Zivilrechtliche Rechtfertigungsgründe
Zivilrechtliche Rechtfertigungsgründe
Die strafrechtliche Tat kann durch zivilrechtliche Tatbestände gerechtfertigt sein. Zu unterscheiden sind der zivilrechtliche Notstand (§§ 904, 228 BGB) und zivilrechtliche Selbsthilferechte (§§ 229, 230, 859, 562b BGB).
Zivilrechtlicher Notstand
Die zivilrechtlichen Notstände stellen Spezialfälle des § 34 StGB dar.1 Nach § 904 S. 1 BGB ist der Eigentümer einer Sache nicht berechtigt, die Einwirkung eines anderen auf die Sache zu verbieten, wenn die Einwirkung zur Abwendung2 einer gegenwärtigen Gefahr notwendig und der drohende Schaden gegenüber dem aus der Einwirkung dem Eigentümer entstehende Schaden3 unverhältnismäßig groß ist.
Man spricht insoweit vom „Aggressivnotstand“, weil der Täter in Rechtsgüter des unbeteiligten Eigentümers eingreift, obwohl von ihm kein rechtswidriger Angriff ausgeht (dann: Notwehr, § 227 BGB) und die Gefahr auch nicht von seiner Sache herrührt (dann: Verteidigungsnotstand, § 228 BGB).4 Typisch für § 904 BGB ist die schädigende Benutzung eines fremden Gegenstands in einer Notwehrsituation; Beispiel: Der in einen Schneesturm geratene Wanderer bricht in eine Hütte ein (§ 303 I StGB) und verheizt dort Holz (§ 242 StGB), um sich vor dem Erfrieren zu schützen.
§ 228 BGB betrifft demgegenüber Fälle, in denen der Notstandstäter sich oder einen anderen gegen Gefahren verteidigt, die von Sachen5 drohen. Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um6 eine durch sie drohende Gefahr7 von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die Beschädigung oder die Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist und der Schaden8 nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht (§ 228 S. 1 BGB).
Man spricht insoweit vom „Defensivnotstand“, weil der Notstandstäter auf die Gefahrenquelle selbst einwirkt. Hauptfall des § 228 BGB ist die Abwehr von Tierangriffen (vgl. § 90a S. 3 BGB).
Das Prüfungsprogramm ergibt sich aus den nachstehenden Aufbauschemata:
Aggressivnotstand (§ 904 BGB)
- Objektive Rechtfertigungselemente
- Notstandslage: Gegenwärtige Gefahr
- Notstandshandlung: Notwendige Einwirkung auf eine fremde Sache
- Interessenabwägung: Drohender Schaden ist gegenüber entstehendem Schaden unverhältnismäßig groß
- Subjektives Rechtfertigungselement: Rettungsabsicht
Defensivnotstand (§ 228 BGB)
- Objektive Rechtfertigungselemente
- Notstandslage: Von einer Sache ausgehende Gefahr
- Notstandshandlung: Erforderliche Beschädigung/Zerstörung der Sache
- Interessenabwägung: Schaden an der Sache steht nicht außer Verhältnis zur drohenden Gefahr
- Subjektives Rechtfertigungselement: Verteidigungsabsicht
Zivilrechtliche Selbsthilferechte
Die zivilrechtlichen Selbsthilferechte ergänzen den § 32 StGB und haben Notwehrersatzfunktion.9
Wer zum Zwecke10 der Selbsthilfe eine Sache wegnimmt, zerstört oder beschädigt oder einen Verpflichteten, welcher der Flucht verdächtig ist, festnimmt oder den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist, beseitigt, handelt nicht widerrechtlich, wenn obrigkeitliche Hilfe11 nicht rechtzeitig zu erlangen ist und ohne sofortiges Eingreifen die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung des Anspruchs12 vereitelt oder wesentlich erschwert13 wird (§ 229 BGB). Die Selbsthilfe darf allerdings nicht weiter gehen, als es zur Abwendung der Gefahr erforderlich14 ist (§ 230 I BGB).15
Liegen die Voraussetzungen der §§ 229, 230 BGB nicht vor und ist die Selbsthilfe danach rechtswidrig, ist der Handelnde selbst dann zum Schadensersatz verpflichtet, wenn der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht (§ 231 BGB).
§ 859 BGB regelt die Selbsthilfe des Besitzers.16 Der Besitzer darf sich verbotener Eigenmacht mit Gewalt erwehren (§ 859 I BGB, Besitzwehr).
Verbotene Eigenmacht liegt vor, wenn der Besitz ohne den Willen des Besitzers entzogen oder gestört wird und das Gesetz die Entziehung oder Störung nicht gestattet (§ 858 I BGB). Derartige Handlungen sind gemäß § 858 I BGB widerrechtlich mit der Folge, dass ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff auf die Sache vorliegt. Deshalb hat § 859 I BGB gegenüber § 32 StGB kaum eigenständige Bedeutung.
Wird eine bewegliche Sache dem Besitzer mittels verbotener Eigenmacht weggenommen, so darf er sie dem auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter mit Gewalt wieder abnehmen (§ 859 II BGB; Besitzkehr bei beweglichen Sachen). Wird dem Besitzer eines Grundstücks der Besitz durch verbotene Eigenmacht entzogen, so darf er sofort17 nach der Entziehung sich des Besitzes durch Entsetzung des Täters wieder bemächtigen (§ 859 III BGB; Besitzkehr bei Grundstücken).
Die Besitzkehr ist nur in engen zeitlichen Grenzen zulässig („auf frischer Tat“ bzw. „sofort“); sie kann also nur unmittelbar im Anschluss an die Tat ausgeübt werden.18
Weitere zivilrechtliche Selbsthilferechte sind vor allem das Selbsthilferecht des Vermieters (§ 562b BGB), des Verpächters (§ 592 S. 4 i. V. m. § 562b BGB) und des Gastwirts (§ 704 S. 2 i. V. m. § 562b BGB).
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 20 Rn. 1 – 9.
- Aus der Formulierung „zur Abwendung“ folgt, dass als subjektives Rechtfertigungselement eine Rettungsabsicht im Sinne eines zielgerichteten Rettungswillens erforderlich ist (str.).
- Der duldungspflichtige Eigentümer hat nach § 904 S. 2 BGB einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch, der sich nach h. M. grundsätzlich gegen den Einwirkenden richtet (BGH, Urt. v. 13.05.1952 – I ZR 147/51, BGHZ 6, 102, 107; Hk-BGB/Schulte-Nölke, 10. Aufl. 2019, § 904 Rn. 3 f.).
- Hk-BGB/Schulte-Nölke, 10. Aufl. 2019, § 904 Rn. 1.
- Hierdurch wird eine Lücke geschlossen, die § 32 StGB mit dem Erfordernis eines menschlichen Angriffs hinterlässt.
- Aus der Formulierung „um … abzuwenden“ folgt, dass als subjektives Rechtfertigungselement eine Verteidigungsabsicht erforderlich ist (str.).
- Eine Gefahr droht, wenn nach den tatsächlichen Umständen der Eintritt eines Schadens nahe liegt.
- Hat der Handelnde die Gefahr verschuldet, so ist er zum Schadensersatz verpflichtet (§ 228 S. 2 BGB). § 228 S. 2 BGB begründet einen verschuldensabhängigen Schadensersatzanspruch.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 21 Rn. 1 – 25.
- Aus der Formulierung „zum Zwecke“ folgt, dass als subjektives Rechtfertigungselement eine Selbsthilfeabsicht im Sinne eines zielgerichteten Wollens erforderlich ist (str.).
- Staatliche Hilfe hat stets Vorrang. Dazu gehören Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes (§§ 916 ff. ZPO) und Zwangsvollstreckungstätigkeiten.
- Der – i.d.R. auf Geldzahlung oder Herausgabe gerichtete – Anspruch muss durchsetzbar und einredefrei sein. Es muss sich zudem um einen eigenen Anspruch des Handelnden handeln; fremde Ansprüche sind nicht selbsthilfefähig (Hk-BGB/Dörner, 10. Aufl. 2019, §§ 229-231 Rn. 2).
- Hierzu reicht das Wegschaffen der geschuldeten Sache oder die Flucht des Schuldners ins Ausland, nicht aber Beweisschwierigkeiten (BGH, Urt. v. 11.05.1962 – 4 StR 81/62, BGHSt 17, 328, 331), eine finanzielle Notlage oder eine drohende Insolvenz des Schuldners (Hk-BGB/Dörner, 10. Aufl. 2019, §§ 229-231 Rn. 3).
- Erforderlich i.S.v. § 230 I BGB ist das mildeste zur Verfügung stehende Mittel, das die Gefahr abwendet und dadurch die Anspruchsverwirklichung sichert.
- Das zivilrechtliche Selbsthilferecht gestattet keine eigenmächtige Befriedigung des zivilrechtlichen Anspruchs, sondern nur eine vorläufige Sicherung (vgl. § 230 BGB).
- Das Selbsthilferecht des Besitzers nach § 859 BGB steht nach § 860 BGB auch dem Besitzdiener i.S.v. § 855 BGB und nach h. M. auch dem mittelbaren Besitzer (vgl. § 868 BGB) zu, wenn gegen den unmittelbaren Besitzer verbotene Eigenmacht verübt wird (Hk-BGB/Schulte-Nölke, 10. Aufl. 2019, § 860 Rn. 1).
- „Sofort“ meint nicht unverzüglich (§ 121 I 1 BGB), sondern so schnell wie nach objektiven Maßstäben möglich.
- Hk-BGB/Schulte-Nölke, 10. Aufl. 2019, § 859 Rn. 2.