Fall: Die Wahlpflicht

Die Wahlbeteiligung zum 17. Bundestag war mit etwa bundesweit 70,8 % (davon im „Osten“ sogar nur 64,8 %) historisch niedrig. So betrug sie etwa in den 70er-Jahren noch regelmäßig über 90% und in den 80er-Jahren nur unwesentlich weniger.
Ob dieses Umstands will die neue Bundesregierung zukünftig alle Wahlberechtigten dazu verpflichten, ihr Wahlrecht auszuüben. Die Fraktion der CDU hat hierzu die „zündende Idee“. Sie plant insoweit eine Verfassungsänderung des Art. 38 GG, wonach ein neuer Art. 38 IIa GG eingeführt werden soll. Das entsprechende, von ihr in den Bundestag eingebrachte Änderungsgesetz lautet wie folgt:

Es wird folgender Artikel 38 Abs. 2a Grundgesetz in das Grundgesetz eingefügt: Alle Wahlberechtigten im Sinne des Absatzes 2 sind zur Ausübung ihres Wahlrechts verpflichtet. Sie können dieser Pflicht entweder am Wahltag im Wahllokal durch persönliche Stimmabgabe oder per rechtzeitiger Briefwahl nachkommen. Die gesetzlichen Bestimmungen über die Ungültigkeit von Stimmen bleiben durch die Sätze 1 und 2 dieses Absatzes unberührt.

Der Vorschlag findet im Bundestag breite Zustimmung, so dass alsbald abgestimmt wird. Das Änderungsgesetz wird mit knapp mehr als 2/3 aller Stimmen angenommen. Im Bundesrat herrschte weniger Einigkeit. Die Abstimmung ging mit 47 zu 22 (Summe aller Stimmen ist 69), relativ zur 2/3-Mehrheit gesehen, „knapp“ aus. Besonders problematisch war, dass sich die Hamburger Vertreter nach internen Streitigkeiten, die mit den lokalen politischen Verhältnissen aufs engste verknüpft waren, stark zerstritten hatten und nur mit 2:1 dafür stimmten, wobei der Bürgermeister derjenige war, der dagegen stimmte.
Unmittelbar danach stellte sich heraus, dass der Bundespräsident wohl amtsmüde war, jedenfalls aber eine Ausfertigung durch ihn nicht stattfinden konnte, weil er sich „kurzentschlossen“ in einen Urlaub an einen bis zur damaligen „Stunde“ noch nicht näher bekannten Ort begeben hatte, nachdem er zuvor in der Presse nach seinem alleinigen Empfinden etwas zu unsanft kritisiert worden war.
Der Bundesratspräsident hatte das in seinen Augen schon immer verweichlichte Gehabe des Bundespräsidenten satt. Nachdem er mehrere Tage erfolglos versucht hatte, den Bundespräsidenten telefonisch und auch sonst zu erreichen, fertigte er das Änderungs-gesetz kurzerhand selbst aus. Es wurde anschließend im Bundesgesetzblatt verkündet.

Diejenigen Abgeordneten, die im Bundestag gegen das Änderungsgesetz gestimmt haben, sind der „festen Überzeugung“, dass dieses verfassungswidrig ist. Sie möchten von Ihnen nun wissen, ob ein entsprechender Antrag vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hätte.


Als Vorgehen vor dem Bundesverfassungsgericht kommt hier eine abstrakte Normenkontrolle in Betracht. Diese hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit
Die abstrakte Normenkontrolle müsste zulässig sein.

I. Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts
Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die abstrakte Normenkontrolle folgt aus Art. 93 I Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG.

II. Antragsberechtigung
Die den Antrag stellenden Abgeordneten (Antragsteller) müssten auch antragsberechtigt (beteiligtenfähig) sein. Gemäß § 76 I BVerfGG sind im Rahmen des Normenkontrollverfahrens die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages antragsberechtigt. Der Antrag wurde hier von den Abgeordneten, mithin von Mitgliedern des Bundestages gestellt. Vorliegend wurde der Antrag von „knapp weniger“ als 1/3 der Mitglieder des Bundestages gestellt, dies ist mehr als das erforderliche Viertel. Diese Mitglieder des Bundestages waren daher antragsberechtigt.

III. Antragsgegenstand
Das Änderungsgesetz (das die Einführung der Wahlpflicht bewirkt) müsste tauglicher Antragsgegenstand eines Normenkontrollverfahrens sein. Gemäß Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 I BVerfGG ist tauglicher Antragsgegenstand eines Normenkontrollverfahrens die Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz sowie die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht. Bei dem Änderungsgesetz zur Einführung der Wahlpflicht handelt es sich um ein Bundesgesetz und damit um einen tauglichen Antragsgegenstand.

IV. Antragsbefugnis
Die Abgeordneten müssten auch antragsbefugt sein. Nach Art. 93 I Nr. 2 GG reichen „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“ über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz dafür aus. Demgegenüber verlangt § 76 I Nr. 1 BVerfGG, dass der Antragsteller die betreffende Norm „für nichtig hält“. Hier sind die den Antrag stellenden Abgeordneten der „festen Überzeugung“, dass das Änderungsgesetz verfassungswidrig und damit nichtig ist.
Damit liegt hier ein Für-Nichtig-Halten vor. Dies ist begrifflich enger als bloße Zweifel, so dass man davon ausgehen kann, dass dieser Fall auch unter Art. 93 I Nr. 2 GG fällt. Damit kommt es auf die umstrittene Frage der Verfassungsgemäßheit des § 76 I BVerfGG hier nicht an, denn die Antragsbefugnis ist in jedem Falle gegeben.

V. Form
Der Antrag müsste das Formerfordernis des § 23 I BVerfGG beachten, wovon mangels gegenteiliger Angaben auszugehen ist. Der Einhaltung einer Frist bedarf es nicht, da der Normenkontrollantrag nicht fristgebunden ist.

Der Antrag ist zulässig.

B. Begründetheit
Der Normenkontrollantrag möchte auch begründet sein. Dies ist der Fall, soweit die angegriffene Norm verfassungswidrig ist, vgl. Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG.

I. Prüfungsmaßstab bei verfassungsändernden Gesetzen
Grundsätzlich ist Prüfungsmaßstab im Rahmen des Normenkontrollantrags das gesamte Grundgesetz. Sofern es sich bei dem Antragsgegenstand um ein verfassungsänderndes Gesetz handelt, ist Prüfungsmaßstab nicht das gesamte Grundgesetz, sondern allein Art. 79 GG (Grund: Die nicht von der Ewigkeitsgaratie des Art. 79 III GG umfassten Artikel des Grundgesetzes könnten durch das Änderungsgesetz ebenfalls geändert werden bzw. geändert worden sein). Fraglich ist damit, ob es sich hier bei dem Änderungsgesetz um ein verfassungsänderndes Gesetz handelt. Hier heißt es in dem Änderungsgesetz ausdrücklich, dass ein neuer Artikel in das Grundgesetz „eingefügt“ wird. Eine solche Einfügung neuer Vorschriften stellt eine Ergänzung und damit eine Veränderung des Grundgesetzes in seiner Gesamtheit dar. Das Änderungsgesetz ist damit ein verfassungsänderndes Gesetz und daher am Maßstab des Art. 79 GG zu messen.

II. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Das Änderungsgesetz müsste zunächst formell verfassungsmäßig sein. Das heißt, es müssten Zuständigkeit, Verfahren und Form gewahrt sein.

1. Zuständigkeit
Die Zuständigkeit des Bundes zum Erlass von verfassungsändernden Gesetzen ergibt sich aus Art. 79 I, II GG.

2. Verfahren
Das Änderungsgesetz müsste ferner auch die Verfahrensvorschriften beachten. Insoweit ist zwischen dem Einleitungsverfahren und dem Hauptverfahren zu unterscheiden.

a) Einleitungsverfahren, Art. 76 GG
Zunächst müsste das Einleitungsverfahren im Sinne des Art. 76 GG ordnungsgemäß durchgeführt worden sein. Nach Art. 76 I GG sind Gesetzesvorlagen im Bundestag durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat einzubringen. Hier wurde die Gesetzesvorlage von der Regierungsfraktion eingebracht. Diese ist in Art. 76 I GG nicht ausdrücklich aufgezählt, so dass von daher ein Verstoß vorliegen könnte.
Allerdings besteht die Regierungsfraktion auch aus Mitgliedern des Bundestages, so dass bei einer Einbringung der Gesetzesvorlage auch eine Vorlage aus der Mitte des Bundestages vorliegen könnte. Insoweit bestimmt § 76 I GO-BT, dass Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein müssen, es sei denn, dass die Geschäftsordnung etwas anderes vorschreibt oder zulässt. Danach ist grundsätzlich die Einbringung einer Gesetzesvorlage durch die Regierungsfraktion nicht zu beanstanden, so dass die Voraussetzungen des Art. 76 I GG gewahrt sind. Bedenken gegen das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 76 II, III GG sind, mangels entsprechender Anhaltspunkte, nicht ersichtlich.

b) Hauptverfahren
Ferner müsste das Hauptverfahren (Beschlussverfahren) ordnungsgemäß durchgeführt worden sein. Insoweit lässt sich zwischen dem Verfahren beim Bundestag und demjenigen beim Bundesrat unterscheiden.

aa) Verfahren beim Bundestag
Zunächst müssten die für den Bundestag geltenden Verfahrensvorschriften beachtet worden sein.

(1) Voraussetzungen des Art. 77 I GG
Der gemäß Art. 77 I 1 GG i. V. m. § 86 GO-BT erforderliche Beschluss des Bundestages ist vorliegend erfolgt.

(2) Voraussetzungen des Art. 79 II GG
Nach Art. 79 II GG bedarf ein verfassungsänderndes Gesetz der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages. Hier haben „knapp mehr“ als zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages für das Änderungsgesetz gestimmt, so dass Art. 79 II GG im Hinblick auf den Bundestag eingehalten worden ist.

bb) Mitwirkung des Bundesrats
Ferner müsste auch die Mitwirkung des Bundesrats ordnungsgemäß abgelaufen sein. Bei einem verfassungsändernden Gesetz bedarf es gemäß Art. 79 II GG auch zwei Drittel der Stimmen des Bundesrats. Hier erfolgte die Abstimmung dergestalt, dass 47 von insgesamt 69 Bundesratsmitgliedern für das Änderungsgesetz stimmten. Dies entspricht einer Stimmenmehrheit von mehr als zwei Dritteln.
Fraglich ist aber, ob die Stimmen der Hamburger Mitglieder des Bundestages gültig waren, da sie uneinheitlich abgestimmt haben. Nach Art. 51 III 2 GG dürfen die Stimmen eines Landes im Bundesrat nur „einheitlich“ abgegeben werden können. Da dies hier nicht erfolgt ist, liegt ein Verstoß gegen Art. 51 III 2 GG vor. Fraglich und umstritten ist, welche Auswirkungen dieser Verstoß hat.

(1) Stimme des Ministerpräsidenten maßgebend
Nach einer Ansicht ist die Stimme des Ministerpräsidenten ausschlaggebend in dem Sinne, dass er die anderen Stimmen „umstimmt“, sie also wie seine gewertet werden. Hier hat der Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, als funktionales Äquivalent eines Ministerpräsidenten, gegen das Änderungsgesetz gestimmt. Damit wären nach dieser Ansicht alle Hamburger Stimmen als „dagegen“ zu werten, so dass die Abstimmung nur 45:24 ausgegangen wäre, was rechnerisch etwa 65% Pro-Stimmen bedeutet (45:69), so dass keine Zwei-Drittel-Mehrheit mehr gegeben wäre.

(2) Ungültigkeit der Landesstimmen
Nach anderer Ansicht sind die Stimmen des betreffenden Landes ungültig. Sie entfallen damit bei der Beurteilung der Mehrheit. Dies führt vorliegend dazu, dass von dann 66 Gesamtstimmen (69 ursprüngliche Gesamtstimmen minus 3 ungültige Stimmen) „nur“ noch 45 Stimmen dafür sind. Prozentual bedeutet dies aber, dass noch 45 von 66 Stimmen, mithin etwa 68%, für das Änderungsgesetz sind. Damit läge in diesem Fall eine Zwei-Drittel-Mehrheit vor.

(3) Stellungnahme
Gegen die erste Ansicht spricht insbesondere der Sinn und Zweck der Vorschriften über die Zusammensetzung des Bundesrats i.V.m. Art. 51 III 2 GG, dass es sich um mehrere Abstimmende handelt. Ihrer bedürfte es nicht, wenn „ohnehin“ immer nur die Stimme des Ministerpräsidenten zählte. Dagegen spricht auch nicht, dass die Stimmen nach Art. 51 III 2 GG „einheitlich“ sein müssen, weil so den anderen Abstimmenden die Möglichkeit zukommt, die Stimmen insgesamt ungültig zu machen und so ihrer Stimme, und damit ihrer Aufgabe als an der Abstimmung Teilnehmender, ein Gewicht zu verleihen.
Vor diesem Hintergrund ist die zweite Ansicht vorzugswürdig. Damit war die auch die Beschlussfassung im Bundesrat verfassungsgemäß.

3. Form
Ferner müssten die gegebenen Formvorschriften gewahrt sein. Bedenken gegen die Einhaltung der Vorschrift des Art. 58 S. 1 GG (Gegenzeichnung des Bundeskanzlers) bestehen, mangels gegenteiliger Anhaltspunkte, nicht.

a) Beachtung der Voraussetzungen des Art. 79 I 1 GG
Art. 79 I 1 GG legt bzgl. der Form fest, dass das Grundgesetz nur durch ein Gesetz geändert werden kann, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Hier ergibt sich aus dem Wortlaut des Änderungsgesetzes, dass eine Ergänzung und damit Änderung des Grundgesetzes (s.o.) stattfindet, so dass die Anforderungen des Art. 79 I 1 GG gewahrt sind.

b) Beachtung der Voraussetzungen des Art. 82 I 1 GG
Nach Art. 82 I 1 GG sind Bundesgesetze zudem vom Bundespräsidenten auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Ersteres ist hier nicht erfolgt, da der Bundespräsident nicht erreichbar war und die Ausfertigung daher vom Bundesratspräsidenten vorgenommen wurde. Fraglich ist, ob darin ein Verstoß gegen die Erfordernisse des Art. 82 I 1 GG liegt.
Der Bundespräsident könnte vom Bundesratspräsidenten vertreten worden sein. Die Vertretung des Bundespräsidenten regelt Art. 57 GG. Danach werden die Befugnisse des Bundespräsidenten im Falle seiner Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen. Hier dürfte durch den kurzfristig „genommenen“ Urlaub und die Unerreichbarkeit der Fall einer Verhinderung des Bundespräsidenten vorgelegen haben, so dass der Bundesratspräsident ihn vertreten durfte. Dies umfasst auch die Ausfertigung von Gesetzen, so dass kein Verstoß gegen die Erfordernisse des Art. 82 I 1 GG gegeben ist.

Das Änderungsgesetz ist formell verfassungsgemäß.

III. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das Änderungsgesetz müsste auch materiell verfassungsgemäß sein. Da es sich hier um ein verfassungsänderndes Gesetz handelt (s.o.), ist Prüfungsmaßstab für die materielle Verfassungsmäßigkeit allein Art. 79 III GG. Danach ist eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig. Von diesen unveränderlichen Vorgaben des Grundgesetzes kommen hier Art. 1 GG und Art. 20 GG als möglicherweise betroffen in Betracht.

1. Verstoß gegen Art. 1 GG
Die Wahlpflicht des Art. 38 IIa 1 GG könnte gegen die in Art. 1 I 1 GG verbürgte Menschenwürde verstoßen. Die Menschenwürde ist betroffen, wenn der Mensch zum bloßen Objekt staatlichen Handelns wird. Die Wahlpflicht des Art. 38 IIa 1 GG zielt allein darauf, dass der Wähler den Wahlakt ausführt, legt ihm also lediglich eine Wahlhandlung, nicht aber eine bestimmte Wahlentscheidung auf. Der Wähler behält damit ein großes Maß an (inhaltlicher) Entscheidungsfreiheit und wird deshalb jedenfalls nicht zu einem Objekt staatlichen Handelns im Sinne des Art. 1 I 1 GG. Der Grundsatz der Menschenwürde ist folglich nicht berührt.

2. Verstoß gegen Art. 20 I, II (Demokratieprinzip)
Bzgl. der in Art. 38 IIa 1 GG vorgesehenen Wahlpflicht könnte eine Verletzung des aus Art. 20 I, II GG abzuleitenden Demokratieprinzips gegeben sein. Zum Demokratieprinzip gehört insbesondere auch die Ausübung der Staatsgewalt durch das Volk durch Wahlen oder andere Abstimmungen. Gehört damit insbesondere das Stattfinden von Wahlen zum Demokratieprinzip, so stellt sich die weitergehende Frage, ob auch die Freiheit der Wahl Bestandteil des Demokratieprinzips ist.

a) Verstoß gegen die Wahlentscheidungsfreiheit
Insoweit ist zunächst unstrittig, dass eine freie, Mehrheitsverhältnisse schaffende und ändernde - mithin demokratische - Wahl nur gegeben sein kann, wenn zumindest die Frage der Wahlentscheidung in der Weise frei ist, dass kein Zwang besteht, aus den angebotenen Wahloptionen eine positive Wahl zu treffen, sondern es vielmehr auch möglich ist, sich gegen alle angebotenen Wahloptionen auszusprechen. Diese sog. Wahlentscheidungsfreiheit müsste vorliegend auch nach Einführung einer Wahlpflicht gewährleistet sein.
Vorliegend besteht auch nach dem Änderungsgesetz die Möglichkeit, eine ungültige Stimme abzugeben, so dass auf diesem Wege eine Entscheidung gegen alle angebotenen Wahloptionen möglich ist (vgl. Satz 3 des Art. 38 IIa GG). Damit verstößt die Wahlverpflichtung des Art. 38 IIa 1 GG jedenfalls nicht gegen die Wahlentscheidungsfreiheit.

b) Verstoß gegen eine Wahlbeteiligungsfreiheit
Das Demokratieprinzip wäre auch dann verletzt, wenn ihm eine Wahlbeteiligungsfreiheit (auch im Sinne einer negativen Wahlfreiheit) zuzurechnen wäre, die durch die Wahlpflicht des Art. 38 IIa 1 GG verletzt wäre.
Zu fragen ist insofern, ob das Demokratieprinzip auch die Freiheit des Bürgers umfasst, Wahlen und Abstimmungen, die der Ausübung der Staatsgewalt dienen, gänzlich fernzubleiben.
Würde das Volk dies in Gänze so handhaben, begäbe es sich seiner „Aufgabe“ aus Art. 20 II 1 GG und stellte Bestand und Funktionsfähigkeit des demokratischen Gemeinwesens in Frage. So wird von einer Ansicht vertreten, dass eine Wahlbeteiligungsfreiheit jedenfalls nicht zwingender Inhalt des Demokratieprinzips nach Art. 20 I, II GG sei, so dass es danach auch nicht durch die Einführung der in Art. 38 IIa 1 GG vorgesehenen Wahlpflicht verletzt wäre. Diese Ansicht hält daher eine Wahlpflicht für verfassungsgemäß.
Nach anderer Ansicht ist die Einführung einer Wahlpflicht dagegen grundgesetzwidrig, da auch die negative Wahlfreiheit gewährleistet sei. Überdies lasse sich aus Art. 20 GG auch nicht zwingend ableiten, dass das Volk verpflichtet ist, seine Staatsmacht tatsächlich auszuüben.
Die zweite Auffassung ist vorzugswürdig. Es ist nicht ersichtlich, dass die für eine Demokratie unabdingbare Freiheit der Wahl nicht auch die Freiheit des „ob“ der Wahl (negative Wahlfreiheit) umfassen soll. Es leuchtet auch nicht ein, worin der Zweck liegen soll, die Bürger zur Wahl zu zwingen, wenn ihnen dann immer noch die Möglichkeit bleiben muss, eine ungültige und damit letztlich „gar keine“ Stimme abzugeben. Daher muss es vielmehr gerade zur notwendigen Freiheit der Wahl gehören, dass der Bürger ggf. von seiner (negativen) Wahlfreiheit Gebrauch macht und daher ggf. auch gar nicht zur Wahl geht, anstatt bloß „pro forma“ hinzugehen bzw. hingezwungen zu werden, um dann ungültig und damit faktisch „nicht“ zu wählen. Nach allem verstößt damit die Wahlpflicht des Art. 38 IIa 1 GG gegen die Wahlbeteiligungsfreiheit und damit gegen das Demokratieprinzip.

Anm.: Insoweit ist eine andere Ansicht durchaus vertretbar. Kein Argument für eine Zulässigkeit einer Wahlpflicht ist aber, dass es eine solche in anderen Staaten (Belgien, Griechenland, Italien, Luxemburg, Zypern) gibt. Vor allem ist dies - natürlich - kein Argument für eine Verfassungsmäßigkeit.

3. Verstoß gegen Art. 20 I, II (Rechtsstaatsprinzip)
Möglicherweise könnte die Wahlpflicht des Art. 38 IIa 1 GG auch gegen das ebenfalls in Art. 20 I, II GG verankerte Rechtsstaatsprinzip verstoßen. In Betracht kommt dabei insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dabei ist zum Teil umstritten, ob dieser ursprünglich im Zusammenhang mit den Freiheitsgrundrechten hergeleitete Grundsatz überhaupt zum Kernbestand des Rechtsstaatsprinzips zu rechnen ist. Für eine Zurechnung zum allgemeinen Rechtsstaatsprinzip spricht, dass sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seit seiner „Entdeckung“ mehr und mehr von der alleinigen Anwendung im Bereich der Grundrechte gelöst hat und nunmehr vielfach auch in anderem Zusammenhang, u.a. auch im europarechtlichen Bereich, „isoliert“ Anwendung und Beachtung findet.
Die Einführung der Wahlpflicht müsste also verhältnismäßig sein. Dazu müsste die Wahlpflicht einen nach dem Grundgesetz legitimen Zweck verfolgen, zur Zweckerreichung geeignet und erforderlich sein sowie in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen.

a) Legitimer Zweck
Zunächst müsste der mit der Wahlpflicht verfolgte Zweck legitim sein. Vorliegend bezweckt das Änderungsgesetz mit dem darin enthaltenen Art. 38 IIa 1 GG eine Wahlpflicht für alle Wahlberechtigten im Sinne des Art. 38 II GG einzuführen, da die Zahl der Wahlberechtigten, die an den Wahlen teilnehmen, seit geraumer Zeit abnimmt. Das Ziel, die Zahl der Wähler, und damit die Zahl derjenigen, die aktiv an der politischen Willensbildung in der Demokratie teilnehmen zu erhöhen, ist ein die Demokratie stärkendes und damit legitimes Ziel.

b) Geeignetheit
Die Einführung der Wahlpflicht müsste auch geeignet, d.h. der Zweckerreichung förderlich sein. Dies ist in Bezug auf die Wahlpflicht fraglich. Zwar sind die Bürger gezwungen, das Wahllokal aufzusuchen oder eine Briefwahl durchzuführen. Es ist auch möglich, dass dadurch die Wahlbeteiligung (im Sinne einer quantitativen Steigerung der abgegebenen Stimmen) ansteigt. Letztlich geht es aber auch nicht darum, dass der Wähler irgendwie seiner Wahlpflicht nachkommt und im Verdruss „irgendwas“ wählt. Insoweit ist schon die Geeignetheit sehr fraglich. Dies auch und gerade, weil sich der gezwungene Wahlbürger jedenfalls in der Wahlkabine der Stimme enthalten oder eine ungültige Stimme abgeben könnte, erschöpfte sich die Verpflichtung in der Abgabe des Stimmzettels und damit in der Anordnung einer leeren Verpflichtung, die zu dem Zweck des Zwanges - erhöhte Legitimation des Parlaments - nichts beitrüge. Vor diesem Hintergrund wird man die Wahlpflicht als ungeeignet und damit unverhältnismäßig ansehen können.

Anmerkung: Ebenso lässt sich hier die Gegenauffassung vertreten, dass zumindest nicht auszuschließen ist, dass sich die Zahl der abgegebenen und in diesem Zuge „ernstgemeinten“ Stimmen tatsächlich erhöhte und so der Zweck der Wahlpflicht erreicht würde. Da dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Geeignetheit aber ein gewisser Einschätzungsspielraum zukommt, der nach dieser Ansicht - aufgrund der jedenfalls theoretisch gegebenen Möglichkeit, dass die Wahlbeteiligung tatsächlich steigt - wohl auch nicht überschritten wäre, ließe sich die Wahlpflicht nach dieser Ansicht als geeignet ansehen.
Die Maßnahme müsste dann aber auch erforderlich sein, das heißt, es dürfte kein milderes Mittel gleicher Eignung geben. Milder wäre bspw., mit Appellen an die Bevölkerung zu treten. Es ist auch möglich, dass dies eher zu einer „motivierten“ (anstelle einer „unmotivierten“) Teilnahme führte. Letztlich geht der Gesetzgeber aber offensichtlich davon aus, dass dieser Weg nicht gleich effektiv ist. Auch insoweit steht ihm eine Einschätzungsprärogative zu, deren Grenzen hier nicht ersichtlicherweise überschritten sind.
Fraglich ist ferner, ob es milder wäre, eine moderate Ersatzzahlung für eine Nichtwahl zu verlangen. Dies gäbe dem Bürger in gewisser Weise ein Wahlrecht insofern, als er entscheiden könnte, ob er tatsächlich den Akt der Wahl vollzieht oder sich gewissermaßen „freikauft“. Allein der Umstand, dass er insoweit nicht mehr zur Wahl „gezwungen“ ist, lässt diese Variante als milder erscheinen. Sie wäre aber angesichts des Zwecks des Gesetzes nicht gleich effektiv, da es ja alleine darum geht, den Bürger tatsächlich zum Akt der Wahl verpflichten (zu zwingen) und dem Gesetzgeber auch insoweit eine Einschätzungsprärogative zusteht.
Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, was der Staat eigentlich „machen will“, wenn der Bürger trotz Wahlpflicht nicht wählt. Letztlich wird er die Pflicht nur über Buß- oder Zwangsgelder durchsetzen können (eine Zwangshaft schließt sich hinsichtlich der Angemessenheit, aber auch faktisch aus). Letztlich läuft es damit auch tatsächlich auf eine Art Wahlrecht im Hinblick auf das „ob“ hinaus, da hohe Bußgelder kaum opportun wären. Dies führt dann letztlich auf die - fragliche - Sinnhaftigkeit (Geeignetheit) dieser Regelung zurück. Letztlich würde man aber, nach dieser Ansicht, auch vor diesem Hintergrund keine Überschreitung der Einschätzungsprärogative annehmen können, so dass noch die Angemessenheit zu prüfen wäre. Diese ließe sich mit den Argumenten dieser Ansicht wohl ebenfalls bejahen, wobei man sich aber mit der „Kosten-Nutzen-Situation“ (wahrscheinlich geringer Nutzen und hohe Verwaltungskosten) noch näher auseinanderzusetzen hätte.

Damit liegt auch ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und ein Verfassungsverstoß im Sinne des Art. 79 III i.V.m. Art. 20 I, II GG vor. Das Änderungsgesetz verstößt damit gegen unabänderliche Grundsätze des Grundgesetzes im Sinne des Art. 79 III und ist daher (materiell) verfassungswidrig.

C. Gesamtergebnis/Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Die abstrakte Normenkontrolle ist zulässig und begründet. Sie hat daher Aussicht auf Erfolg. Entsprechend wird das Bundesverfassungsgericht das Änderungsgesetz gemäß § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklären. Gemäß § 31 II 1 BVerfGG kommt dieser Entscheidung Gesetzeskraft zu.