Widerrechtliche Drohung (§ 123 I Alt. 2 BGB)

Widerrechtliche Drohung (§ 123 I Alt. 2 BGB)

Wer zur Abgabe einer Willenserklärung widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist, kann die Erklärung anfechten (§ 123 I Alt. 2 BGB). Es liegt dann eine unzulässige Willensbeeinflussung des Erklärenden im Stadium der Willensbildung vor. § 123 I Alt. 2 BGB enthält den einzigen Anfechtungsgrund, der keinen Irrtum voraussetzt.1 Eine Anfechtung ist unter folgenden Voraussetzungen möglich:

1. Drohung
2. Kausalität
3. Widerrechtlichkeit
4. Drohungsvorsatz
5. Einhaltung der Anfechtungsfrist des § 124 I BGB

Drohung

Dem Erklärenden muss gedroht worden sein. Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels,2 auf dessen Eintritt der Drohende einwirken zu können behauptet.3

Wer droht, ist unerheblich; die Drohung kann auch von einem Dritten ausgehen.

Maßgeblich ist die Sicht des Erklärenden. Er muss den angedrohten Nachteil als psychische Zwangslage empfinden.4 Dies kann auch dann der Fall sein, wenn eine ihm nahestehende Person bedroht wird.

Beispiel: Dem Vater wird gedroht, man entführe seine Tochter, wenn er nicht einen bestimmten Geldbetrag zahle.

Der Eintritt des Übels muss lediglich aus der Sicht des Bedrohten vom Willen des Drohenden abhängig sein. Eine Willensbeeinflussung, vor der § 123 I Alt. 2 BGB schützen soll, ist auch dann gegeben, wenn die Drohung nicht ernst gemeint ist, der Bedrohte sie aber für ernst gemeint hält und halten soll.5

Der Drohende muss behaupten, selbst Einfluss auf den Eintritt des Übels zu haben. Die bloße Warnung bzw. der Hinweis auf eine vom Willen des Drohenden unabhängige Zwangslage stellt keine Drohung dar.6

Beispiel: A erzählt dem B, die C werde sich das Leben nehmen, wenn B die C nicht heirate.

Wird eine Erklärung unter dem Einfluss unwiderstehlicher körperlicher Gewalt (vis absoluta) abgegeben, bedarf es keiner Anfechtung nach § 123 I Alt. 2 BGB. Dann liegt mangels Handlungswillens schon keine Willenserklärung vor, die durch Anfechtung zu beseitigen sein könnte.7

Beispiel: Gewaltsames Führen der Hand zur Erzwingung der Unterschrift unter einen Vertrag.

Kausalität

Der Erklärende muss zur Abgabe der Willenserklärung durch Drohung bestimmt worden sein. Die Drohung muss für die Zwangslage des Bedrohten und diese wiederum für die Willensbildung ursächlich gewesen sein. Mitursächlichkeit genügt.8

Widerrechtlichkeit

Eine Drohung ist in drei Fallgestaltungen widerrechtlich, nämlich wenn das angedrohte Verhalten schon für sich allein widerrechtlich ist (Widerrechtlichkeit des Mittels), wenn der erstrebte Erfolg – die vom Bedrohten abzugebende Willenserklärung – schon für sich allein widerrechtlich ist (Widerrechtlichkeit des Zwecks) oder wenn Mittel und Zweck zwar für sich allein betrachtet nicht widerrechtlich sind, aber ihre Verbindung – die Benutzung dieses Mittels zu diesem Zweck – gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt (Inadäquanz von Mittel und Zweck).9

Beispiel 1 (Widerrechtlichkeit des Mittels): Wird einer Person für den Fall, dass sie einen Vertrag nicht unterschreibt, körperliche Gewalt angedroht, ist das angedrohte Mittel rechtswidrig, weil es in den §§ 223 ff. StGB unter Strafe gestellt ist.

Beispiel 2 (Widerrechtlichkeit des Zwecks): Androhung des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis ordentlich zu kündigen, wenn sich der angestellte Buchhalter nicht zur Beteiligung an Bilanzmanipulationen und Steuerhinterziehungen bereit erklärt.

Beispiel 3 (Widerrechtlichkeit der Mittel-Zweck-Relation): Die Drohung eines Strafverteidigers mit der Mandatsniederlegung zur Erreichung einer Gebührenvereinbarung ist widerrechtlich, wenn sie unmittelbar vor Beginn der Hauptverhandlung erfolgt.10

Drohungsvorsatz

Der Erklärende muss zur Abgabe einer Willenserklärung „bestimmt“ worden sein. Der Drohende muss bewusst den Zweck verfolgt haben, den Willen des Bedrohten zu beeinflussen.11 Er muss den Vorsatz gehabt haben, den Bedrohten durch die Ankündigung des Übels zur Abgabe der Willenserklärung zu veranlassen.12 Nicht erforderlich ist die Absicht, die Drohung zu realisieren oder den Bedrohten zu schädigen.

Anfechtungsfrist

Die Anfechtung nach § 123 I Alt. 2 BGB kann nur innerhalb eines Jahres ab dem Zeitpunkt, in welchem die Zwangslage aufhört, erfolgen (§ 124 I, II 1 BGB). Die Zwangslage ist beendet, wenn der Bedrohte keine Angst mehr vor dem angedrohten Übel hat, weil es aus seiner Sicht bereits eingetreten oder mit einem Eintritt nicht mehr ernsthaft zu rechnen ist.13 Innerhalb der Jahresfrist muss die Anfechtungserklärung zugehen; § 121 I 2 BGB gilt nicht entsprechend. Die Anfechtung ist jedenfalls ausgeschlossen, wenn seit der Abgabe der Willenserklärung zehn Jahre verstrichen sind (§ 124 III BGB, absolute Ausschlussfrist).

Rechtsfolge und Konkurrenzen

Die angefochtene Willenserklärung ist gemäß § 142 I BGB von Anfang an (ex tunc) nichtig. Die Nichtigkeit kann sowohl das Verpflichtungs- als auch das Erfüllungsgeschäft betreffen. Eine Schadensersatzpflicht des Anfechtenden besteht nicht.

Nach § 138 I BGB nichtig ist ein wegen widerrechtlicher Drohung anfechtbares Rechtsgeschäft nur dann, wenn besondere Umstände hinzukommen, die das Geschäft nach seinem Gesamtcharakter als sittenwidrig erscheinen lassen.14 Neben der Anfechtungsmöglichkeit besteht einen Schadensersatzanspruch wegen Verschuldens beim Vertragsschluss (§§ 280 I, 311 II, 241 II BGB), der dem Bedrohten das Recht gibt, auch ohne Ausübung eines Gestaltungsrechts Befreiung von der eingegangenen Verbindlichkeit zu verlangen, sofern dem Betroffenen durch den Vertragsschluss ein Schaden entstanden ist; auf einen derartigen Schadensersatzanspruch findet die Jahresfrist des § 124 BGB weder direkt noch entsprechend Anwendung.


  1. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 161.
  2. Als Übel genügt jeder Nachteil (BGH, Urt. v. 29.07.2021 – III ZR 179/20, Rn. 45).
  3. BGH, Urt. v. 29.07.2021 – III ZR 179/20, Rn. 45; BGH, Beschl. v. 19.07.2017 – XII ZB 141/16, Ls. 1.
  4. BGH, Urt. v. 29.07.2021 – III ZR 179/20, Rn. 45.
  5. BGH, Urt. v. 22.11.1995 – XII ZR 227/94, NJW-RR 1996, 1281, 1282.
  6. BGH, Urt. v. 26.06.1952 – III ZR 305/51, BGHZ 6, 348, 351; Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 20 Rn. 13.
  7. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 165.
  8. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 123 Rn. 12.
  9. BGH, Beschl. v. 19.07.2017 – XII ZB 141/16, Rn. 13.
  10. BGH, Urt. v. 04.02.2010 – IX ZR 18/09, Rn. 37.
  11. BGH, Urt. v. 22.11.1995 – XII ZR 227/94, NJW-RR 1996, 1281, 1282.
  12. Hier und zum Folgenden: Erman/Arnold, BGB, 16. Aufl. 2020, § 123 Rn. 53.
  13. Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 124 Rn. 2.
  14. Hier und zum Folgenden: BGH, Urt. v. 07.02.2013 – IX ZR 138/11, Rn. 8 f.