Fall: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Bei der Wahl zum neunten Bundestag waren auf die SPD 218 und auf die FDP 53 Mandate entfallen. CDU und CSU erhielten zusammen 226 Sitze. SPD und FDP hatten den Wahlkampf mit dem erklärten Ziel geführt, die bisherige sozialliberalen Koalition fortzuführen. Entsprechend koalierten sie 1980 zunächst unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Spätestens seit dem Frühsommer 1982 traten aber zwischen den Koalitionspartnern zunehmende Spannungen auf, die schließlich zum Bruch der Koalition führten. Nachdem im September 1982 die vier der FDP angehörigen Minister der Bundesregierung aufgrund der Spannungen zurückgetreten waren, fanden kurz danach Koalitionsverhandlungen zwischen den Vorsitzenden der CDU, CSU und FDP statt.
Ende September 1982 brachte die Fraktion der CDU/CSU und FDP gemäß Art. 67 I 1 GG im Bundestag den Antrag ein, der Bundestag möge dem Bundeskanzler Helmut Schmidt das Misstrauen aussprechen und Dr. Helmut Kohl zu seinem Nachfolger wählen. Daraufhin wurde Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt und vom Bundes-präsidenten ernannt.
Dr. Helmut Kohl führte eine Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP, die im Bundestag über die absolute Mehrheit verfügte. Gleichwohl gab es in Teilen der FDP auch Widerstand gegen eine Koalition mit der CDU/CSU, insbesondere da das Wahlversprechen eine Koalition mit der SPD vorsah. Es kam daher zum Teil auch zu Austritten aus der FDP und Übertritten von FDP-Mitgliedern zur SPD. Weitere Übertritte drohten.
Alle Parteien, insbesondere auch die CDU/CSU und die FPD, sprachen sich vor dem Hintergrund nicht weiter aufschiebbarer schweren Entscheidungen, die die seinerzeitigen massiven Probleme der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes, der äußeren Sicherheit und der Innenpolitik betrafen, für die Abhaltung von Neuwahlen aus. So wollte der Bundeskanzler auf diesem Wege sein politisches Vorgehen in dieser Situation über Neuwahlen legitimieren lassen, während sich die Opposition erhoffte, auf diesem Weg wieder an die Regierung zu gelangen. Der Bundeskanzler stellte daher im Dezember 1982 den Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, um so den Weg für Neuwahlen freizumachen. Erwartungsgemäß stimmte die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags, in einer mehr als 48 Stunden nach Antragstellung stattfindenden Sitzung, diesem Antrag nicht zu, wobei sich insbesondere die Fraktion der CDU/CSU der Stimme enthielt.
Der Bundeskanzler schlug daraufhin dem Bundespräsidenten vor, den Bundestag aufzulösen. Diesem Antrag folgte der Bundespräsident 18 Tage später und setzte einen Termin für Neuwahlen fest. Der Bundeskanzler zeichnete schließlich die Auflösungs-entscheidung des Bundespräsidenten gegen.
Eine Reihe von Abgeordneten des Bundestags (unter anderem solche der CDU/CSU und FDP, aber auch der SPD) sind mit dem dargelegten Vorgehen nicht einverstanden. Sie wenden sich mit einem an das Bundesverfassungsgericht gerichteten Antrag gegen die Anordnung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen. Sie beantragen festzustellen, dass diese Anordnung gegen Art. 68 I 1 GG verstößt und sie in ihrem durch Art. 38 I GG verfassungsrechtlich garantierten Status als Bundestagsabgeordnete verletzt hat oder unmittelbar gefährdet. Als Begründung tragen sie entsprechend insbesondere vor, die Auflösung sei geeignet, sie in ihrem durch Art. 38 I GG i.V.m. Art. 39 I GG verfassungsrechtlich garantierten Status als Bundestagsabgeordneter zu verletzen. Ihr Recht am Mandat erstrecke sich auf die Dauer der vollen Wahlperiode. Dieser Status als Bundestagsabgeordneter dürfe nur in einer dem Grundgesetz entsprechenden Weise vorzeitig beendet werden. Die Auflösung des Bundestags sei im vorliegenden Fall mit Art. 68 GG nicht vereinbar, da die materiellen Voraussetzungen der Auflösung nicht vorgelegen hätten.
Hat der Antrag der Abgeordneten vor dem Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg?
Ende September 1982 brachte die Fraktion der CDU/CSU und FDP gemäß Art. 67 I 1 GG im Bundestag den Antrag ein, der Bundestag möge dem Bundeskanzler Helmut Schmidt das Misstrauen aussprechen und Dr. Helmut Kohl zu seinem Nachfolger wählen. Daraufhin wurde Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik gewählt und vom Bundes-präsidenten ernannt.
Dr. Helmut Kohl führte eine Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP, die im Bundestag über die absolute Mehrheit verfügte. Gleichwohl gab es in Teilen der FDP auch Widerstand gegen eine Koalition mit der CDU/CSU, insbesondere da das Wahlversprechen eine Koalition mit der SPD vorsah. Es kam daher zum Teil auch zu Austritten aus der FDP und Übertritten von FDP-Mitgliedern zur SPD. Weitere Übertritte drohten.
Alle Parteien, insbesondere auch die CDU/CSU und die FPD, sprachen sich vor dem Hintergrund nicht weiter aufschiebbarer schweren Entscheidungen, die die seinerzeitigen massiven Probleme der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes, der äußeren Sicherheit und der Innenpolitik betrafen, für die Abhaltung von Neuwahlen aus. So wollte der Bundeskanzler auf diesem Wege sein politisches Vorgehen in dieser Situation über Neuwahlen legitimieren lassen, während sich die Opposition erhoffte, auf diesem Weg wieder an die Regierung zu gelangen. Der Bundeskanzler stellte daher im Dezember 1982 den Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, um so den Weg für Neuwahlen freizumachen. Erwartungsgemäß stimmte die Mehrheit der Mitglieder des Bundestags, in einer mehr als 48 Stunden nach Antragstellung stattfindenden Sitzung, diesem Antrag nicht zu, wobei sich insbesondere die Fraktion der CDU/CSU der Stimme enthielt.
Der Bundeskanzler schlug daraufhin dem Bundespräsidenten vor, den Bundestag aufzulösen. Diesem Antrag folgte der Bundespräsident 18 Tage später und setzte einen Termin für Neuwahlen fest. Der Bundeskanzler zeichnete schließlich die Auflösungs-entscheidung des Bundespräsidenten gegen.
Eine Reihe von Abgeordneten des Bundestags (unter anderem solche der CDU/CSU und FDP, aber auch der SPD) sind mit dem dargelegten Vorgehen nicht einverstanden. Sie wenden sich mit einem an das Bundesverfassungsgericht gerichteten Antrag gegen die Anordnung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen. Sie beantragen festzustellen, dass diese Anordnung gegen Art. 68 I 1 GG verstößt und sie in ihrem durch Art. 38 I GG verfassungsrechtlich garantierten Status als Bundestagsabgeordnete verletzt hat oder unmittelbar gefährdet. Als Begründung tragen sie entsprechend insbesondere vor, die Auflösung sei geeignet, sie in ihrem durch Art. 38 I GG i.V.m. Art. 39 I GG verfassungsrechtlich garantierten Status als Bundestagsabgeordneter zu verletzen. Ihr Recht am Mandat erstrecke sich auf die Dauer der vollen Wahlperiode. Dieser Status als Bundestagsabgeordneter dürfe nur in einer dem Grundgesetz entsprechenden Weise vorzeitig beendet werden. Die Auflösung des Bundestags sei im vorliegenden Fall mit Art. 68 GG nicht vereinbar, da die materiellen Voraussetzungen der Auflösung nicht vorgelegen hätten.
Hat der Antrag der Abgeordneten vor dem Bundesverfassungsgericht Aussicht auf Erfolg?
Das Bundesverfassungsgericht wird die von den Abgeordneten beantragte Feststellung treffen, wenn der Antrag zulässig und begründet ist. In Betracht kommt dafür ein Organstreitverfahren nach Art. 93 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG.
A. Zulässigkeit
Der Antrag müsste zulässig sein. Dies ist der Fall, wenn alle Sachurteilsvoraussetzungen des Organstreitverfahrens gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG erfüllt sind.
I. Zuständigkeit
Das Bundesverfassungsgericht ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG für die Durchführung des Organstreitverfahrens zuständig.
II. Parteifähigkeit
Ferner müssten die Parteien des Verfahrens auch parteifähig sein.
1. Parteifähigkeit der Antragsteller
Zunächst müssten die Antragsteller, hier die antragstellenden Abgeordneten, parteifähig im Sinne des § 63 BVerfGG sein. Nach dem Wortlaut des § 63 BVerfGG können Antragsteller und Antragsgegner nur sein: Der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung und die im Grundgesetz oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile dieser Organe. Unter dieser Aufzählung findet sich der einzelne Abgeordnete bzw. eine Gruppe von ihnen nicht. Gleichwohl ist auch der einzelne Abgeordnete des Bundestages nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Organstreit-verfahren parteifähig im Sinne von § 63 BVerfGG, soweit er mit seinem verfassungsrechtlichen Status verbundene Rechte geltend macht. Hier machen die Abgeordneten eine Verletzung ihrer Rechte als Abgeordnete, insbesondere aus Art. 38 f. GG, geltend, so dass sie parteifähig sind.
2. Parteifähigkeit des Antragsgegners
Auch der Antragsgegner müsste parteifähig sein. Antragsgegners ist hier der Bundespräsident. Dieser ist in der Aufzählung des § 63 BVerfGG ausdrücklich genannt, so dass auch er parteifähig ist.
III. Antragsbefugnis/Antragsgegenstand
Die Antragsteller müssten antragsbefugt sein und es müsse sich um einen zulässigen Antragsgegenstand handeln. Wann dies jeweils der Fall ist, richtet sich nach § 64 I BVerfGG. Danach ist der Antrag nur zulässig, wenn der Antragsteller geltend macht, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Vorliegend wenden sich die Abgeordneten gegen die Anordnung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestags und damit gegen eine konkrete Maßnahme des Bundespräsidenten, so dass es sich insoweit um einen tauglichen Antragsgegenstand im Sinne § 64 I BVerfGG handelt.
Die Antragsteller machen überdies auch geltend, dass sie durch die vom Bundespräsidenten erklärte Auflösung des Bundestags in ihren Rechten als Abgeordneter verletzt bzw. unmittelbar gefährdet sind. Damit sind sie auch antragsbefugt im Sinne des § 64 I BVerfGG.
IV. Form und Frist
Der Antrag müsste zudem auch form- und fristgerecht beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden sein. Die diesbezüglichen Erfordernisse ergeben sich aus §§ 23 I 1, 64 II und III BVerfGG. Nach § 64 II und III BVerfGG ist im Antrag die Bestimmung des Grundgesetzes zu bezeichnen, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstoßen wird. Der Antrag muß binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden. Vorliegend berufen sich die Antragsteller in ihrer Begründung ausdrücklich auf einen Verstoß gegen Art. 68 GG, so dass die Erfordernisse des § 64 II BVerfGG, mangels anderweitiger gegenteiliger Anhaltspunkte, auch hinsichtlich § 23 I 1 BVerfGG, als gewahrt anzusehen sind. Über die Einhaltung der Frist im Sinne des § 64 III BVerfGG ist nichts Gegenteiliges bekannt, so dass auch von deren Einhaltung ausgegangen wird.
V. Rechtsschutzbedürfnis
Der Antrag auf Einleitung des Organstreitverfahrens ist überdies nur zulässig, wenn hierfür auch ein (allgemeines) Rechtsschutzbedürfnis besteht. Dieses liegt grundsätzlich vor, wenn für die Antragsteller kein einfacherer Weg gegeben ist, auf denen sie die begehrte Verstellung erreichen können, als über das Organstreitverfahren. Vor diesem Hintergrund ist das Rechtsschutzbedürfnis bei Vorliegen der Antragsbefugnis regelmäßig indiziert. Hier ist auch kein Ausnahmefall, in dem das Rechtsschutz-bedürfnis entfallen würde (etwa bei Erledigung), ersichtlich, so dass es hier vorliegt. Insbesondere ist die Frist des Art. 68 I 1 GG vorliegend gewahrt worden.
Der Antrag ist nach allem zulässig.
B. Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn durch die Anordnung des Bundespräsidenten, den Bundestag aufzulösen, Rechte der Abgeordneten verletzt werden. Prüfungsmaßstäbe für die Anordnungen des Bundespräsidenten sind hier Art. 68 GG und Art. 38 I 2 in Verbindung mit Art. 39 I 1 GG. Der Status der Antragsteller als Abgeordnete gemäß Art. 38 I 2 GG wäre verletzt, wenn diese Anordnung gegen Art. 68 GG verstieße.
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Auflösung des Bundestags
Zunächst müsste die Auflösung des Bundestags formell verfassungsgemäß erfolgt sein. Die diesbezüglichen Voraussetzungen ergeben sich aus Art. 68 I und II GG. Danach bedarf es vor der Entscheidung des Bundespräsidenten über die Auflösung des Bundestags eines entsprechenden Vorschlags des Bundeskanzlers, vgl. Art. 68 I 1 GG. Hier hatte Bundeskanzler Helmut Kohl dem Bundespräsidenten einen entsprechenden Vorschlag zur Auflösung des Bundestags unterbreitet, so dass die Voraussetzungen des Art. 68 I 1 GG insoweit vorliegen. Die 48-Stunden-Frist ist ebenfalls gewahrt. Die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten bedarf gemäß Art. 58 Satz 1 GG zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler, die hier ebenfalls erfolgt ist. Anderweitige Bedenken hinsichtlich der formellen Verfassungsmäßigkeit der Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten sind vorliegend nicht ersichtlich, so dass diese hier gegeben ist.
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit der Auflösung des Bundestags
Die Auflösung des Bundestags müsste auch in materieller Hinsicht verfassungsgemäß sein. Dazu müssten die materiellen Anforderungen des Art. 68 GG gewahrt worden sein und es müsste die richtige Rechtsfolge gewählt worden sein.
1. Materielle Anforderungen des Art. 68 GG
Zunächst ist festzustellen, welche materiellen Anforderungen Art. 68 GG hinsichtlich der Auflösungsentscheidung des Bundespräsidenten stellt.
Insoweit lässt sich zunächst festhalten, dass Art. 68 GG dem Bundespräsidenten kein freies Auflösungsrecht zur Verfügung stellt. Vielmehr enthält Art. 68 GG einen „zeitlich gestreckten“, mehrstufigen Tatbestand, der ein Zusammenwirken mehrerer Verfassungsorgane im Rahmen eines Auflösungsverfahrens verlangt und an dessen Ende erst die Entscheidung des Bundespräsidenten steht. So beginnt das Auflösungsverfahren bereits mit der Entscheidung des Bundeskanzlers, einen entsprechenden Antrag im Bundestag zu stellen und setzt sich dann über die Abstimmung im Bundestag und ggf. den Vorschlag zur Auflösung an den Bundespräsidenten fort, um dann mit der Entscheidung des Bundespräsidenten abgeschlossen zu werden.
Durchläuft damit das Auflösungsverfahren mehrere Stufen, so wirken dabei erfolgte Verfassungsverstöße auf die Entscheidungslage, in der sich der Bundespräsident bei der abschließenden Entscheidung befindet, fort. Mit anderen Worten: Liegen bereits Fehler im Auflösungsverfahren auf den Stufen, die der Bundeskanzler oder der Bundestag durchzuführen hat, vor, so darf der Bundespräsident den Bundestag nicht auflösen. Daraus folgt, dass der Bundespräsident, in einem gewissen Rahmen die vorangegangenen Stufen des Auflösungsverfahrens zu überprüfen hat, bevor er seine Entscheidung trifft. Zur Überprüfung der Entscheidung des Bundespräsidenten ist daher die Entscheidung der vorangegangenen Stufen nachzuvollziehen.
a) Antrag des Bundeskanzlers auf Auflösung
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen, nachdem ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gefunden hat. Erster Schritt im Auflösungsverfahren ist daher ein entsprechender Antrag des Bundeskanzlers an den Bundestag.
aa) Verfassungsrechtliche Auslegung des Art. 68 GG
Dieser Antrag des Kanzlers unterliegt verfassungsrechtlichen Anforderungen, die der Kanzler bei dessen Stellung zu beachten hat, damit der Antrag wirksam ist. Die hier interessierenden materiellen Anforderungen sind dem Art. 68 GG jedoch nicht ausdrücklich zu entnehmen. Vielmehr bedarf die Vorschrift einer Konkretisierung, die über eine verfassungsrechtliche Auslegung zu erfolgen hat.
Insoweit ist zunächst festzustellen, dass dem Bundeskanzler kein freies Auflösungsrecht zusteht. Vielmehr eröffnet das Grundgesetz die Auflösung des Bundestags allein in den Fällen der Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG und Art. 68 GG unter den dort festgelegten engen verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Voraussetzungen.
Darüber hinaus lässt sich mit Blick auf die Weimarer Republik verfassungsgeschichtlich belegen, dass die Intention des Art. 68 GG ist, den Bundestag vor einer willkürlichen Auflösung von außen zu bewahren, wie sie zur Zeit der Geltung der Weimarer Reichsverfassung (WRV) der Reichspräsident unter bloßer Gegenzeichnung des Reichskanzlers erreicht werden konnte. Demgegenüber zielt die Vorschrift des Art. 68 GG nicht in erster Linie darauf ab, den Bundestag vor einer Selbstauflösung zu bewahren, sondern vielmehr darauf, die Regierungsfähigkeit in dem amtierenden Bundestag zu erhalten und/oder herzustellen.
Hierbei ist zu erkennen, dass Art. 68 GG mit den Art. 63 und 67 GG sowie Art. 81 GG in einem engen Zusammenhang steht. Diesen Vorschriften und Art. 68 GG ist gemeinsam, dass sie darauf gerichtet sind, im Zusammenwirken des Bundestages, des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Bundesregierung (im Falle des Art. 81 GG zusätzlich des Bundesrates) regierungsfähige Mehrheiten herzustellen, zu erhalten, durch neue zu ersetzen oder aber ggf. einer Minderheitsregierung die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Handlungsfähigkeit zu schaffen. Lediglich als ultima ratio ist in zwei Fällen (Art. 63 Abs. 4 und Art. 68 Abs. 1 GG) die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten vorgesehen (vgl. BVerfGE 62, 1).
Überdies ist es eine bewusste Grundentscheidung des Verfassungsgebers gewesen, im Grundgesetz, anders als in der WRV (dort Art. 54), kein destruktives Misstrauensvotum im Grundgesetz vorzusehen. Art. 67 GG ist daher bewusst allein als konstruktives Misstrauensvotum ausgestaltet.
Art. 63, 67, 68 und 81 GG bilden damit zusammen gesehen ein ausbalanciertes System der gegenseitigen Gewaltenhemmung, dessen Ziel es ist, dass die Regierungsaufgaben stets von einer handlungsfähigen Exekutive wahrgenommen werden (vgl. BVerfGE 62, 1).
bb) Zulässigkeit der unechten Vertrauensfrage/Lage politischer Instabilität
Vor diesem durch die verfassungsrechtliche Auslegung des Art. 68 GG erhellten Hintergrund beurteilt sich auch die Frage, ob der Bundeskanzler mit der Vertrauensfrage den Zweck verfolgen muss, eine Konfliktsituation entweder durch Wiedererlangung einer verlorenen Mehrheit oder durch Stabilisierung einer labilen Mehrheit im Parlament, im Falle ihrer Verneinung womöglich auf dem Wege über Neuwahlen, zu bewältigen (sog. echte Vertrauensfrage) oder aber, ob er die Vertrauensfrage auch in der Situation der Parlamentsmehrheit und in Übereinstimmung mit dieser Mehrheit allein zu dem Zweck stellen kann, durch die Auflösung des Bundestages Neuwahlen herbeizuführen (sog. unechte Vertrauensfrage).
(1) Andere Ansicht: Unechte Vertrauensfrage unzulässig
Insoweit wird von einer Ansicht vertreten, dass eine Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG trotz Fortbestehens einer regierungsfähigen Mehrheit, die ihren Kandidaten jederzeit nach Art. 67 GG zum Kanzler wählen kann oder gewählt hat, das ausbalancierte System der Art. 63, 67, 68 und 81 GG zerstören würde. Daraus leitet diese Ansicht die Unzulässigkeit der unechten Vertrauensfrage ab. Als Begründung trägt sie insbesondere vor, dass eine Auslegung des Art. 68 GG, die eine Auflösung des Bundestages in einer solchen Situation zuließe, insbesondere der zur Kanzlerwahl und Regierungsbildung fähigen Mehrheit das geben würde, was das Grundgesetz ihr verweigert: Einen Weg zur Auflösung des Bundestages über ein destruktives Misstrauensvotum, das im Grundgesetz aber gerade nicht vorgesehen ist (vgl. BVerfGE 62, 1 - Sondervotum Dr. Rinck).
(2) Andere Ansicht: Unechte Vertrauensfrage bei politischer Lage der Instabilität zulässig
Die Gegenansicht teilt im Grunde die soeben dargelegten Bedenken, zieht aber eine andere Konsequenz aus ihnen: So sei die unechte Vertrauensfrage, nur dann unzulässig, wenn die von Art. 68 GG nach Sinn und Zweck der Norm vorausgesetzte „politische Lage der Instabilität“ zwischen Kanzler und Bundestag gar nicht gegeben ist. Danach wäre eine unechte, mithin auflösungsgerichtete Vertrauensfrage also nur dann zulässig, wenn das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal einer „politische Lage der Instabilität“ zwischen Kanzler und Bundestag (z.Tl. auch „materielle Auflösungslage“ genannt) tatsächlich gegeben ist. Eine solche politische Lage der Instabilität erfordert, dass der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann. Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Weg des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. Die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag müssen seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag. Dies ist nach dieser Ansicht ungeschriebenes sachliches Tatbestandsmerkmal des Art. 68 I 1 GG und muss erfüllt sein, damit ein Verfahren nach Art. 68 GG im Einzelfall verfassungsmäßig ist (vgl. BVerfGE 62, 1).
Dem Bundeskanzler kommt hinsichtlich der Frage, wann eine solche politische Lage der Instabilität zwischen ihm und dem Bundestag vorliegt, eine Einschätzungsprärogative zu.
(3) Stellungnahme
Die Bedenken und Beweggründe der ersten Ansicht sind allesamt gut nachvollziehbar. Gleichwohl lassen sie sich über das Hineinlesen des Tatbestandsmerkmals der „politischen Lage der Instabilität“ in hinreichendem Maße ausräumen. So liegt in dem Falle, dass ein Kanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Weg des Art. 68 GG anstrebt, weil es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren, eine mit der ursprünglich mit Art. 68 GG gemeinten Situation vergleichbare Gefährdungslage im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit der Regierung vor. Diese Vergleichbarkeit der Gefährdungslage rechtfertigt auch die Gleichbehandlung der vorliegenden Situation. Über ein Hineinlesen des für die tatsächliche Vergleichbarkeit erforderlichen Tatbestandsmerkmals der politischen Lage der Instabilität lässt sich absichern, dass Art. 68 GG immer nur in solchen Fällen angewendet werden kann, in denen eine solche, von Gesetzgeber in Ansehung von Art. 68 GG ursprünglich gemeinte Lage der politischen Instabilität auch tatsächlich vorliegt. Insoweit ist zu bedenken, dass sich diese Frage bei einem Minderheitskanzler in aller Regel schon daraus ergibt, dass er nicht über die Regierungsmehrheit verfügt. Bei einem Kanzler, der die Mehrheit des Bundestages hinter sich weiß (Mehrheitskanzler), ist dagegen grundsätzlich eher davon auszugehen, dass keine politische Lage der Instabilität vorliegt. Daher bedarf es in diesem Fall eben des Vorliegens des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der politischen Lage der Instabilität, um dem in der verfassungsrechtlichen Auslegung erhellten Sinn und Zweck des Art. 68 GG und dessen Zusammenspiel mit den weiteren genannten Vorschriften gerecht zu werden.
Bedenken gegen eine solche Lösung bestehen auch nicht im Hinblick auf den Abgeordnetenstatus und dessen grundsätzliche vierjährige Dauer, da diese in den genannten vergleichbaren Situationen ebenfalls nicht erreicht wird, so dass auch insofern hier eine Gleichbehandlung anzeigt bzw. keine Ungleichbehandlung geboten ist. Danach ist der zweiten Ansicht der Vorzug zu geben.
cc) Vorliegen dieser Voraussetzungen im konkreten Einzelfall
Damit der Antrag des Bundeskanzlers im vorliegenden Fall zulässig ist, müsste also eine Lage politischer Instabilität nach seiner vertretbaren Einschätzung vorgelegen haben. Hier kam es nach der Bildung der Koalition zu erheblichen innerparteilichen Auseinandersetzungen in der FDP, die auch zu Übertritten geführte hatte. Weitere Übertritte drohten. Damit drohte aus der Sicht des Bundeskanzlers auch die Mehrheit der Koalition zu schwinden. Dafür, dass dieses ein nicht fernliegendes Szenario ist, gab es nach den bereits erfolgten Übertritten und den massiven innerparteilichen Querelen bei der FDP auch eine Reihe von Anhaltspunkten, so dass sich die Annahme des Bundeskanzlers, dass eine politische Lage der Instabilität vorliegt, vertretbar ist und sich im Rahmen seiner diesbezüglichen Einschätzungsprärogative hält.
Unterdessen rechtfertigen allein die im Sachverhalt geschilderten besonderen Schwierigkeiten der in der laufenden Wahlperiode sich stellenden Aufgaben die Auflösung nicht. Dass Bundeskanzler, Bundesregierung und Bundestag sich von Verfassungs wegen solchen Aufgaben nach besten Kräften zu stellen haben, folgt aus ihrer Verpflichtung auf das Gemeinwohl und daraus, dass ihnen Staatsgewalt anvertraut ist. Ferner kann es vor diesem Hintergrund für sich allein auch keine Rechtfertigung für die Auflösung des Bundestages abgeben, dass alle im Bundestag vertretenen politischen Parteien oder ihre Fraktionen sich in dem Willen zu Neuwahlen - aus welchen individuellen Motiven auch immer - einig sind. Dies mag allenfalls belegen, dass ein konkreter Missbrauch des Instruments des Art. 68 GG nicht gegeben ist; als Rechtfertigungsgrund für den Weg der Auflösung ist eine solche Einigkeit allein aber unzureichend.
Da hier aber, wie dargelegt, der Bundeskanzler vertretbar eine Lage politischer Instabilität annimmt, liegen die materiellen Voraussetzungen für die Stellung einer unechten Vertrauensfrage (auf der Verfahrensebene der Antragstellung durch den Bundeskanzler) vor.
b) Die Abstimmung im Bundestag
Der nächste Verfahrensschritt im Rahmen des Auflösungsverfahrens ist die Abstimmung im Bundestag. Insoweit sind hier keine Bedenken hinsichtlich deren Verfassungsmäßigkeit ersichtlich, insbesondere sind die Voraussetzungen des Art. 68 II GG (48-Stunden-Frist) und des Art. 121 GG (Mehrheit) hier gewahrt. Hinsichtlich des Mehrheitserfordernisses ist zu beachten, dass die Mehrheit für die Vertrauensfrage gerade nicht erreicht wurde, was Sinn und Zweck des an den Bundestag gerichteten Antrags des Kanzlers im vorliegenden Fall war, um so den Auflösungsantrag ggü. dem Bundespräsidenten stellen zu können.
c) Die Entscheidung durch den Bundespräsidenten
Schließlich müsste auch die Entscheidung des Bundespräsidenten über den sodann vom Bundeskanzler an ihn gerichteten Antrag materiell mit den insoweit bestehenden Anforderungen im Einklang stehen. Insofern ist zu beachten, dass dem Bundespräsidenten zum einen selbst keine freie Entscheidung über die Auflösung zukommt (s.o.), sondern er vielmehr bei seiner Überprüfung eingeschränkt ist (aa.) und zum anderen, dass er nach Abschluss der (eingeschränkten) Nachprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 68 GG die insofern richtige Rechtsfolge wählen muss (bb.).
aa) Eingeschränkte Überprüfung
Der Bundespräsident hat zu prüfen, ob die Entscheidung des Bundeskanzlers mit der Verfassung in Einklang steht. Er kann bei der Prüfung, ob der Antrag und der Vorschlag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG mit der Verfassung vereinbar sind, aber nicht andere Maßstäbe anlegen; er hat insoweit die Einschätzungsprärogative des Bundeskanzlers zu beachten. Der Bundespräsident kann daher nicht seine eigene Beurteilung der politischen Gegebenheiten an die Stelle der Auffassung des Bundeskanzlers setzen. Muss daher nach pflichtgemäßer Beurteilung des Bundespräsidenten eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers nicht eindeutig vorgezogen werden, so hat der Bundespräsident - bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Vorgehens des Bundeskanzlers - die Beurteilung des Bundeskanzlers als mit dem Grundgesetz vereinbar hinzunehmen (vgl. BVerfGE 62, 1).
Vorliegend ist eine Überschreitung des Beurteilungsspielraums durch den Bundeskanzler nicht ersichtlich (s.o.). Daher kann die Beurteilung des Bundespräsidenten hier nach allem nicht anders ausfallen, so dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 68 GG aus seiner Sicht als gegeben anzunehmen sind.
bb) Rechtsfolge
Liegen damit die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 68 GG hier vor, so müsste der Bundespräsident auch die richtige Rechtsfolge gewählt haben. Die Anordnung der Auflösung obliegt dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundespräsidenten, wie schon aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. 68 I 1 GG folgt („kann“). Ein Ermessensfehler (wie bspw. ein Ermessensfehlgebrauch bei sachfremden Erwägungen) ist hier nicht ersichtlich, so dass die vom Bundespräsidenten gewählte Rechtsfolge der Anordnung der Auflösung des Bundestages auch insoweit keinen Bedenken begegnet. Die Auflösungsanordnung des Bundespräsidenten verstößt damit nicht gegen Art. 68 GG. Da eine Verletzung des Statusses der Antragsteller als Abgeordnete gemäß Art. 38 I 2 GG durch eine Auflösung des Bundestages nur dann in Betracht kommt, wenn eine Verletzung des Art. 68 GG vorliegt, ist eine solche - eben weil kein Verstoß gegen Art. 68 GG vorliegt - nicht gegeben. Damit ist das auf die Feststellung eines solchen Verstoßes gerichtete Organstreitverfahren unbegründet.
C. Endergebnis
Das Organstreitverfahren ist zulässig, aber unbegründet. Es hat daher keine Aussicht auf Erfolg.