Verantwortlichkeit des Schuldners für eigenes Verschulden
Verantwortlichkeit des Schuldners für eigenes Verschulden (§ 276 BGB)
Unter einer Pflichtverletzung (§ 280 I 1 BGB) versteht man jede objektive Abweichung des Verhaltens des Schuldners vom geschuldeten Pflichtenprogramm. Beim Vertretenmüssen geht es hingegen um die Frage, ob die objektive Pflichtverletzung dem Schuldner im Sinne einer persönlichen Verantwortlichkeit (also subjektiv) auch zurechenbar ist.1
Verschuldensformen
Was der Schuldner zu vertreten hat, ist in § 276 BGB („Verantwortlichkeit des Schuldners“) geregelt. Nach § 276 I 1 BGB hat der Schuldner Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder eines Beschaffungsrisikos, zu entnehmen ist. Oberbegriff für Vorsatz und Fahrlässigkeit ist das Verschulden.2
Den Umstand, dass eine Haftung regelmäßig Vertretenmüssen und dieses wiederum grundsätzlich Verschulden voraussetzt, bezeichnet man als Verschuldensprinzip. Dieses dient der Sicherung der allgemeinen Handlungsfreiheit. Wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt beachtet (vgl. § 276 II BGB), soll Schadensersatzpflichten nicht befürchten müssen.
Unter Vorsatz versteht man das Wissen und Wollen eines rechtswidrigen Erfolgs.3 Absicht ist hierfür nicht erforderlich; ausreichend ist die billigende Inkaufnahme des rechtswidrigen Erfolges, also Eventualvorsatz (dolus eventualis).4
Anders als im Strafrecht muss der Vorsatz aber auch das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit des Erfolges umfassen (sog. Vorsatztheorie). Wer also irrtümlich von einem Rechtfertigungsgrund ausgeht, handelt im Zivilrecht nicht wie im Strafrecht lediglich schuldlos (§ 17 StGB), sondern bereits ohne Vorsatz und damit allenfalls fahrlässig. Das ist aber deshalb im Ergebnis kaum einmal relevant, weil ein Rechtsirrtum in aller Regel vermeidbar ist und deshalb die Fahrlässigkeit begründet und diese wiederum – anders als im Strafrecht (vgl. § 15 StGB) – regelmäßig zur Haftungsbegründung ausreicht (siehe aber z. B. § 826 BGB).
(Einfache) Fahrlässigkeit definiert § 276 II BGB als die Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Der Fahrlässigkeitsvorwurf setzt damit Vorhersehbarkeit der Gefahr und Vermeidbarkeit des schädigenden Erfolgs voraus.5
Anders als im Strafrecht, wo es um die individuelle Schuld des Täters geht, ist der Fahrlässigkeitsbegriff des Zivilrechts objektiv. Entscheidend ist, welche Sorgfalt von einem durchschnittlichen Schuldner in der konkreten Situation erwartet werden kann. Das liegt daran, dass es im Zivilrecht im Gegensatz zum Strafrecht weniger um die persönliche Schuld als vielmehr um die Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs und den Schutz potentieller Opfer geht.
Graduelle Unterschiede gibt es aber in der Hinsicht, dass einige Haftungstatbestände (mindestens) grobe Fahrlässigkeit des Schuldners voraussetzen (z. B. §§ 300 I, 521, 599, 680 BGB). Auch im Sachenrecht spielt die grobe Fahrlässigkeit im Rahmen des bösen Glaubens eine wichtige Rolle (z. B. §§ 932, 937 II, 990 I 1, 1007 BGB). Für grobe Fahrlässigkeit kann die Haftung in AGB nicht abbedungen werden (§ 309 Nr. 7 lit. b) BGB). Bei grober Fahrlässigkeit ist Einstandspflicht des Versicherers bei einer privatrechtlichen Schadensversicherung regelmäßig vermindert (§ 81 II VVG).6 Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsste; es muss sich um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt.7 Oberbegriff für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit ist das grobe Verschulden.8
Eine besondere Ausprägung der Fahrlässigkeit ist die Haftung für diejenige Sorgfalt, die der Schuldner in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt (diligentia quam in suis rebus adhiberi solet).9 Dieser Maßstab ist z. B. in den §§ 346 III 1 Nr. 3, 690, 708, 1359, 1664 I, 2131 BGB angesprochen. Er stellt keine generelle Haftungsmilderung für den Schuldner dar, sondern bewirkt nur, dass bestimmte Schuldner nicht zu besonderer Vorsicht gezwungen sein sollen. Stets gehaftet wird aber gemäß § 277 BGB für grobe Fahrlässigkeit, auch dann, wenn der Schuldner in eigenen Angelegenheiten stets grob fahrlässig agiert.
Die Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit ergibt sich grob dadurch, dass der Vorsatztäter die Verwirklichung des Tatbestandes will, der Fahrlässigkeitstäter hingegen nicht.10 Schwierigkeiten ergeben sich bei Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz (Eventualvorsatz = dolus eventualis) und bewusster Fahrlässigkeit. In beiden Fällen erkennt der Täter die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung. Nimmt er diese billigend in Kauf bzw. ist er mit dem Eintritt des Erfolgs einverstanden, liegt bedingter Vorsatz vor (Formel: „na wenn schon“); vertraut er hingegen darauf, das als möglich Erkannte werde nicht eintreten, ist lediglich Fahrlässigkeit anzunehmen (Formel: „es wird schon gut gehen“).
Abweichende Bestimmungen
Die Haftung für Vorsatz und Fahrlässigkeit gilt nur dann, wenn eine strengere oder mildere Haftung weder – vertraglich oder gesetzlich11 – bestimmt noch aus dem sonstigen Inhalt des Schuldverhältnisses, insbesondere aus der Übernahme einer Garantie oder des Beschaffungsrisikos,12 zu entnehmen ist (§ 276 I 1 BGB).
Vertragliche Haftungsmodifikationen sind grundsätzlich zulässig. Die Haftung wegen Vorsatzes kann dem Schuldner allerdings nicht im Voraus erlassen werden (§ 276 III BGB); dies gilt jedoch nicht für die Haftung für vorsätzliches Handeln von gesetzlichen Vertreter und Erfüllungsgehilfen (§ 278 S. 2 BGB).
Verschuldensfähigkeit
Nach § 276 I 2 BGB finden die §§ 827, 828 BGB („Deliktsfähigkeit“) auf sonstige, d. h. nicht deliktische Schuldverhältnisse entsprechende Anwendung.
Bewusstlose und Personen ohne freie Willensbestimmung (§ 827 S. 1 BGB) sowie Kinder bis zur Vollendung des 7. Lebensjahres (§ 828 I BGB) sind grundsätzlich nicht verschuldensfähig. § 828 S. 2 BGB macht von diesem Grundsatz eine Ausnahme für Personen, die ihre freie Willensbestimmung durch Alkohol oder ähnliche Mittel (z. B. Drogen) verloren haben; sie sollen haften, als fiele ihnen Fahrlässigkeit zur Last, es sei denn, der Zustand der Alkoholisierung usw. ist ohne Verschulden eingetreten.
Beispiel: Unvorhersehbares Zusammenwirken von Alkohol und Medikamenten.
Jugendliche zwischen 7 und 10 Jahren haften nicht für nicht vorsätzlich herbeigeführte Schäden aus Unfällen mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn (§ 828 II BGB).13 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass in dieser Altersklasse die besonderen Gefahren dieser Verkehrsbereiche typischerweise noch nicht überschaut werden. Damit sind die Jugendlichen, wenn sie selbst einen Schaden erleiden, zugleich gegen den Vorwurf eines Mitverschuldens (§ 254 BGB) geschützt.
Beschränkt verschuldensfähig sind die in § 828 III BGB genannten Personen, also Kinder und Jugendliche zwischen dem vollendeten 7. und dem 18. Lebensjahr. Bei ihnen ist, soweit kein Fall von § 828 I oder II BGB vorliegt, die Verantwortlichkeit individuell zu bestimmen: Es kommt darauf an, ob der Täter „bei der Begehung der schädigenden Handlung … die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat“. Das hängt vom Reifegrad des Täters und der Art der schädigenden Handlung ab.14
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 347.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 348.
- BGH, Urt. v. 15.07.2008 – VI ZR 212/07, Rn. 30.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 357.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 358 – 361.
- Eine Ausnahme gilt für die Haftpflichtversicherung (§ 103 VVG).
- BGH, Urt. v. 15.07.2008 – VI ZR 212/07, Rn. 35 (Schneeballwurf); Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 276 Rn. 19.
- Vgl. § 309 Nr. 7 lit. a) BGB; Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 361.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 362.
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 365.
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 368; Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 276 Rn. 21.
- Wichtiger Anwendungsfall ist die Gattungsschuld (§ 243 BGB). Bei ihr haftet der Schuldner verschuldensunabhängig für alle vertragstypischen Leistungserschwernisse, insbesondere für die Beschaffung des geschuldeten Gegenstandes (Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 276 Rn. 23).
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 353.
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 354.