Willensmängel und Wissenszurechnung bei Stellvertretung (§ 166 BGB)

Willensmängel und Wissenszurechnung bei Stellvertretung (§ 166 BGB)

Da der Stellvertreter nach außen hin rechtsgeschäftlich handelt, kommt es, wenn Willensmängel sowie Kenntnis oder Kennenmüssen bestimmter Umstände Inhalt und Wirksamkeit des Geschäfts beeinflussen, grundsätzlich allein auf die Person des Vertreters an (§ 166 I BGB). Von diesem Grundsatz mach § 166 II BGB eine Ausnahme: Der Vertretene, der selbst bestimmte Umstände kennt oder hätte kennen müssen, soll sich nicht hinter einem gutgläubig auf seine Weisung hin handelnden Vertreter verstecken können.1

Grundsatz: Maßgeblichkeit der Person des Vertreters (§ 166 I BGB)

Soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch Willensmängel oder durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflusst werden, kommt nicht die Person des Vertretenen, sondern die des Vertreters in Betracht (§ 166 I BGB).2 Dies ist logisch, weil die für das Zustandekommen des Vertretergeschäfts entscheidende unmittelbare Willensbildung und Willenskundgabe durch den Vertreter erfolgt und dementsprechend auch nur etwaige Willensmängel des Vertreters die Wirksamkeit des Vertretergeschäfts unmittelbar beeinflussen können.

Beispiel: Eine Anfechtung des Vertretergeschäfts nach Maßgabe der §§ 119 ff. BGB setzt voraus, dass der Vertreter einem Irrtum erlegen oder getäuscht worden ist. Ist dies der Fall, kann der Vertretene die Anfechtung erklären.

Kommt es auf die Kenntnis oder das Kennenmüssen (§ 122 II BGB) bestimmter Umstände an, ist ebenfalls nur auf die Person des Vertreters abzustellen. Seine eigene Kenntnis bzw. fahrlässige Unkenntnis schadet dem Vertretenen – von der Ausnahme des § 166 II BGB abgesehen – nicht.

Auf die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen kommt es insbesondere an3

  • bei der Auslegung (auch formbedürftiger) Willenserklärungen;
  • im Verjährungsrecht bei der Kenntnis i.S.v. § 199 I Nr. 2 BGB;
  • hinsichtlich der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen von Verbotsgesetzen i.S.v. § 134 BGB;
  • hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen des § 138 BGB;
  • bei der Kenntnis von Sachmängeln (§ 442 I 1, 444 BGB) und bei Arglist im Falle des § 442 I 2 BGB;
  • beim gutgläubigen Erwerb (§§ 892 I 1, 932 I 1, 936 II, 1138, 1155, 1157, 1207, 1208 BGB; 366 HGB);
  • im Rahmen der §§ 122 II, 123 II 1, 142 II, 173, 179 II, III, 311a II 2, 819 I4 BGB.

Ausnahme: Berücksichtigung der Person des Vertretenen (§ 166 II BGB)

Hat ein Bevollmächtigter nach bestimmten Weisungen des Vollmachtgebers gehandelt, so kann sich der Vollmachtgeber in Ansehung solcher Umstände, die er selbst kannte, nicht auf die Unkenntnis des Vertreters berufen (§ 166 II 1 BGB). Es kommt dann neben der Person des Vertreters auch auf die des Vertretenen an; kennt der Vertreter die maßgeblichen Umstände nicht (andernfalls gilt schon § 166 I BGB), wohl aber der Vollmachtgeber, kann dieser sich nicht auf die Unkenntnis des Vertreters berufen (§ 166 II 1 BGB).5

Hätte zwar nicht Vertreter (sonst gilt schon § 166 I BGB), wohl aber der Vollmachtgeber die maßgebenden Umstände kennen müssen, gilt § 166 II 1 BGB entsprechend, sofern das Kennenmüssen (§ 122 II BGB) der Kenntnis gleichsteht (§ 166 II 2 BGB).

§ 166 II BGB gilt seinem Wortlaut nach nur für die rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht und nur für die Kenntnis bzw. das Kennenmüssen bestimmter Umstände, nicht aber für Willensmängel. In bestimmten Konstellationen kommt aber eine analoge Anwendung des § 166 II BGB in Betracht. Eine analoge Anwendung auf den gesetzlich Vertretenen, der keine Weisungsbefugnis hat, scheidet grundsätzlich aus. § 166 II BGB gilt aber analog, wenn der Geschäftsführer einer GmbH nach den Weisungen des Alleingesellschafters handelt (vgl. § 37 I GmbHG); der GmbH schadet dann die Unredlichkeit ihres Alleingesellschafters.6 Bei gesetzlicher Vertretungsmacht gilt § 166 II BGB immer dann analog, wenn der gesetzliche Vertreter wie ein weisungsgebundener Bevollmächtigter handelt.7 Eine analoge Anwendung auf Willensmängel scheidet grundsätzlich aus.8 Ausnahmsweise ist § 166 II BGB zu Gunsten des Vertretenen analog anzuwenden, wenn der Vollmachtgeber arglistig getäuscht wurde (§ 123 I Alt. 1 BGB;) und er daraufhin durch besondere Weisung die Abgabe und den Inhalt der Vertretererklärung entscheidend bestimmt hat;9 in diesem Fall kann der Vertretene das Vertretergeschäft anfechten. Zu Lasten des Vertretenen ist § 166 II BGB analog anzuwenden bei Vertretung ohne Vertretungsmacht nach Genehmigung durch den Vertretenen gemäß § 177 I BGB.10

Zurechnung bei Wissensvertretern

Nach seinem Wortlaut betrifft § 166 BGB nur die Zurechnung des Wissens eines Stellvertreters.11 § 166 BGB gilt jedoch analog für sog. Wissensvertreter.12 Wissensvertreter ist jeder, der nach der Organisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und dabei die anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen und ggf. weiterzuleiten. Nach § 166 I BGB muss derjenige, der sich im rechtsgeschäftlichen Verkehr bei der Abgabe von Willenserklärungen eines Vertreters bedient, es im schutzwürdigen Interesse des Adressaten hinnehmen, dass ihm die Kenntnis des Vertreters als eigene zugerechnet wird. Er kann sich nicht auf eigene Unkenntnis berufen. Aus diesem der Vorschrift des § 166 BGB innewohnenden allgemeinen Rechtsgedanken hat der BGH hergeleitet, dass sich – unabhängig von dem Vorliegen eines Vertretungsverhältnisses – derjenige, der einen anderen mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, das in diesem Rahmen erlangte Wissen des anderen zurechnen lassen muss.13

Einer juristischen Person, Personengesellschaft oder Wohnungseigentümergemeinschaft wird im rechtsgeschäftlichen Verkehr das Wissen von Organen ohne Weiteres, das von Mitarbeitern insoweit zugerechnet, als es für spätere Geschäftsvorgänge erkennbar relevant ist und daher dokumentiert oder an andere Personen innerhalb des Organisationsbereichs weitergegeben werden muss.14 Dabei lässt sich die Frage der Wissenszurechnung von Organvertretern juristischer Personen „nicht mit logisch-begrifflicher Stringenz, sondern nur in wertender Beurteilung entscheiden“.15


  1. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 166 Rn. 1.
  2. Zum Folgenden: Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 171 – 173.
  3. Zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 166 Rn. 3.
  4. § 166 I BGB ist im Rahmen des § 819 I BGB zumindest analog anwendbar (BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 436/12, Rn. 11).
  5. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 166 Rn. 4.
  6. BGH, Urt. v. 01.04.2004 – IXZR 305/00, ZIP 2004, 957, 960.
  7. BGH, Urt. v. 10.10.1962 – VIII ZR 3/62, NJW 162, 2251, 2252.
  8. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 166 Rn. 4.
  9. BGH, Urt. v. 24.10.1968 – II ZR 214/66, BGHZ 51, 141, 147.
  10. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 166 Rn. 6.
  11. Zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 166 Rn. 7.
  12. BGH, Urt. v. 15.04.1997 – XI ZR 105/96, NJW 1997, 1917. Hinter der Rechtsfigur des Wissensvertreters steht die Idee, der Geschäftsherr solle sich nicht durch eine Kompetenz- und Wissensaufteilung einer Wissenszurechnung entziehen (Bitter/ Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 10 Rn. 181).
  13. BGH, Urt. v. 23.01.2014 – III ZR 436/12, Rn. 11.
  14. BGH, Urt. v. 04.07.2014 – V ZR 183/13, Rn 13 ff. (WEG-Verwalter); BGH, Urt. v. 15.04.1997 – XI ZR 105/96, NJW 1997, 1917, 1917 f. (Bankangestellter); BGH, Urt. v. 02.02.1996 – V ZR 239/94, NJW 1996, 1339, 1340 (juristische Personen).
  15. BGH, Urt. v. 02.02.1996 – V ZR 239/94, NJW 1996, 1339, 1340.