Verbrechen und Vergehen

Verbrechen und Vergehen

§ 12 StGB unterteilt Delikte anhand der Schwere der Tat und der Höhe der (abstrakten) Strafandrohung in zwei Kategorien: Verbrechen und Vergehen.1 Die Abgrenzung orientiert sich abstrakt an der Untergrenze des Regelstrafrahmens für die Tat. Unerheblich ist, welche Strafe im Einzelfall tatsächlich festgesetzt wird.2

Verbrechen

Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber hinaus bedroht sind (§ 12 I StGB).

Beispiel: Der Totschlag (§ 212 StGB) wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft und ist deshalb ein Verbrechen. Da es sich um eine zeitige, also nicht lebenslange Freiheitsstrafe handelt (vgl. § 38 I StGB), beträgt das Höchstmaß der zeitigen Freiheitsstrafe fünfzehn Jahre (§ 38 II StGB).

Vergehen

Vergehen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind (§ 12 II StGB).

Beispiel: Die (einfache) Körperverletzung (§ 223 StGB) wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Das Mindestmaß der zeitigen Freiheitsstrafe beträgt einen Monat (§ 38 II StGB). Die Körperverletzung nach § 223 StGB ist demnach ein Vergehen.

Schärfungen und Milderungen

Für die Abgrenzung zwischen Verbrechen und Vergehen kommt es nur auf die Untergrenze des Regelstrafrahmens an. Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, bleiben für die Einteilung der Delikte als Verbrechen oder Vergehen außer Betracht (§ 12 III StGB).

Strafmildernde3 Vorschriften aus dem Allgemeinen Teil des StGB sind die §§ 13 II, 17 S. 2, 21, 23 II, III, 27 II 2, 28 I StGB. Beispiel: Bei einem Täter, der einen Raub in verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) begeht, kann die Mindeststrafe des § 249 I StGB (Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr) auf drei Monate gesenkt (§ 21 i.V.m. § 49 I Nr. 3 StGB) und sogar in eine Geldstrafe umgewandelt (§ 47 II StGB) werden. Die Tat bleibt gleichwohl ein Verbrechen.4

Beispiel für besonders schweren Fall: In besonders schweren Fällen wird die Erpressung mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft (§ 253 IV 1 StGB). Da aber der Grundtatbestand der Erpressung mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird (§ 253 I StGB) und somit als Vergehen einzustufen ist, handelt es sich nach § 12 III StGB auch in besonders schweren Fällen um ein Vergehen.

Beispiel für minder schweren Fall: Die Brandstiftung wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft (§ 306 I StGB) und stellt somit ein Verbrechen dar (§ 12 I StGB). In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren (§ 306 II StGB). Auch in diesen Fällen liegt wegen § 12 III StGB aber ein Verbrechen vor.

Soweit qualifizierende oder privilegierende Merkmale zu einer zwingenden Strafrahmenverschiebung führen, kann sich dadurch auch die Deliktsqualität ändern.5

Beispiel: Der Betrug (§ 263 StGB) wird in seinem Grundtatbestand mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§ 263 I StGB). Da das Mindestmaß der zeitigen Freiheitsstrafe einen Monat beträgt (§ 38 II StGB), handelt es sich um ein Vergehen. Daran ändert sich auch in besonders schweren Fällen nach § 263 III StGB nichts, weil diese mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft werden (§ 263 III 1 StGB) und Schärfungen für besonders schwere Fälle ohnehin unberücksichtigt bleiben (§ 12 III StGB).6 Ein Bandenbetrug (§ 263 V StGB) ist jedoch ein Verbrechen, weil dieser mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft wird; daran ändert sich nach § 12 III StGB auch dann nichts, wenn ein minder schwerer Fall des Bandenbetrugs vorliegt, obgleich dieser mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren beträgt.

§ 12 III StGB findet keine Anwendung auf tatbestandliche Abwandlungen (Qualifikationen und Privilegierungen) und Erfolgsqualifikationen, da diese allesamt den Tatbestand betreffen und gerade keine besonders oder minder schweren Fälle regeln und auch keine Strafzumessungsregeln darstellen.7

Beispiel: Die (einfache) Aussetzung wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft (§ 221 I StGB) und ist deshalb ein Vergehen (§ 12 II StGB). In den Fällen des § 221 II StGB beträgt die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. § 221 II Nr. 1 StGB enthält eine Tatbestandsqualifikation, § 221 II Nr. 2 StGB eine Erfolgsqualifikation. In beiden Fällen ist § 12 III StGB nicht anwendbar, sodass hier jeweils ein Verbrechen (§ 12 I StGB) vorliegt.

Relevanz der Abgrenzung

Die Einteilung von Delikten in Verbrechen und Vergehen ist sowohl im materiellen Strafrecht als auch im Strafverfahrensrecht von Bedeutung.

Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt (§ 23 I StGB).

Beispiel: Die Bedrohung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft (§ 241 I StGB) und ist deshalb ein Vergehen (§ 12 II StGB). Da es keine entsprechende Norm gibt, die die Versuchsstrafbarkeit anordnet, ist der Versuch einer Bedrohung nicht strafbar. Im Gegensatz dazu ist der Versuch einer (einfachen) Körperverletzung oder eines Diebstahls strafbar (§§ 223 II, 242 II StGB), obgleich es sich bei diesen Delikten ebenfalls um Vergehen handelt (§§ 223 I, 242 I, 12 II StGB).

Der Versuch der Beteiligung ist in § 30 StGB nur im Hinblick auf Verbrechen (§ 12 I StGB), nicht aber im Hinblick auf Vergehen (§ 12 II StGB) unter Strafe gestellt.

Beispiel: Die vor dem Versuchsstadium des § 22 StGB liegende feste Verabredung zu einem Bankraub ist strafbar (§§ 249 I, 30 II, 12 I StGB), nicht hingegen eine solche zu einem Wohnungseinbruchdiebstahl, da dieser nach §§ 244 I Nr. 3, 12 II StGB nur ein Vergehen ist.8

Ein Verlust der Amtsfähigkeit, der Wählbarkeit und des Stimmrechts kann als Nebenfolge nur im Falle der Verurteilung wegen eines Verbrechens eintreten (§ 45 I StGB).

Auch im besonderen Teil des materiellen Strafrechts kann die Unterscheidung relevant sein (z. B. in §§ 241, 261 I 2 StGB).

Im Strafverfahrensrecht spielt die Einteilung ebenfalls eine Rolle. Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird (§ 140 I Nr. 2 StPO). Eine Verfahrenseinstellung gemäß §§ 153, 153a StPO und das Strafbefehlsverfahren (§ 407 StPO) kommen nur für Vergehen in Betracht.

Die Zweiteilung erlangt sogar im Bereich der Gerichtsorganisation Bedeutung. Der Strafrichter beim Amtsgericht ist nur bei Vergehen zuständig (§ 25 GVG). Für Verbrechen sind demgegenüber – auch erstinstanzlich – die Strafkammern der Landgerichte zuständig (§ 74 I 1 GVG).


  1. Diese Zweiteilung („Dichotomie“, Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 9 Rn. 1) gibt es seit 1975. Zuvor gab es neben Verbrechen und Vergehen auch noch Übertretungen. Zu diesen zählte beispielsweise der „Mundraub“, der in § 370 I Nr. 5 StGB a.F. geregelt war und mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen bestraft werden konnte (Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 12 Rn. 1 und § 242 Rn. 2).
  2. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 12 Rn. 2.
  3. Schärfungen aus dem Allgemeinen Teil des StGB gibt es derzeit nicht (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 9 Rn. 6).
  4. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 9 Rn. 6.
  5. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 12 Rn. 2. >
  6. § 263 III 2 StGB enthält Regelbeispiele für besonders schwere Fälle des Betrugs. Auf solche Regelbeispiele für besonders schwere Fälle findet die Regelung des § 12 III StGB Anwendung, weil sie keine Tatbestandsqualität haben, sondern zu den Strafzumessungsregeln gehören (R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 96a).
  7. Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 97.
  8. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 9 Rn. 4.