Vermutungen

11) Vermutungen und Beweislastregeln

Wichtige klausurrelevante Ausnahmen von der allgemeinen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast sind gesetzliche Vermutungen und Beweislastregeln.

- Gesetzliche Vermutungen

Hin und wieder stellt das Gesetz eine Vermutung für das Vorliegen einer Tatsache auf.

Es gibt Tatsachenvermutungen, bei denen das Vorliegen eines Tatbestandsmerkmals vermutet wird, und Rechtsvermutungen, die sich auf eine bestimmte Rechtsfolge beziehen.

Der Gegner muss die Vermutung widerlegen, also den Gegenbeweis erbringen (§ 292 ZPO). Man spricht deshalb auch von einer Beweislastumkehr.

  • Tatsachenvermutungen

Die darlegungs- und beweispflichtige Partei muss die Ausgangstatsachen darlegen und ggf. beweisen.

  • Eine der für dich wichtigsten Regelungen ist § 477 BGB. Darin wird die Vermutung aufgestellt, dass ein Mangel der Kaufsache schon bei Gefahrübergang vorlag, wenn bei einem Verbrauchsgüterkauf binnen sechs Monaten seit Gefahrübergang eine Mangelerscheinung an der Kaufsache aufgetreten ist.

Folgende Ausgangstatsachen muss der Käufer darlegen und im Bestreitensfall beweisen:

  • Verbrauchsgüterkauf

  • Mangelerscheinung

  • innerhalb von sechs Monaten seit Übergabe.

Dem Verkäufer obliegt es sodann zu beweisen, dass der Käufer den mangelhaften Zustand selbst herbeigeführt haben muss, da die Sache bei Gefahrübergang noch mangelfrei war.

An dieser Stelle ist es sicher sinnvoll, sich mit der Grundsatzentscheidung des BGH vom 12.10.2016 (VIII ZR 103/15) zu beschäftigen.

Übrigens: Mit Ablauf des 1. Juli 2021 endet die Frist des Gesetzgebers zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/771 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs. Die Richtlinie sieht u.a. vor, dass die Beweislastumkehr zugunsten des Verbrauchers von sechs auf mindestens zwölf Monate erweitert wird.

  • Eine Vielzahl von gesetzlichen Vermutungen für Ansprüche des Patienten aus einem Behandlungsvertrag findest du in § 630h BGB. Hier soll ein Blick auf Absatz 1 genügen:

Im Fall des § 630h Abs. 1 BGB wird ein Fehler des Behandelnden – also die Pflichtverletzung – vermutet, wenn sich ein allgemeines Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war und das zur Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt hat. Dann hält es der Gesetzgeber für vertretbar, die grundsätzlich dem Patienten obliegende Last, den Behandlungsfehler darzulegen und beweisen, ausnahmsweise auf den Behandler zu übertragen.

  • Weitere Tatsachenvermutungen findest du in §§ 938, 1117 Abs. 3 oder 1253 Abs. 2 BGB.

- Rechtsvermutungen

Die wichtigsten Rechtsvermutungen stammen aus dem Sachenrecht.

  • Nach § 1006 Abs. 1 Satz 1 BGB wird zugunsten des unmittelbaren Besitzers einer Sache vermutet, dass er auch deren Eigentümer ist. Es genügt also, den unmittelbaren Besitz zu beweisen. Der Gegner muss dann nachweisen, dass damit nicht das Eigentum verbunden ist.

  • Gemäß § 891 Abs. 1 BGB wird zugunsten desjenigen, der im Grundbuch als Inhaber eines Rechts eingetragen ist, vermutet, dass er diese Rechtsstellung auch tatsächlich innehat.

  • Ist ein Recht im Grundbuch gelöscht worden, wird vermutet, dass es auch tatsächlich nicht mehr besteht (§ 891 Abs. 2 BGB).

- Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens

Für die Haftung von Steuerberatern und Rechtsanwälten bzw. Anlageberatern für eine fehlerhafte Aufklärung wird vermutet, dass sich der Mandant bzw. Anleger dem Rat nicht verschlossen hätte. Die Vermutung bezieht sich also auf die Kausalität der Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden.

Allerdings musst du unterscheiden:

  • Für die Haftung der Rechtsanwälte und Steuerberater wendet der IX. Zivilsenat des BGH die Vermutung lediglich als Anscheinsbeweis an. Es genügt deshalb, wenn der Beklagte einen atypischen Geschehensverlauf darlegt und ggf. beweist (BGH IX ZR 176/16 Rn. 23).

  • Dagegen sieht der Bankensenat des BGH in der Vermutung eine Beweislastumkehr, auf die § 292 ZPO anzuwenden ist: Die Bank muss den Vollbeweis erbringen, dass der Kunde auch bei sachgerechter Aufklärung bzw. Beratung die Anlage gezeichnet hätte (BGH XI ZR 262/10 Rn. 28 f.). Auch die anderen Zivilsenate des BGH, die für Anlagesachen zuständig sind, scheinen dieser Auffassung zu folgen.

Ebenfalls nicht einheitlich beantwortet wird von diesen Senaten die Frage, ob die Vermutung auch dann greift, wenn der Aufzuklärende bei zutreffender Aufklärung mehrere vernünftige Handlungsmöglichkeiten gehabt hätten.

  • Der IX. Zivilsenat sagt, es sei zu Gunsten des Mandanten zu vermuten, dieser wäre bei pflichtgemäßer Beratung den Hinweisen des Rechtsanwalts gefolgt, sofern im Falle sachgerechter Aufklärung aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Mandanten eindeutig eine bestimmte tatsächliche Reaktion nahegelegen hätte. Eine solche Vermutung komme hingegen nicht in Betracht, wenn nicht nur eine einzige verständige Entschlussmöglichkeit bestanden hätte, sondern nach pflichtgemäßer Beratung verschiedene Handlungsweisen ernsthaft in Betracht gekommen wären, die unterschiedliche Vorteile und Risiken in sich geborgen hätten (BGH IX ZR 125/10 Rn. 36).

  • Die anderen Senate halten einen Entscheidungskonflikt nicht für erheblich. Unklarheiten, die durch die Aufklärungspflichtverletzung bedingt seien, müssten zu Lasten des Aufklärungspflichtigen gehen, so dass dieser die Nichtursächlichkeit seiner Pflichtverletzung zu beweisen habe (vgl. die Darstellung in BGH V ZR 168/15 Rn. 17 ff.).

- Gesetzliche Beweisregeln

An anderen Stellen ergeben sich aus den gesetzlichen Formulieren Hinweise auf die Darlegungs- und Beweislast.

  • § 280 Abs. 1 BGB

§ 280 Abs. 1 BGB gibt für den Fall der Pflichtverletzung aus einem Schuldverhältnis dem Gläubiger einen Schadensersatzanspruch gegen den Schuldner. Das in aller Regel für Schadensersatzansprüche erforderliche Verschulden wird auch hier verlangt. Allerdings zeigt die Formulierung in Satz 2, „Dies gilt nicht, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.“, dass der Gesetzgeber das Verschulden für die Regel hält und es deshalb vermutet wird, auch wenn das Gesetz diese Formulierung nicht verwendet. Es handelt sich deshalb um eine Einwendung gegen den Anspruch, deren Voraussetzungen der Schuldner darlegen und beweisen muss. Der Schuldner muss sich also exkulpieren.

  • § 281 Abs. 1 Sätze 2, 3 BGB

Noch anschaulicher wird das in § 281 Abs. 1 BGB:

Bei einer Teilleistung kann der Gläubiger Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur verlangen, wenn er an der Teilleistung kein Interesse hat (Satz 2). Das fehlende Interesse ist also eine Anspruchsvoraussetzung, die der Gläubiger darlegen und beweisen muss. Gelingt ihm das nicht, kann er nur Schadensersatz statt der nicht erbrachten Teilleistung verlangen.

Im Falle der Schlechtlieferung kann der Gläubiger dagegen Schadensersatz statt der ganzen Leistung nur dann nicht verlangen, wenn die Pflichtverletzung unerheblich ist (Satz 3). Die Erheblichkeit der Pflichtverletzung ist hier also die Regel, die Unerheblichkeit die Ausnahme, die somit als Einwendung gegen den Anspruch vom Schuldner darzulegen und zu beweisen ist.

- Beweisvereitelung

Zum Abschluss noch eine Konstellation, in der die beweispflichtige Partei den Beweis nicht führen kann, weil das Beweismittel nicht mehr vorhanden oder jedenfalls nicht zu erreichen ist

Grundsätzlich trägt die beweispflichtige Partei dieses allgemeine Prozessrisiko selbst.

Etwas anderes kann aber gelten, wenn der Gegner das Beweismittel vernichtet oder den Zugang zu ihm erschwert hat und damit dem Beweisführer der Beweis unmöglich oder erschwert wird.

Hierzu solltest du dir bei nächster Gelegenheit die Grundsatzentscheidung des BGH (I ZR 226/13 Rn. 44 ff.). Die folgenden Ausführungen beziehen sich hierauf.

Bsp.: Der Kläger nimmt die Beklagte gemäß § 823 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz in Anspruch, nachdem ihm beim Betreten des Betriebsgrundstücks der Beklagten die Schranke auf den Kopf geschlagen ist. Er behauptet, es habe keinen anderen Weg als unter der Schranke hindurch gegeben, die Schranke sei geöffnet gewesen, dann aber ungebremst heruntergefallen. Die Beklagte behauptet, der Beklagte habe versucht, noch unter der sich schließenden Schranke hindurch zu schlüpfen.

Anspruchsvoraussetzung des § 823 Abs. 1 BGB ist ein rechtswidriges und schuldhaftes Handeln der Beklagten. Hier kommt eine Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht in Betracht, wenn die Schrankenanlage tatsächlich defekt war. Die Beweislast liegt beim Kläger. Der Beweis könnte grundsätzlich durch ein Sachverständigengutachten geführt werden.

Allerdings hat die Beklagte die Schrankenanlage kurz nach Zustellung der Klageschrift entsorgt. Der Beweis ist dem Kläger also nicht möglich.

Das könnte eine Beweisvereitelung darstellen, die zu Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr führt. Kann einer Partei der Vorwurf gemacht werden, sie habe in zu missbilligender Weise den vom Prozessgegner zu führenden Beweis vereitelt, führt dies nicht dazu, dass eine Beweiserhebung gänzlich unterbleiben kann und der Vortrag der beweispflichtigen Partei als bewiesen anzusehen ist. Vielmehr sind zunächst die von der beweispflichtigen Partei angebotenen Beweise zu erheben. Stehen solche Beweise nicht zur Verfügung oder bleibt die beweisbelastete Partei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beweisfällig, ist eine Beweislastumkehr in Betracht zu ziehen und den Beweisangeboten des Prozessgegners nachzugehen.

Weitere Voraussetzung hierfür ist aber, dass der Beklagten ein doppelter Schuldvorwurf gemacht werden kann:

  • Zum einen muss sie in Bezug auf die Zerstörung oder Entziehung des Beweismittels schuldhaft gehandelt haben.

Das ist der Fall, da sie die Anlage bewusst entsorgt hat.

  • Zum anderen muss sich ihr Verschulden aber auch auf die Beseitigung der Beweisfunktion beziehen. Ihr Handeln muss also darauf gerichtet gewesen sein, die Beweislage des Gegners in einem gegenwärtigen oder künftigen Prozess nachteilig zu beeinflussen.

Der Beklagten muss es bewusst gewesen sein, dass es bspw. auf die sachverständige Untersuchung der Anlage ankommen kann. Da sie die Anlage kurz nach dem Zugang der Klageschrift entsorgt hat, ist davon auszugehen. Es ist nicht ersichtlich, warum sie die Anlage nicht wenigstens eingelagert hat.

Eine Beweisvereitelung ist allerdings dann nicht anzunehmen, wenn es der beweisbelasteten Partei möglich gewesen wäre, den Beweis zu sichern, etwa im Wege eines selbständigen Beweisverfahrens.