Wirksamwerden von Willenserklärungen

Wirksamwerden von Willenserklärungen

Hinsichtlich des Zeitpunkts des Wirksamwerdens ist zwischen empfangsbedürftigen und nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen zu unterscheiden.

Empfangsbedürftige Willenserklärungen

Empfangsbedürftig sind solche Willenserklärungen, die gegenüber einer anderen Person abzugeben sind.1 Sie werden mit der Abgabe und Zugang wirksam.

Die Abgabe ist Wirksamkeitsvoraussetzung einer jeden Willenserklärung.2 Eine Willenserklärung ist dann abgegeben, wenn sie mit Wissen und Wollen des Erklärenden in Richtung auf den Empfänger so auf den Weg gebracht ist, dass sie den Adressaten unter normalen Umständen erreichen kann.3 Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass die Willenserklärung mit Willen des Erklärenden in den Verkehr gelangt und der Erklärende auch damit rechnen konnte und gerechnet hat, sie werde – auf welchem Wege auch immer – dem Erklärungsadressaten zugehen.

Ein beliebtes Klausurproblem ist die sog. abhandengekommene Willenserklärung.4 Hinter diesem Schlagwort verbergen sich Konstellationen, in denen die Willenserklärung ohne Wissen und Wollen des Erklärenden in den Rechtsverkehr gelangt. Beispiel: Ein bereits unterschriebener Brief wird abends zum Überdenken auf den Schreibtisch gelegt und anschließend vom Sekretär, der es nur gut meint, abgesendet. Die h. M. verlangt für eine Abgabe ein willentliches Inverkehrbringen der Willenserklärung und verneint deshalb deren Wirksamkeit.5 Dem Empfänger der (nicht wirksamen) Erklärung wird sodann ein verschuldensabhängiger Schadensersatzanspruch aus §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB (culpa in contrahendo) zugestanden. Nach der Gegenauffassung wird die Erklärung wirksam, wenn der Erklärende es wegen Fahrlässigkeit (§ 276 II BGB) zu vertreten hat, dass sie in den Verkehr gelangt ist.6 Folge dieser Gegenauffassung ist, dass der Erklärende sich von seiner (wirksamen) Erklärung nur durch Anfechtung gemäß § 119 I BGB (analog) lösen kann und sich dann aus § 122 BGB sowie §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB schadensersatzpflichtig macht.

Wirksam werden (im vorstehenden Sinne abgegebene) empfangsbedürftige Willenserklärungen erst dann, wenn sie dem Empfänger zugehen. Für empfangsbedürftige Willenserklärungen unter Abwesenden ist dies ausdrücklich in § 130 I 1 BGB geregelt. Es besteht jedoch Einigkeit darüber, dass das Zugangsprinzip auch für empfangsbedürftige Willenserklärungen unter Anwesenden gilt.

Eine Willenserklärung unter Abwesenden ist dann i.S.v. § 130 I 1 BGB zugegangen, wenn sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist, dass unter normalen Umständen mit deren Kenntnisnahme zu rechnen ist.7 Der Empfänger muss sie nicht tatsächlich zur Kenntnis genommen haben; es reicht, dass er sie zur Kenntnis nehmen konnte. Nimmt der Empfänger die Erklärung früher wahr, als dies unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wäre, geht sie bereits mit der tatsächlichen Kenntnisnahme zu. Wann eine mündliche Willenserklärung unter Anwesenden8 zugeht, ist umstritten. Die Rechtsprechung stellt auf den Empfänger der Erklärung ab und bejaht einen Zugang erst dann, wenn dieser sie akustisch vernommen hat (strenge Vernehmungstheorie).9 Nach der Gegenauffassung wird die Erklärung schon dann wirksam, wenn der Erklärende keinen vernünftigen Grund hatte, an der Vernehmung zu zweifeln (eingeschränkte Vernehmungstheorie).10
Besondere Probleme können Zugangshindernisse bereiten.11 Gelangt eine empfangsbedürftige Willenserklärung nicht in den Machtbereich des Empfängers, ist sie nicht zugegangen und dementsprechend grundsätzlich auch nicht wirksam geworden. Bei diesem Grundsatz bleibt es auch dann, wenn der Empfänger die Entgegennahme berechtigterweise verweigert, etwa weil der Brief nicht ausreichend frankiert ist und der Empfänger es ablehnt, ein Strafporto zu zahlen. In einem solchen Fall stammt das Zugangshindernis aus der Sphäre des Erklärenden, sodass es gerechtfertigt ist, ihm das Risiko des ausbleibenden Zugangs aufzubürden. Ist die Verhinderung des Zugangs auf eine fehlende oder fehlerhafte Empfangsvorrichtung zurückzuführen, etwa auf einen fehlenden Briefkasten oder ein überfülltes und keine weiteren Nachrichten akzeptierendes E-Mail-Postfach, stammt das Zugangshindernis aus der Sphäre des Empfängers. Gleichwohl bleibt es auch in diesen Fällen dabei, dass die Erklärung nicht in den Machtbereich des Empfängers gelangt und sie dementsprechend mangels Zugangs nicht wirksam geworden ist. In solchen Fällen, in denen die Verhinderung des Zugangs nicht bewusst geschieht, hat ein zweiter Versuch der Zustellung zu erfolgen.12 Gelingt der Zugang beim zweiten Versuch, ist jedoch inzwischen eine vom Erklärenden einzuhaltende Frist verstrichen, so wird gemäß § 242 BGB der Zugang der Erklärung im Zeitpunkt des ersten Zustellungsversuchs fingiert. Misslingt auch der zweite Zustellungsversuch aus Gründen, die der Sphäre des Empfängers zuzuordnen sind, wird der Zugang selbst fingiert, und zwar in dem Zeitpunkt, in dem die Erklärung ohne das Zugangshindernis zugegangen wäre. Eines zweiten Zustellungsversuchs bedarf es dann nicht, wenn der Empfänger den Zugang bewusst oder gar arglistig vereitelt hat.13 Dann gilt die Erklärung als in dem Zeitpunkt zugegangen, in dem sie dem Adressaten ohne dessen Zugangsvereitelung zugegangen wäre.

Die Willenserklärung wird nicht wirksam, wenn dem Empfänger vorher oder gleichzeitig ein Widerruf zugeht (§ 130 I 2 BGB). Dies heißt im Umkehrschluss:14 Ist eine Willenserklärung dem Empfänger zugegangen, kann sie nicht mehr widerrufen werden.15 Ein verspätet zugehender Widerruf ist bedeutungslos.

Der Widerruf ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Er wird nach wirksam, sobald er derart in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass unter normalen Umständen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist.16 Erfährt der Empfänger vom vorher zugegangenen Widerruf erst, nachdem er das später zugegangene Angebot zur Kenntnis genommen hat, so kann er das Angebot nicht mehr annehmen, weil es infolge des rechtzeitigen Widerrufs nicht wirksam geworden ist. Geht der Widerruf dem Empfänger später zu als die Erklärung selbst, nimmt der Empfänger die Widerrufserklärung aber zunächst zur Kenntnis, bleibt es dabei, dass der Widerruf verspätet und die Erklärung, auf die er sich bezieht, wirksam geworden ist.17 Der Widerruf kann formlos erfolgen, selbst dann, wenn die Willenserklärung, auf die er sich bezieht, formbedürftig ist.

Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen

Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen werden – auch ohne Zugang beim Empfänger – bereits im Zeitpunkt ihrer Abgabe wirksam.

Beispiele: Auslobung (§ 657 BGB), Eigentumsaufgabe (§ 959 BGB), Testament (§§ 2229 ff. BGB).


  1. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 4. Aufl. 2018, § 5 Rn. 42 – 55.
  2. Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 185.
  3. BGH, Urt. v. 11.05.1979 – V ZR 177/77, NJW 1979, 2032, 2033.
  4. Siehe hierzu den Fall: „Die abhandengekommene Willenserklärung“.
  5. BGH, Urt. v. 08.03.2006 – IV ZR 145/05, Rn. 29.
  6. Grüneberg/Ellenberger, BGB, 82. Aufl. 2023, § 130 Rn. 4.
  7. BGH, Urt. v. 26.11.1997 – VIII ZR 22/97, BGHZ 137, 205, 208.
  8. Erklärungen unter Anwesenden sind auch solche, die am Telefon (vgl. § 147 I 2 BGB) oder im Rahmen einer Videokonferenz übermittelt werden. Eine Erklärung unter Abwesenden liegt hingegen vor, wenn der Empfänger sie nur verzögert wahrnehmen kann (Beispiele: Brief, Telefax, E-Mail, SMS, WhatsApp).
  9. BGH, Urt. v. 25.01.1989 – IVb ZR 44/88, NJW 1989, 1728, 1730.
  10. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 5 Rn. 55; Schreiber, Jura 2002, 249, 252.
  11. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 5 Rn. 56 – 58.
  12. BGH, Urt. v. 26.11.1997 – VIII ZR 22/97, NJW 1998, 976, 977.
  13. BGH, Urt. v. 26.11.1997 – VIII ZR 22/97, NJW 1998, 976, 977.
  14. Zum argumentum e contrario (Umkehrschluss) siehe Bitter/Rauhut, JuS 2009, 289, 296.
  15. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 5 Rn. 60.
  16. Hier und zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 5 Rn. 61.
  17. BGH, Urt. v. 30.10.1974 – IV ZR 172/73, NJW 1975, 382, 384.