Sittenwidriges Rechtsgeschäft (§ 138 I BGB)

Sittenwidriges Rechtsgeschäft (§ 138 I BGB)

Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig (§ 138 I BGB). Die Vorschrift, bei der es sich um eine rechtshindernde Einwendung handelt, betrifft nicht nur Verträge, sondern Rechtsgeschäfte aller Art.1

Verfügungsgeschäfte sind i.d.R. wertneutral und werden von der Sittenwidrigkeit des zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäfts nicht erfasst (Abstraktionsprinzip); erweist sich jedoch gerade das Verfügungsgeschäft als sittenwidrig, ist auch dieses nichtig.2

Der Begriff der „guten Sitten“

Was unter den „guten Sitten“ zu verstehen ist, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. § 138 I BGB enthält insoweit eine ausfüllungsbedürftige Generalklausel.3 Nach gängiger Formel verstößt ein Rechtsgeschäft dann gegen die guten Sitten, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt.4 Maßgeblich sind also nicht die Moralvorstellungen der Parteien oder des Gerichts, sondern ein moralischer Mindeststandard, der in der Gesellschaft vorherrscht und sich durchaus wandeln kann.5

Die zu ermittelnden Wertmaßstäbe sind als rechtsethische Prinzipien in der Rechtsordnung selbst angelegt, insbesondere im Wertesystem des Grundgesetzes, das über § 138 BGB in das Privatrecht einwirkt („mittelbare Drittwirkung von Grundrechten“).6 Da über § 138 BGB in die Privatautonomie eingegriffen wird, sollte mit der Beurteilung eines Rechtsgeschäfts als sittenwidrig restriktiv verfahren werden.7

Objektives und subjektives Element

Ein objektiver Verstoß gegen die guten Sitten kann bereits aus dem Inhalt des Rechtsgeschäfts folgen.8 Meist ergibt sich die Sittenwidrigkeit aber erst aus einer Gesamtwürdigung des Rechtsgeschäfts ergeben, in die der Inhalt, der Beweggrund und der Zweck des Rechtsgeschäfts einzubeziehen sind.9 Auch wenn das Geschäft objektiv noch nicht anstößig ist, können die Umstände, die zu seiner Vornahme geführt haben, und die von den Parteien verfolgten Absichten und Beweggründe zur Nichtigkeit nach § 138 BGB führen.10 Das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit und eine Schädigungsabsicht sind nicht erforderlich; es genügt, wenn der Handelnde die Tatsachen kennt, aus denen sich die Sittenwidrigkeit ergibt,11 wobei dem gleich steht, wenn sich jemand bewusst oder grob fahrlässig der Kenntnis erheblicher Tatsachen verschließt.12

Das subjektive Element muss bei beiden Parteien vorliegen, wenn sich der Sittenverstoß gegen die Allgemeinheit oder Dritte richtet; richtet er sich nur gegen den Geschäftsgegner, reicht ein einseitiger Sittenverstoß des anderen Teils.13

Maßgeblicher Zeitpunkt

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit ist die Vornahme des Rechtsgeschäfts.14

Beispiel: Ein früher zu marktgerechten Zinsen aufgenommenes Darlehen wird nicht nachträglich sittenwidrig, weil der Marktzins später auf ein historisches Tief fällt und das Darlehen nun zu deutlich günstigeren Konditionen zu bekommen wäre. Umgekehrt wird ein Darlehen nicht dadurch sittenwidrig, dass der Zinssatz wegen seiner Verknüpfung mit der Wechselkursentwicklung zum Schweizer Franken auf 18,99 % steigt.15

Fallgruppen

Zur Konkretisierung der Generalklausel des § 138 I BGB sind zahlreiche Fallgruppen entwickelt worden. Die wichtigsten sind:

  • Wucherähnliches Geschäft
    Gegenseitige Verträge können, auch wenn der Wuchertatbestand des § 138 II BGB nicht in allen Voraussetzungen erfüllt ist, als wucherähnliche Rechtsgeschäfte nach § 138 I BGB sittenwidrig sein, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung objektiv ein auffälliges Missverhältnis besteht und außerdem mindestens ein weiterer Umstand hinzukommt, der den Vertrag bei Zusammenfassung der subjektiven und objektiven Merkmale als sittenwidrig erscheinen lässt; dies ist insbesondere der Fall, wenn eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten hervorgetreten ist, weil er etwa die wirtschaftlich schwächere Position des anderen Teils bewusst zu seinem Vorteil ausgenutzt oder sich zumindest leichtfertig der Erkenntnis verschlossen hat, dass sich der andere nur unter dem Zwang der Verhältnisse auf den für ihn ungünstigen Vertrag eingelassen hat.16 Ist das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besonders grob, so kann dies den Schluss auf die bewusste oder grob fahrlässige Ausnutzung eines den Vertragspartner in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigenden Umstands rechtfertigen.17 Ein grobes Missverhältnis, das den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung zulässt, kann regelmäßig angenommen werden, wenn der Wert der Leistung annähernd doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung.18

  • Bürgschaften naher Angehöriger
    Eine Angehörigenbürgschaft wird dann als sittenwidrig erachtet, wenn dem Bürgen eine krasse finanzielle Überforderung droht; diese liege dann vor, wenn der Bürge aus seinem pfändbaren Vermögen und Einkommen voraussichtlich nicht einmal die Zinsen der Hauptschuld aufbringen kann.19 In solchen Fällen wird (widerleglich) vermutet, dass die familiäre Bindung ausgenutzt worden ist und kein freier Entschluss des Bürgen zur Übernahme der Bürgschaft vorlag.20

  • Knebelverträge
    Sittenwidrig ist eine langfristige Bindung dann, wenn sie zu einer „Knebelung“ des einen Vertragspartners führt, indem sie seine wirtschaftliche Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit unzumutbar beschränkt.21 Sittenwidrig ist die Bindung erst dann, wenn durch sie die persönliche und wirtschaftliche Handlungsfreiheit so beschränkt wird, dass die eine Seite der anderen in einem nicht mehr hinnehmbaren Übermaß „auf Gedeih und Verderb" ausgeliefert ist.22 Die „geknebelte“ Partei muss in ihrer wirtschaftlichen Entfaltung in einem derartigen Ausmaß beschnitten sein, dass sie ihre Selbständigkeit und ihre wirtschaftliche Entschließungsfreiheit im ganzen oder in einem wesentlichen Teil einbüßt.23


  1. Hier und zum Folgenden: Hk-BGB/Dörner, 11. Aufl. 2022, § 138 Rn. 2.
  2. BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 50; Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 266.
  3. Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 261.
  4. BGH, Urt. v. 04.05.2023 – IX ZR 157/21, Rn. 31; BGH, Urt. v. 26.04.2022 – X ZR 3/20, Rn. 31; BGH, Urt. v. 18.04.2018 – XII ZR 76/17, Rn. 24.
  5. Schack, BGB AT, 17. Aufl. 2023, Rn. 261.
  6. Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 10 Rn. 1; Jacoby/v. Hinden, BGB, 18. Aufl. 2022, § 138 Rn. 1.
  7. Bitter/Röder, BGB AT, 5. Aufl. 2020, § 6 Rn. 38.
  8. Jacoby/v. Hinden, BGB, 18. Aufl. 2022, § 138 Rn. 2.
  9. BGH, Urt. v. 04.05.2023 – IX ZR 157/21, Rn. 31; BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 31; BGH, Urt. v. 26.04.2022 – X ZR 3/20, Rn. 32; BGH, Urt. v. 13.12.2018 – IX ZR 216/17, Rn. 11; BGH, Urt. v. 11.10.2018 – VII ZR 298/17, Rn. 17; BGH, Urt. v. 18.04.2018 – XII ZR 76/17, Rn. 24; BGH, Urt. v. 19.12.2017 – XI ZR 152/17, Rn. 24.
  10. BGH, Urt. v. 13.12.2018 – IX ZR 216/17, Rn. 11.
  11. BGH, Urt. v. 04.05.2023 – IX ZR 157/21, Rn. 31; BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 31.
  12. BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 31; BGH, Urt. v. 13.12.2018 – IX ZR 216/17, Rn. 11.
  13. Jacoby/v. Hinden, BGB, 18. Aufl. 2022, § 138 Rn. 3.
  14. BGH, Urt. v. 19.12.2017 – XI ZR 152/17, Rn. 24; Faust, BGB AT, 8. Aufl. 2023, § 10 Rn. 2.
  15. BGH, Urt. v. 19.12.2017 – XI ZR 152/17, Rn. 28.
  16. BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 32.
  17. BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 33.
  18. BGH, Urt. v. 16.11.2022 – VIII ZR 436/21, Rn. 33. Bei Darlehensverträgen wird das grobe Missverhältnis bejaht, wenn der vereinbarte Zins den Marktzins um 12% absolut oder um 100% relativ überschreitet (BGH, Urt. v. 19.12.2017 – XI ZR 152/17, Rn. 25). Beim „Schnäppchenkauf“ (z. B. bei einer eBay-Auktion) rechtfertigt jedoch allein ein grobes Missverhältnis zwischen Kaufpreis und objektivem Wert des Kaufgegenstandes nicht den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Käufers; hierzu bedarf es weiterer Umstände (BGH, Urt. v. 24.08.2016 – VIII ZR 100/15, Rn. 43: Ersteigerung eines Kfz für 1,50 € statt 17.000,00 € infolge Mitbietens auf einen eigenen Artikel unter zweitem eBay-Mitgliedskonto [„Shill Bidding“]).
  19. BGH, Urt. v. 14.11.2000 – XI ZR 248/99, NJW 2001, 815, 816.
  20. BGH, Urt. v. 15.11.2016 – XI ZR 32/16, Rn. 20 ff.
  21. BGH, Urt. v. 12.06.2018 – KZR 4/16, Rn. 74.
  22. BGH, Urt. v. 22.05.2012 – II ZR 205/10, Rn. 13.
  23. BGH, Urt. v. 04.05.2023 – IX ZR 157/21, Rn. 32.