Reformatio in peius ("Verböserung")
Aufbau der Prüfung - Reformatio in peius („Verböserung“)
Die reformatio in peius betrifft den sogenannten Fall der „Verböserung“ im Widerspruchsbescheid. Die reformatio in peius betrifft insbesondere den Fall, ob eine „Verböserung“ im Widerspruchsverfahren erfolgen darf. Beispiel: A erhält eine Gaststättenerlaubnis verbunden mit der Auflage, noch fünf weitere Toiletten einzubauen. A geht davon aus, dass die Gaststättenerlaubnis in Ordnung ist, nicht jedoch die dazugehörige Auflage. A legt gegen den Zusatz Widerspruch ein. Daraufhin erlässt die Behörde einen Widerspruchsbescheid, in dem sie dem A nunmehr aufgibt, 10 weitere Toiletten einzubauen. Zudem verbietet die Behörde dem A,Tanzlustbarkeiten abzuhalten. Im Ergebnis erhebt A Klage. Die reformatio in peius wirkt sich innerhalb der Klage an sieben Punkten aus.
A. Zulässigkeit
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
Im Rahmen der Zulässigkeit spielt die reformatio in peius im Rahmen der Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs keine Rolle.
II. Statthaftigkeit
Allerdings wirkt sich die reformatio in peius bei der statthaften Klageart aus. Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Klagebegehren, § 88 VwGO. Im vorliegenden Fall ergibt eine Auslegung, dass sich A im Zweifel nur gegen die zusätzlichen Bestimmungen des Widerspruchsbescheides wenden will, nämlich den Einbau von 10 Toiletten und das Verbot von Tanzlustbarkeiten. Da es sich hierbei um zwei Verwaltungsakte handelt, kommt als statthafte Klageart die Anfechtungsklage in Betracht, vgl. § 42 I 1. Fall VwGO. Normalerweise ist der Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids Gegenstand der Anfechtungsklage, vgl. § 79 I 1 VwGO. Beispiel: A wird Adressat einer Abrissverfügung. Hiergegen legt er Widerspruch ein. Es ergeht ein gleich lautender Widerspruchsbescheid. Formal gesehen ist also der Ausgangsbescheid in der identischen Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheids erhalten hat, Gegenstand der Anfechtungsklage. Weicht der Widerspruchsbescheid vom Ausgangsbescheid ab, enthält er insbesondere eine „Verböserung“, dann kann immer noch gegen den Ausgangsbescheid und den Widerspruchsbescheid vorgegangen werden. Geht A im Ausgangsfall nur gegen die Bestimmung der 10 Toiletten vor, lässt er die im Ausgangsbescheid aufgegebenen fünf Toiletten außer acht. Dies wird er nur dann tun, wenn er eingesehen hat, dass der Einbau weiterer fünf Toiletten – wie im Ausgangsbescheid vorgesehen – erforderlich ist. Dies wäre ein isoliertes Vorgehen gegen die zusätzliche Beschwer des Widerspruchsbescheid, eine sogenannte „echte“ reformatio in peius, vgl. § 79 II VwGO. Denn die bereits vorhandene Beschwer (Einbau von fünf Toiletten) wurde noch einmal verschärft (nun Einbau von 10 Toiletten). Möchte A sich auch gegen die im Ausgangsbescheid aufgegebenen fünf Toiletten wehren, muss er zusätzlich gegen den Ausgangsbescheid vorgehen, vgl. § 79 I Nr. 1 VwGO. Der Fall der unechten reformatio in peius betrifft dagegen den Fall, dass der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält, vgl. § 79 I Nr. 2 VwGO. Die betrifft im vorliegenden Fall die Beschwer der Tanzlustbarkeiten, die erstmalig im Widerspruchsbescheid auftaucht, denn sie war im Ausgangsbescheid noch gar nicht angelegt. In diesem Fall handelt es sich streng genommen nicht um eine „Verböserung“, sondern um das erstmalig aufgetauchte „Böse“. Daher wird eine solche Situation als „unechte“ reformatio in peius bezeichnet. Allerdings werden beide Fälle der reformatio in peius prozessual gleich behandelt.
III. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen
1. Klagebefugnis, § 42 II VwGO
2. Vorverfahren, §§ 68 ff. VwGO
In den besonderen Sachurteilsvoraussetzungen hat die reformatio peius erst wieder Auswirkungen im Rahmen des erfolglos durchgeführten Vorverfahrens, vgl. § 68 VwGO. Im Normalfall muss vor Erhebung der Anfechtungsklage ein Vorverfahren erfolglos durchgeführt worden sein. Im Falle der „Verböserung“ stellt sich die Frage, ob man gegen den verbösernden Widerspruchsbescheid neuerlich Widerspruch einlegen muss. Enthält der Widerspruch erstmalig eine Beschwer, so entfällt die Voraussetzung des erfolglos durchgeführten Vorverfahrens gemäß § 68 I 2 Nr. 2 VwGO. Daraus ergibt sich, dass nicht noch einmal Widerspruch eingelegt werden muss, sondern sogleich geklagt werden kann. Dies gilt entgegen des Wortlauts erst recht auch für die „echte“ reformatio in peius. Wenn sogar bei der erstmaligen Beschwer ein erneuter Widerspruch entbehrlich ist, dann muss dies erst Recht gelten, wenn dem Sachverhalt bereits eine Vorgeschichte zugrunde liegt und die Behörde die Beschwer im Widerspruchsbescheid noch verschärft.
3. Klagefrist, § 74 I VwGO
Im Fall der reformatio in peius richtet sich die Klagefrist nach § 74 I 2 VwGO. Grundlage für die Berechnung der Frist ist der Widerspruchsbescheid wegen Entbehrlichkeit des weiteren Vorverfahrens gemäß § 68 I 2 Nr. 2 VwGO.
4. Klagegegner, § 78 I VwGO
IV. Allgemeine Sachurteilvoraussetzungen
Im Rahmen der weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage (Klagegegner und allgemeine Sachurteilsvoraussetzungen) wirkt sich die reformatio in peius nicht weiter aus.
B. Begründetheit
In der Begründetheit wird wie üblich die Anfechtungsklage geprüft. Diese ist auch in der Konstellation der reformatio in peius begründet, soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, vgl. § 115 VwGO.
I. Rechtswidrigkeit
Es wird somit zunächst die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes geprüft.
1. Ermächtigungsgrundlage
Sogleich stellt sich das Problem der Ermächtigungsgrundlage bei der reformatio in peius.
a) Eine Ansicht
Eine andere Ansicht erblickt in dem verbösernden Widerspruchsbescheid stets eine Teilaufhebung dessen, was vorher da war, und zieht daher die Vorschriften über Rücknahme und Widerruf heran. Dies kann aus Spezialgesetz erfolgen oder nach den §§ 48, 49 VwVfG.
b) Andere Ansicht (h. M.)
Die herrschende Meinung zieht hingegen die Ermächtigungsgrundlage für den Ausgangsverwaltungsakt heran.
c) Stellungnahme
Als Argument führt die erste Ansicht den Vertrauensschutz an. Danach wäre es im Hinblick auf die Voraussetzung „kein schutzwürdiges Vertrauen“ des § 48 VwVfG und die engen Voraussetzungen der Widerrufsgründe des § 49 VwVfG vergleichsweise schwierig eine „Verböserung“ vorzunehmen.
Die andere Ansicht argumentiert damit, dass der Widerspruchsführer durch Einlegung des Widerspruchs des Vertrauens begeben hat. Dies ist die Formulierung des BVerwG. Schließlich hat der Widerspruchsführer Widerspruch eingelegt, um eine erneute Überprüfung der Sachlage herbeizuführen. Er geht damit das Risiko ein, dass sich die Ausgangssituation für ihn verschlechtert. Zudem bleibt es dem Widerspruchsführer unbenommen, sogar isoliert gegen die „Verböserung“ klagen.
2. Formelle Rechtmäßigkeit
a) Zuständigkeit
Im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit wirkt sich die reformatio in peius zunächst bei der Zuständigkeit aus. Fraglich ist hierbei, ob die Widerspruchsbehörde für die Verböserung im Widerspruchsbescheid zuständig ist. Bei Behördenidentität, wenn also Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind, dann bestehen keine Bedenken gegen die Zuständigkeit, da dieselbe Behörde handelt. Sind Ausgangs- und Widerspruchsbehörde nicht identisch, weil beispielsweise die nächst höhere Behörde für den Widerspruch zuständig ist, muss differenziert werden. Nur bei der „echten“ reformatio in peius, also der Verböserung der Beschwer des Ausgangsbescheids, ist die Zuständigkeit zu bejahen, vgl. § 79 II VwGO. Als Argument dient der effektive Rechtsschutz gemäß Art. 19 IV GG. Denn bei der „echten“ reformatio in peius hat die Ausgangsbehörde bereits Stellung zur Sache genommen, bevor die Widerspruchsbehörde eine Verböserung vorgenommen hat, sodass der Bürger von Ausgangs- und Widerspruchsbehörde eine Entscheidung erhalten hat und muss dann klagen. Etwas anderes gilt im Fall der „unechten“ reformatio in peius. Da der Bürger gegen die erstmalige Beschwer im Widerspruchsbescheid nicht mit einem Widerspruch vorgehen kann, sondern gleich klagen muss, geht ihm eine behördliche Instanz verloren. Deshalb darf die Widerspruchsbehörde nicht erstmalig über solch eine „Verböserung“ entscheiden. Zudem dürfte die Ausgangsbehörde nicht glücklich sein, wenn sie nicht die Gelegenheit bekommen hat, über den Gegenstand der „Verböserung“ zunächst selbst zu befinden.
b) Verfahren
Im Rahmen des Verfahrens stellt sich sodann die Frage, ob die Behörde anlässlich der „Verböserung“ im Widerspruchsbescheid den Widerspruchsführer erneut anhören muss. § 71 VwGO stellt insoweit klar, dass eine solche erneute Anhörung erforderlich ist.
c) Form, § 73 II VwGO
Der Widerspruchsbescheid muss zudem den Formanforderungen des § 73 III VwGO genügen und kann daher nicht formfrei ergehen.
Auf die Prüfungspunkte der materiellen Rechtmäßigkeit und der Rechtsverletzung des Klägers hat die reformatio in peius keine Auswirkungen.
3. Materielle Rechtmäßigkeit
a) Voraussetzungen
b) Rechtsfolgen
II. Rechtsverletzungen
Beachte: In bestimmte Fällen existiert insgesamt ein Verböserungsverbot unter dem Blickwinkel des effektiven Rechtsschutzes. Dies gilt beispielsweise bei Prüfungsanfechtungen. Beispiel: Ist A mit seiner Examensnote nicht zufrieden, müsste er sich normalerweise überlegen, ob er im Falle einer Anfechtung der Note deren weitere Verschlechterung riskieren möchte. Um dies zu verhindern, gilt in diesem Fall ein Verböserungsverbot. Ficht A die Examensnote an, so kann sich diese nicht durch nachträgliche Entscheidung verschlechtern.