Problem - Materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten
Problem – Materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten
Der Bundespräsident gehört zu den obersten Bundesorganen und ist ein sogenanntes Repräsentativorgan. Fraglich ist insbesondere ob ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten bei der Gesetzgebung besteht. Art. 82 GG bestimmt, dass am Ende des Gesetzgebungsverfahrens der Bundespräsident das Gesetz ausfertigen muss. Es stellt sich somit die Frage, ob er dies verweigern kann unter Hinweis auf die materielle Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Der Bundespräsident hat in jedem Fall ein formelles Prüfungsrecht. Strittig ist lediglich, ob auch ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten existiert.
I. Eine Ansicht
Eine Ansicht bejaht ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten und verweist dabei auf den Wortlaut des Art. 82 GG sowie den Amtseid nach Art. 56 GG. Art. 82 GG spreche von einem Gesetz, das nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommen sei. Dies meine auch das materielle Verfassungsrecht. Darüber hinaus schwöre der Bundespräsident, das Grundgesetz zu wahren. Ein materielles Prüfungsrecht müsse ihm daher zugestanden werden.
II. Andere Ansicht
Eine weitere Ansicht verneint ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Dies wird mit der Systematik begründet. Art. 82 GG stehe am Ende des Abschnitts über das Zustandekommen von Gesetzen. Dieser Abschnitt betreffe Zuständigkeiten, das Verfahren und die Form, also lediglich die formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Dies spreche gegen ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Zudem sei der Amtseid nicht konstitutiv. Er begründe keine Rechte, sondern setze diese voraus. Beispiel: A wird Referendar und muss seinen Amtseid leisten. A schwört, dass er das Grundgesetz wahren werde. Dennoch kommt ihm kein materielles Prüfungsrecht zu. Der Amtseid besage nur, dass man schwöre, was einem das Amt später ermögliche. Auch hiernach müsse ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ausscheiden. Ferner führt diese Ansicht den Sinn und Zweck des Bundespräsidenten als Argument an. Der Bundespräsident habe nur wenige Befugnisse, insbesondere repräsentativer und notarieller Art. Dies spricht gegen ein materielles Prüfungsrecht. Denn räumte man dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht ein, hätte er genauso viel Macht wie Bundestag und Bundesrat zusammen. Zuletzt spreche auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes gegen ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten. Das Grundgesetz stelle eine Reaktion auf die Weimarer Reichsverfassung dar, in welcher die Position des Reichspräsidenten sehr stark war. Den damit verbundenen Gefahren habe man entgegentreten wollen, sodass ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten dem entgegenstehen würde.
III. Evidenztheorie (h.M.)
Die herrschende Meinung bejaht ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten in evidenten Fällen (Evidenztheorie). Dies wird mit der Systematik und dem Sinn und Zweck des Bundespräsidenten begründet. Das Grundgesetz habe den Bundespräsidenten schwach ausgestaltet, dies spreche gegen ein vollumfängliches materielles Prüfungsrecht. Allerdings sei auch der Bundespräsident an die Grundrechte gebunden, Art. 1 III GG, sowie an die Verfassung im Übrigen, vgl. Art. 20 III GG. Mit dieser Bindung an die Verfassung wäre es unvereinbar, wenn er in Evidenzfällen gezwungen wäre, ein Gesetz auszufertigen, das aus seiner Sicht materiell verfassungswidrig sei. Hiernach hat der Bundespräsident in Evidenzfällen ein materielles Prüfungsrecht.