Rechtswidrigkeit und Schuld beim fahrlässigen Begehungsdelikt

Rechtswidrigkeit und Schuld beim fahrlässigen Begehungsdelikt

Im Vergleich zum vorsätzlichen Begehungsdelikt sind bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit und der Schuld einige Besonderheiten zu beachten.

Rechtswidrigkeit

Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten ist die Rechtswidrigkeit durch Verwirklichung des Tatbestands indiziert. Sie kann aber ebenso durch anerkannte Rechtfertigungsgründe ausgeschlossen sein.1

In Betracht kommen insbesondere Notwehr,2 Notstand3 und Einwilligung.4 Die Tat ist insbesondere gerechtfertigt, wenn der Täter den Tatbestand auch vorsätzlich hätte verwirklichen dürfen.5

Bei Vorsatzdelikten bedarf es eines subjektiven Rechtfertigungselements, und zwar nach zutreffender Ansicht regelmäßig in Gestalt einer Rechtfertigungs_absicht_.6 Fraglich ist, ob dies auch für Fahrlässigkeitsdelikte gilt. Beantworten lässt sich diese Frage nur, wenn man sich die Unterschiede zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten vor Augen führt.7

Beim vollendeten Vorsatzdelikt ist der Täter strafbar, weil er Handlungs- und Erfolgsunrecht begeht. Die objektive Rechtfertigungslage kompensiert allein das Erfolgsunrecht. Damit die Tat insgesamt gerechtfertigt ist, muss auch das Handlungsunrecht entfallen. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Täter auch subjektiv mit Rechtfertigungswillen agiert. Liegen die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes vor, fehlt es aber an dem subjektiven Rechtfertigungselement, ist der Täter wegen Versuchs zu bestrafen.8

Auch bei der Fahrlässigkeitstat wird der Erfolgsunwert durch das Vorliegen einer objektiven Rechtfertigungslage kompensiert.9 Übrig bleibt der Handlungsunwert, die objektive Sorgfaltspflichtverletzung. Man kann darin einen fahrlässigen Versuch erblicken. Der Versuch eines Fahrlässigkeitsdelikts ist aber nicht strafbar. Liegt das Erfolgsunrecht nicht vor, fehlt es an einem konstitutiven Element der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit; das verbleibende Handlungsunrecht genügt nicht, um eine Strafbarkeit zu begründen. Daraus wird teilweise abgeleitet, beim fahrlässigen Erfolgsdelikt dürften subjektive Rechtfertigungselemente fehlen.10 Die Gegenauffassung fordert zumindest einen „generellen Abwehrwillen“ und sieht die Tat als nicht gerechtfertigt an, wenn ein solcher fehlt; als „fahrlässiger Versuch“ sei die Tat aber nicht strafbar.11

Dieser rein dogmatische Streit ist für den Fahrlässigkeitstäter selbst bedeutungslos; nicht einmal für die Teilnahme ist er relevant, weil diese eine vorsätzliche rechtswidrige Tat voraussetzt (vgl. §§ 26, 27 I StGB).

Schuld

Im Vergleich zum vorsätzlichen Begehungsdelikt sind beim fahrlässigen Begehungsdelikt12 im Rahmen der Schuldprüfung zwei Besonderheiten zu beachten:13

Es müssen Elemente der subjektiven Fahrlässigkeit festgestellt werden. Die subjektive Fahrlässigkeitsseite erfordert, dass der Täter bei der Begehung der Tat nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage war, die Sorgfaltspflicht zu erfüllen und die Tatbestandsverwirklichung vorauszusehen. Zur subjektiven Voraussehbarkeit gehört die individuelle Voraussehbarkeit des Kausalverlaufs mit seinen wesentlichen Einzelheiten.

Zur Verneinung der subjektiven Fahrlässigkeit können beispielsweise Intelligenzmängel, Gedächtnisschwächen, Wissenslücken, Erfahrungsmängel, Altersabbau, plötzliche Leistungsabbrüche, Schrecken und Verwirrung führen. Dafür bedarf es in der Fallbearbeitung aber klarer Hinweise. In der Regel wird man davon ausgehen können, dass das, was objektiv pflichtwidrig und voraussehbar ist, auch subjektiv hätte erkannt werden können.14 Führt der Grad der Unterprivilegierung zur Schuldunfähigkeit und damit zum Schuldausschluss, kann der Täter bereits deshalb nicht bestraft werden.15

Weiterhin ist zu beachten, dass neben den allgemeinen Entschuldigungsgründen auch die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens als besonderer Entschuldigungsgrund in Betracht kommt.16 Dafür muss dem Täter die Erfüllung der Sorgfaltspflicht in der konkreten Konfliktsituation allerdings in solch außergewöhnlichem Maße erschwert gewesen sein, dass die Unterlassung des sorgfaltswidrigen Verhaltens die Aufopferung eigener billigenswerter Interesse bedingt hätte.

Beispiel: Ein Arbeitnehmer beachtet aus Angst vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes infolge entsprechender Weisung seines Arbeitgebers bestimmte Sicherheitsregeln (z. B. Lenkzeitvorschriften für Lkw-Fahrer) nicht.

Definition fahrlässigen Handelns

Damit ergibt sich abschließend folgende Definition fahrlässigen Handelns:17

„Fahrlässig handelt, wer eine objektive Pflichtwidrigkeit begeht, sofern er diese nach seinen subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten vermeiden konnte, und die Pflichtwidrigkeit objektiv und subjektiv vorhersehbar den Erfolg herbeigeführt hat.“


  1. R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 873.
  2. Beispiel: Eine riskante Verteidigungshandlung (z. B. Schlag auf den Kopf) hat eine ungewollte Auswirkung (z. B. Tod des Angreifers), Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 75.
  3. Beispiel: T verletzt bei einem Ausweichmanöver, mit dem er von sich eine Lebensgefahr abwenden will, ungewollt einen Unbeteiligten (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 76).
  4. Fragen der Einwilligung haben bei den §§ 222, 229 StGB vor allem in Konstellationen der einverständlichen Fremdgefährdung große Relevanz (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 77).
  5. BGH, Beschl. v. 21.03.2001 – 1 StR 48/01, NJW 2001, 3200, 3201; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 73.
  6. So bei der Notwehr (§ 32 StGB) und dem Festnahmerecht (§ 127 I 1 StPO); ähnlich auch beim Notstand (§ 34 StGB: „Rettungswillen.)
  7. Zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 875 f.
  8. BGH, Beschl. v. 11.10.2016 – 1 StR 462/16, Rn. 16; Geppert, Jura 2007, 33, 34; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 17 Rn. 18; Rönnau, JuS 2009, 594, 596; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 406 ff.
  9. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 79.
  10. Mitsch, JuS 2001, 105, 110; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 876; einschränkend auch Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vor § 32 Rn. 98 f.
  11. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 79.
  12. Zum fahrlässigen Unterlassungsdelikte siehe: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 54; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 885 f.
  13. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 52 Rn. 82 – 89.
  14. LG Karlsruhe, Urt. v. 16.12.1999 – 3 Ss 43/99, NStZ-RR 2000, 141 ff.; Nestler, Jura 2015, 562, 565 ff.
  15. R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 881.
  16. Dies hat das fahrlässige Begehungsdelikt mit dem unechten Unterlassungsdelikt gemein. Ein Fall der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens kommt nur bei der bewussten Fahrlässigkeit in Betracht (R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 884).
  17. BGH, Urt. v. 04.09.2014 – 4 StR 473/13, Rn. 32.