung auf den Dachverband verlagert wird, sondern dieser nur bestimmte Tätigkeiten zur Erfüllung dieser Aufgabe seiner Mitgliedskammern übernimmt.“

c) Kompetenzüberschreitung durch satzungsmäßige Aufgaben des DIHK

Die zentrale Kompetenznorm § 1 I IHKG weist den Industrie- und Handelskammern die Aufgabe zu, das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen, für die Förderung der gewerblichen Wirtschaft zu wirken und dabei die wirtschaftlichen Interessen einzelner Gewerbezweige oder Betriebe abwägend und ausgleichend zu berücksichtigen. Da es ihnen nach § 1 I Hs. 2 IHKG ausdrücklich auch obliegt, durch Vorschläge, Gutachten oder Berichte die Behörden zu unterstützen und zu beraten und diese Aufzählung nicht abschließend ist („insbesondere“), sind ihnen auch Äußerungen gegenüber regionalen, aber auch nationalen und supranationalen Stellen erlaubt. Die Entscheidungen dieser Stellen können nämlich auch immer die Interessen der Mitglieder der Kammern auf regionaler Ebene betreffen.

Das Äußerungsrecht der Industrie- und Handelskammern ist aber in zweierlei Hinsicht beschränkt. Zunächst sind nur Äußerungen erlaubt zu Sachverhalten, die spezifische Auswirkungen auf ihre jeweiligen Mitglieder haben können; ein allgemeinpolitisches Mandat hat die IHK nicht. Zudem muss die IHK immer das Gesamtinteresse i.S.v. § 1 I IHKG wahrnehmen:

„§ 1 I IHKG erlaubt den Kammern allerdings nur Äußerungen zu Sachverhalten, die spezifische Auswirkungen auf die Wirtschaft im jeweiligen Kammerbezirk haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - BVerwGE 137, 171 Rn. 23 ff., 30 f.). Dagegen genügt nicht, dass die Folgen einer politischen Entscheidung in irgendeiner weiteren Weise auch die Wirtschaft berühren oder dass die Gewerbetreibenden im Kammerbezirk davon ebenso betroffen sind wie Andere (BVerwG, Urt. v. 19.09.2000 - 1 C 29.99 - BVerwGE 112, 69 <74 f.> und v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - BVerwGE 137, 171 Rn. 24, 30 ff.). Der erforderliche spezifische Wirtschaftsbezug muss sich aus der Äußerung selbst, ihrer Begründung oder ihrem textlichen Zusammenhang ergeben (BVerwG, Urt. v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - BVerwGE 137, 171 Rn. 31). Er muss umso genauer dargelegt werden, je weniger offenkundig er ist. Die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen fällt nach dem eindeutigen Wortlaut des § 1 V IHKG nicht in die Zuständigkeit der Kammern. Diese Interessenvertretung ist Gegenstand der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger sowie der grundrechtlich geschützten Tätigkeit freiwilliger Vereinigungen wie etwa der freien Wohlfahrtsverbände und der Tarifpartner.

Aus § 1 I IHKG ergeben sich auch Vorgaben für die Art und Weise der Gesamtinteressenwahrnehmung. Aus der Verpflichtung, die Interessen der Kammermitglieder und der verschiedenen Branchen und Betriebe abzuwägen und auszugleichen, folgt die Pflicht, das Gesamtinteresse innerhalb der jeweiligen Kammer grundsätzlich im Prozess repräsentativer Willensbildung durch die Vollversammlung zu ermitteln und dabei die satzungsrechtlichen Verfahrensregeln zu beachten (vgl. § 4 I S. 1 IHKG; BVerwG, Urt. v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - BVerwGE 137, 171 Rn. 34 f.). Die Aufgabe, die Behörden durch die Darstellung des Gesamtinteresses in Vorschlägen, Gutachten oder Berichten zu unterstützen und zu beraten, verlangt von den Kammern, bei allen Äußerungen Objektivität und die notwendige Sachlichkeit und Zurückhaltung zu wahren. Polemisch überspitzte Äußerungen oder Stellungnahmen, die auf eine emotionalisierte Konfliktaustragung zielen, sind unzulässig. Äußerungen zu besonders umstrittenen Themen müssen die nach § 1 I IHKG erforderliche Abwägung erkennen lassen. Bei Mehrheitsentscheidungen sind gegebenenfalls beachtliche Minderheitenpositionen darzustellen (vgl. BVerwG, Urteil v. 23.06.2010 - 8 C 20.09 - BVerwGE 137, 171 Rn. 32 f.). Dazu zählen nicht nur Minderheitsauffassungen, die von einem beachtlichen Teil der Stimmen vertreten werden, sondern auch Positionen partikulärer Wirtschaftsstrukturen, etwa einer Gruppe von Branchen, von regionalen Wirtschaftszweigen oder von Betrieben einer bestimmten Größenordnung.“

Nach Ansicht des BVerwG erfüllt die Satzung des DIHK diese Anforderungen:

„§ 1 der DIHK-Satzung übernimmt mit dem Rechtsbegriff des Gesamtinteresses (§ 1 I IHKG) die durch diesen gezogenen, soeben dargestellten Grenzen zulässiger Interessenwahrnehmung. Das schließt das Verbot einer Vertretung sozialpolitischer oder arbeitsrechtlicher Interessen gemäß § 1 V IHKG mit ein, da diese Vorschrift das nach § 1 I IHKG wahrzunehmende Gesamtinteresse einschränkend konkretisiert. § 1 III der Satzung, der mit der allgemein- und insbesondere parteipolitischen Betätigung nur bestimmte, thematisch eindeutig kompetenzwidrige Tätigkeiten verbietet, ist danach nicht als abschließende Regelung, sondern nur als Bekräftigung bestimmter Grenzen zulässiger Betätigung zu verstehen. § 1 I der Satzung übernimmt mit dem Begriff des Gesamtinteresses auch die daraus abzuleitenden Anforderungen an die Art und Weise der Gesamtinteressenwahrnehmung einschließlich der Verpflichtung zu Objektivität, Sachlichkeit und Zurückhaltung sowie zur Darstellung beachtlicher Minderheitenpositionen. Der systematische Zusammenhang mit den Regelungen zur repräsentativen Willensbildung des Dachverbandes und der Richtlinienkompetenz seiner Vollversammlung (§ 6 II, § 9 I der Satzung) bestätigt, dass sich die Interessenvertretung durch den Verband auf die gemeinschaftliche Wahrnehmung des Gesamtinteresses der Zugehörigen der Mitgliedskammern i.S.d. § 1 I IHKG beschränken soll.“

d) Kompetenzüberschreitung durch tatsächliches Handeln

Ein Abwehranspruch besteht nicht nur dann, wenn sich bereits aus der Satzung ergibt, dass der DIHK Aufgaben wahrnimmt, die über die Kompetenzen der IHK hinausgehen. Ein solcher Anspruch kann auch dann bestehen, wenn der DIHK sich tatsächlich in einer Art und Weise betätigt, die faktisch seine eigene Satzung und den Kompetenzrahmen seiner Mitglieder überschreitet.

(1) Austritt nur als ultima ratio?

Das OVG Münster als Berufungsinstanz hatte angenommen, dass ein Anspruch auf Austritt aus dem DIHK nur als „ultima ratio“ in Betracht komme. Zuvor bestehe nur ein Anspruch darauf, dass die IHK auf ein kompetenzgemäßes Handeln des DIHK hinwirke:

„Die Beklagte weist mit Recht darauf hin, dass eine gerichtliche Verpflichtung zum Austritt aus einem Dachverband wie dem DIHK zur Verhinderung von konkreten Betätigungen des Dachverbands außerhalb der seinen Mitgliedskammern gesetzlich zugewiesenen Grenzen ‑ wenn überhaupt ‑ nur ultima ratio sein kann. Da es wirtschafts- und berufsständischen Kammern im Rahmen ihrer körperschaftlichen Organisationsgewalt grundsätzlich frei steht, sich zu überregionalen privatrechtlichen Dachorganisationen zusammenzuschließen, wäre der in der gerichtlichen Verpflichtung zum Austritt liegende Eingriff unverhältnismäßig, solange die Aussicht besteht, den fraglichen Verband intern zur Einhaltung des maßgeblichen Handlungsrahmens anzuhalten. Ein Kammerzugehöriger, der eine konkrete Grenzüberschreitung des DIHK beanstandet, ist deshalb grundsätzlich gehalten, vorrangig seine Kammer darauf in Anspruch zu nehmen, dass diese im Wege ihrer mitgliedschaftlichen Möglichkeiten auf die (zukünftige) Beachtung der für sie geltenden gesetzlichen Grenzen durch den DIHK hinwirkt. Erst dann, wenn ein solches ‑ im Falle seiner Berechtigung gegebenenfalls gerichtlich zu erzwingendes ‑ verbandsinternes Vorgehen fehlgeschlagen oder nachhaltig ohne Erfolg geblieben ist, kann ein gerichtlich durchsetzbarer Austrittsanspruch in Betracht gezogen werden.“

Dem tritt das BVerwG entgegen. Der Austrittsanspruch sei nicht durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt. Die IHK als juristische Person des öffentlichen Rechts könne sich nämlich nicht auf Grundrechte berufen und damit auch nicht auf das grundrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot:

„Der Auffassung des Berufungsurteils, der Austrittsanspruch des Kammermitglieds aus Art. 2 I GG werde durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt und könne erst entstehen, wenn die Kammer erfolglos zum Einschreiten gegen den Dachverband angehalten worden sei, vermag der Senat ebenfalls nicht zu folgen. Das grundrechtliche Verhältnismäßigkeitsgebot ist nicht einschlägig, weil die Kammer sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben aus § 1 I IHKG nicht auf eigene Grundrechte berufen kann. Juristischen Personen des öffentlichen Rechts stehen nach Art. 19 III GG bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben grundsätzlich keine Grundrechte zu. Etwas anderes gilt nur, wenn sie - wie etwa die Universitäten oder die Rundfunkanstalten - ausnahmsweise unmittelbar dem grundrechtlich geschützten Lebensbereich zugeordnet sind (BVerfG, Beschl. v. 09.04.1975 - 2 BvR 879/73 - BVerfGE 39, 302 <312 f.> m.w.N.; Kammerbeschl. v. 31.01.2008 - 1 BvR 2156/02, 1 BvR 2206/02 - BVerfGK 13, 276 f.). Das ist hier nicht der Fall. Die Tätigkeit der Industrie- und Handelskammern nach § 1 I IHKG dient nicht der gemeinsamen Grundrechtsausübung ihrer Mitglieder, sondern der Entlastung der staatlichen Behörden durch sachkundige Politikberatung und die dezentralisierte Wahrnehmung von Aufgaben der Wirtschaftsförderung. Als dem Staat eingegliederte Körperschaften des öffentlichen Rechts können die Kammern nicht zugleich Grundrechtsverpflichtete und Grundrechtsträger sein. Die Befugnis der Kammern, die Erfüllung ihrer Aufgaben nach § 1 I IHKG zu organisieren, ist gegenüber den Kammermitgliedern auch nicht durch ein grundrechtsunabhängig herzuleitendes, rechtsstaatliches Verhältnismäßigkeitsprinzip geschützt. Sie besteht nur aufgrund gesetzlicher Kompetenzzuweisung und nur in deren Rahmen. Der rechtsstaatliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann die Kompetenzgrenzen nicht relativieren, weil deren Beachtung ebenfalls ein Element der Rechtsstaatlichkeit ist (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 13.12.1978 - X OVG A 97/77 - SchlHA 1979, 113 <115>).“

(2) Konkrete Wahrscheinlichkeit einer kompetenzwidrigen Tätigkeit (Wiederholungsgefahr)

Nicht jede kompetenzwidrige Äußerung oder sonstige Handlung genügt, sofern sie sich nur als isolierte und für die Verbandstätigkeit „atypischer Ausreißer“ darstellt. Da es sich der Sache nach um einen Unterlassungsanspruch handelt, ist Voraussetzung die konkrete Wahrscheinlichkeit einer künftigen, kompetenzwidrigen Tätigkeit:

„Betätigt sich der Dachverband in einer Weise, die faktisch seine Aufgaben und zugleich den Kompetenzrahmen seiner Mitgliedskammern überschreitet, ergibt sich aus Art. 2 I GG ein Anspruch jedes Kammermitglieds auf Austritt seiner Kammer aus dem Dachverband, wenn die kompetenzwidrige Tätigkeit sich nicht als atypischer “Ausreißer” darstellt, sondern die konkrete Gefahr erneuten kompetenzüberschreitenden Handelns besteht. Wie jeder grundrechtliche Unterlassungsanspruch setzt der Austrittsanspruch nur voraus, dass dem Betroffenen konkret eine rechtswidrige Beeinträchtigung seines Grundrechts droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.05.1989 - 7 C 2.87 - BVerwGE 82, 76 <77 f.> und v. 20.11.2014 - 3 C 27.13 - Buchholz 418.32 AMG Nr. 69 Rn. 11, je m.w.N.). Dazu genügt die konkrete Wahrscheinlichkeit einer künftigen, den Rahmen der Kammerkompetenz überschreitenden Tätigkeit des Dachverbandes.“

Das ist im Rahmen einer Prognose festzustellen, die sämtliche Indizien für und gegen die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Grundrechtsverletzung in Betracht zieht:

„ Als Indizien für das Drohen eines erneuten Kompetenzverstoßes kommen mehrfache oder gar häufige Missachtungen der Kompetenzgrenzen in Betracht, ebenso der Mangel an Einsicht in vergangene Aufgabenüberschreitungen und die Weigerung, geeignete Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Überschreitungen zu treffen. Gegen eine Wiederholungsgefahr spricht hingegen, wenn der Dachverband die Kritik an einer Aufgabenüberschreitung konstruktiv aufgenommen, sich davon distanziert und geeignete Vorkehrungen gegen einen erneuten Kompetenzverstoß getroffen hat. Dies ist anzunehmen, wenn der Verband den Mitgliedskammern und deren Pflichtmitgliedern die Möglichkeit eröffnet, künftige Überschreitungen der Kammerkompetenzen wirksam zu unterbinden. Davon kann beispielsweise ausgegangen werden, wenn die Verbandssatzung den einzelnen Pflichtmitgliedern der Mitgliedskammern ein Recht zur Klage gegen den Verband auf Unterlassen von (weiteren) Überschreitungen der Kammerkompetenz einräumt. Gegen eine Wiederholungsgefahr kann auch die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle im Verband sprechen, wenn diese einen wirksamen, effektiven Schutz vor einer Verbandstätigkeit jenseits der Kammerkompetenzen gewährleistet, der von jedem Pflichtmitglied einer Mitgliedskammer verbandsintern sowie notfalls gerichtlich durchsetzbar ist.“

Der DIHK hat sich in der Vergangenheit mehrfach zu allgemein- und bildungspolitischen Themen geäußert und damit seine eigenen Kompetenzen und die seiner Mitglieder überschritten. Das gilt auch für die Äußerungen durch seinen Präsidenten, die dem DIHK als eigene zugerechnet werden.

Das BVerwG hat aber letztlich die Frage nach der (konkreten) Wiederholungsgefahr nicht entscheiden können, weil Feststellungen zu den Reaktionen des DIHK auf die Kritik an seinen Äußerungen fehlen. Auch ist bislang nicht geklärt, ob und gegebenenfalls wie verbandsintern ein wirksamer und effektiver, für die Pflichtmitglieder der Kammern verfügbarer Schutz gegen solche grundrechtswidrigen Aufgabenüberschreitungen gewährleistet wird. Deswegen hat das BVerwG den Fall an das Berufungsgericht zurückgewiesen (§ 144 III 1 Nr. 2 VwGO)

C. Fazit

Probleme rund um die Pflichtmitgliedschaft in der IHK sind klassische Ausbildungs- und Prüfungsthemen. Der aktuelle, durchaus anspruchsvolle Fall fügt dem Themenfeld eine weitere Nuance hinzu - das macht ihn aus Prüfersicht durchaus reizvoll!