Störung der Geschäftsgrundlage
Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)
Verträge können dadurch beeinträchtigt werden, dass sich Umstände nachträglich unerwartet ändern (§ 313 I BGB) oder sich nachträglich herausstellt, dass vorausgesetzte Umstände von Anfang an tatsächlich nicht vorgelegen haben (§ 313 II BGB). Beides kann dazu führen, dass das von den Parteien vorausgesetzte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung in einem das übliche Vertragsrisiko übersteigenden Maß gestört ist.1,2 Es liegt dann eine Störung der Geschäftsgrundlage vor.
Anwendungsbereich des § 313 BGB
Die in § 313 BGB niedergelegten3 Regeln über die Geschäftsgrundlage gelten grundsätzlich für alle schuldrechtlichen Verträge.4
Gesetzliche Schuldverhältnisse beruhen nicht auf dem Parteiwillen. Bei ihnen kann es daher keine „Geschäftsgrundlage“ geben.
§ 313 BGB ist subsidiär und greift nur ein, wenn es keine vertragliche oder gesetzliche Regelung gibt.
Was die Parteien durch ihre Vereinbarung als Inhalt des Vertrags festgelegt haben, kann nicht Geschäftsgrundlage sein.5 Die Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB ist vorrangig. Dies gilt auch für die ergänzende Vertragsauslegung. Gesetzliche Tatbestände der Geschäftsgrundlage enthalten z. B. die §§ 321, 779 BGB. Auch das Recht der Irrtumsanfechtung (§§ 119 ff. BGB) geht § 313 BGB grundsätzlich vor (Ausnahme: beiderseitiger Motivirrtum).6 In seinem Anwendungsbereich geht auch § 275 BGB dem § 313 BGB vor, weil sich die Frage der Vertragsanpassung nur stellen kann, wenn der Schuldner nicht schon nach § 275 I – III BGB von seiner Leistungspflicht frei geworden ist.7 Insbesondere Fälle der Zweckerreichung und des Zweckfortfalls unterfallen § 275 BGB. Im Gegensatz dazu findet § 313 BGB Anwendung, wenn der geschuldete Leistungserfolg zwar noch herbeigeführt werden kann, der Gläubiger an ihm aber kein Interesse mehr hat (sog. Zweckstörung).8 Auch in Fällen der wirtschaftlichen Unmöglichkeit, die von § 275 II BGB nicht erfasst sind, greift § 313 BGB ein.9 Das Verhältnis des § 313 BGB zu § 812 I 2 Alt. 2 BGB (Zweckverfehlungskondiktion) ist umstritten.10
Wegfall der objektiven Geschäftsgrundlage, § 313 I BGB
§ 313 I BGB befasst sich mit dem Fall des nachträglichen Wegfalls der objektiven Geschäftsgrundlage.
Unter der objektiven Geschäftsgrundlage wird jeder Umstand verstanden, dessen Vorhandensein oder Fortdauer erforderlich ist, damit der Vertrag im Sinne der Intentionen beider Parteien noch als eine sinnvolle Regelung bestehen kann.11
Eine Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 I BGB kann nur angenommen werden, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ vorliegen: 12
§ 313 I BGB stellt, wie sich aus einem Umkehrschluss aus § 313 II BGB ergibt, nur auf objektive Umstände ab.13 Diese müssen zur Grundlage des Vertrages geworden sein, nicht hingegen zu dessen Inhalt.
Der Umstand muss von mindestens einer Vertragspartei bei Abschluss des Vertrags als für den Vertragsschluss als wesentlich vorausgesetzt worden sein und die andere Partei hätte sich auf die Berücksichtigung dieses Umstands redlicherweise einlassen müssen. Der Geschäftswille der Parteien muss auf dem Umstand aufgebaut haben.14
Die Umstände müssen sich nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben. Es bedarf also einer wesentlichen Störung der Geschäftsgrundlage.15
] Hierbei handelt es sich um ein „reales Element“.Wann eine „schwerwiegende“ Veränderung der Geschäftsgrundlage gegeben ist, lässt sich nicht allgemein beantworten.16
Die Veränderung muss besonderes Gewicht und besondere Auswirkung auf die Vertragslage haben. Dies ist z. B. bei beachtlicher Äquivalenzstörung und bei Störungen des vorgesehenen Verwendungszwecks (Zweckvereitelung) der Fall.
Die Parteien müssten den Vertrag nicht oder mit einem anderen Inhalt geschlossen haben, wenn sie die Änderung vorausgesehen hätten. Hierbei handelt es sich um ein „hypothetisches Element“.
Es wird ein hypothetischer Kausalverlauf berücksichtigt. Der mutmaßliche Wille der Parteien ist durch Auslegung zu ermitteln. Maßgeblicher Zeitpunkt ist dabei der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.17
Das Festhalten am unveränderten Vertrag muss für einen Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, unzumutbar sein. Hierbei handelt es sich um ein „normatives Element“.
Dieses ist nur dann erfüllt, wenn das Festhalten am Vertrag zu untragbaren, mit Recht und Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden Ergebnissen führen würde;18
andernfalls bleibt es bei dem Grundsatz „pacta sunt servanda“.
Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage, § 313 II BGB
Einer Veränderung der Umstände steht es gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, sich als falsch herausstellen (§ 313 II BGB).
Das ursprüngliche Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage wird also dem anfänglichen Fehlen der objektiven Geschäftsgrundlage gleichgestellt. Dabei geht es um Fälle des gemeinschaftlichen Motivirrtums sowie um Fälle, in denen sich nur eine Partei falsche Vorstellungen macht, die andere diesen Irrtum aber ohne eigene Vorstellung hingenommen hat.
Rechtsfolgen
Rechtsfolge der Störung der Geschäftsgrundlage ist regelmäßig ein Anspruch auf Anpassung des Vertrags an die geänderten Umstände. Der Anspruch steht jeder Partei zu, nicht nur der benachteiligten.
Dadurch wird erreicht, dass die Parteien zunächst selbst über die Anpassung verhandeln. Führt dies nicht zum Erfolg, kann auf Anpassung geklagt werden, gerichtet auf Mitwirkung bei der Vertragsänderung oder unmittelbar auf die angepasste Leistung.
Eine Lösung vom Vertrag kommt gemäß § 313 III BGB nur dann in Betracht, wenn eine Anpassung nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar ist. Dann besteht ein Recht zum Rücktritt (§ 313 III 1 BGB) oder – bei Dauerschuldverhältnissen – zur (außerordentlichen) Kündigung (§ 313 III 2 BGB). Der Rücktritt löst die Rechtsfolgen der §§ 346 ff. BGB aus; bereits ausgetauschte Leistungen sind also zurück zu gewähren. Im Gegensatz dazu bewirkt die Kündigung nur eine Beendigung des Dauerschuldverhältnisses für die Zukunft; eine Rückabwicklung der in der Vergangenheit ausgetauschten Leistungen findet nicht statt.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 1.
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 560.
- Das Rechtsinstitut der Störung der Geschäftsgrundlage wurde durch die Rechtsprechung entwickelt und zunächst auf § 242 BGB gestützt (grundlegend: RG, Urt. v. 03.02.1922 – II RL 640/21, RGZ 103, 328; dazu Eidenmüller, Jura 2001, 824). Der Gesetzgeber hat diese Grundsätze im Rahmen des zum 01.01.2002 in Kraft getretenen Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, BGBl. I, S. 3138) in § 313 BGB kodifiziert, ohne dabei Änderungen des bisherigen Rechtszustandes zu beabsichtigen (BT-Drucks. 14/6040, S. 175).
- Hier und zum Folgenden: Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 562.
- BGH, Urt. v. 18.11.2011 – V ZR 31/11, Rn. 19.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 14.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 15; Hk-BGB/Schulze, 10. Aufl. 2019, § 313 Rn. 7.
- Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 16; Grüneberg, BGB, 83. Aufl. 2024, § 313 Rn. 35.
- Jacoby/v. Hinden, Studienkommentar BGB, 16. Aufl. 2018, § 313 Rn. 3.
- Teilweise wird § 313 BGB für vorrangig gehalten (Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 20), teilweise § 812 I 2 Alt. 2 BGB (Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 562).
- Medicus/Lorenz, Schuldrecht I – AT, 21. Aufl. 2015, Rn. 564.
- Zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 4 – 8.
- Hier und zum Folgenden: Brox/Walker, SchuldR AT, 43. Aufl. 2019, § 27 Rn. 4 – 6.
- BGH, Urt. v. 27.06.2012 – XII ZR 47/09, Rn. 16; BGH, Urt. v. 28.04.2005 – III ZR 351/04, NJW 200