Rechtfertigender Notstand

Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB)

Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen1 abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt (§ 34 S. 1 StGB). Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden (§ 34 S. 2 StGB).

§ 34 StGB hat im Verhältnis zu anderen Rechtfertigungsgründen Auffangcharakter.2 Ist § 32 StGB zu bejahen, erübrigt sich die Erörterung des § 34 StGB. Die §§ 228, 904 BGB regeln Spezialfälle des § 34 StGB und sind deshalb vor § 34 StGB zu prüfen; greift einer dieser Rechtfertigungsgründe ein, genügt bei § 34 StGB ein Hinweis auf die Spezialität des zivilrechtlichen Notstandes. Auch die (mutmaßliche) Einwilligung hat Vorrang vor § 34 StGB. Der entschuldigende Notstand ist ein Entschuldigungsgrund und wird deshalb bei der Schuld dargestellt.

Prüfungsaufbau

Die Voraussetzungen des § 34 StGB sind in folgender Reihenfolge zu prüfen:3

Prüfungsschema: Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB

  1. Objektive Rechtfertigungselemente
    1. Notstandslage: Gegenwärtige Gefahr für ein Rechtsgut
    2. Notstandshandlung: Eingriff in ein anderes Rechtsgut, der geeignet und erforderlich („nicht anders abwendbar“) ist und das mildeste effektive Mittel darstellt
    3. Interessenabwägung: Das geschützte Interesse muss das beeinträchtigte Interesse wesentlich überwiegen
    4. Angemessenheit des Mittels (§ 34 S. 2 StGB)
  2. Subjektives Rechtfertigungselement: Rettungswillen („um … abzuwenden“)

Notstandslage

Die Notstandslage geht weiter als die Notwehrlage des § 32 StGB, weil sie auch Rechtsgüter der Allgemeinheit erfasst4 und statt eines gegenwärtigen Angriffs eine gegenwärtige Gefahr genügt.5

Unter einer Gefahr ist ein Zustand zu verstehen, in dem aufgrund tatsächlicher Umstände bei natürlicher Weiterentwicklung des Geschehens der Eintritt eines schädigenden Ereignisses nahe liegt.6

Zur Beurteilung der Gefahr muss man sich in die konkrete Handlungsperspektive ex-ante und die Rolle eines sachverständigen Beurteilers versetzen, der die zum Handlungszeitpunkt tatsächlich gegebenen Umstände kennt und mit etwaigem Sonderwissen des Täters ausgerüstet ist (objektiv nachträgliche Prognose).

Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sich die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nach dem objektiven Urteil eines sachkundigen Beobachters aus der ex-ante-Perspektive so verdichtet hat, dass bei natürlicher Weiterentwicklung der Dinge der Eintritt eines Schadens sicher oder höchst wahrscheinlich ist.

Dies umfasst auch die Dauergefahr, also einen Zustand, bei dem die Gefahr jederzeit in einen Schaden umschlagen kann.7

Notstandshandlung

Die Notstandshandlung besteht in der Begehung der tatbestandsmäßigen Tat, deren Rechtfertigung nach § 34 StGB geprüft wird.8 Diese Tat kann wegen Notstands nur gerechtfertigt sein, wenn die Gefahr „nicht anders abwendbar“ ist. Diese Notstandsvoraussetzung entspricht grundsätzlich dem Merkmal der Erforderlichkeit bei der Notwehr. Die begangene Tat ist erforderlich, wenn die Handlung geeignet ist, der Gefahr zu begegnen, und der Täter das mildeste mögliche Mittel einsetzt, das die Notstandslage wirksam beseitigt, ohne die Gefahr für den Täter zwischenzeitlich zu erhöhen oder bloß hinauszuschieben.

Entscheidend ist auch bei § 34 StGB das Urteil eines sachverständigen Dritten aus der ex-ante-Perspektive in der konkreten Handlungssituation des Täters. Geeignet ist die Rettungshandlung bereits dann, wenn sie zumindest eine geringe Rettungschance verspricht. Bezüglich des relativ mildesten Mittels ist bei § 34 StGB – in Abgrenzung zu § 32 StGB – zu beachten, dass bei § 34 StGB Ausweichmöglichkeiten wahrgenommen werden müssen („nicht anders abwendbar“).

Interessenabwägung

§ 34 StGB erfordert eine „Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren“. Dabei muss das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich9 überwiegen.10 Ob dies der Fall ist, muss in drei Schritten geprüft werden:

  1. Zunächst sind die betroffenen Rechtsgüter nach ihrem abstrakten Rangverhältnis abzuwägen. Personenwerte stehen dabei grundsätzlich über Sach- und Vermögenswerten. Indiziell lässt sich der Rang eines Rechtsguts aus einem Strafrahmenvergleich ableiten.
  2. In einem zweiten Schritt erfolgt die Abwägung nach dem Grad der drohenden Gefahren. Eine konkrete Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut darf etwa durch die Schaffung einer bloß abstrakten Lebens- und Gesundheitsgefahr abgewendet werden (Beispiel: rettungsbedingte Trunkenheitsfahrt).
  3. Wie sich aus dem Wort „namentlich“ ergibt, sind dies nicht die einzig denkbaren Abwägungsfaktoren. Es können weitere Faktoren herangezogen werden, etwa das Ausmaß der drohenden Rechtsgutsverletzungen,11 und die Frage, ob der Notstandstäter die Notstandslage selbst schuldhaft herbeigeführt hat.

Angemessenheit des Mittels

Nach § 34 S. 2 StGB kann die Tat nur gerechtfertigt sein, soweit sie ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

Diese Angemessenheitsklausel hat eine ähnliche einschränkende Funktion wie die Gebotenheit bei der Notwehr.12 Über diese Klausel wird eine Rechtfertigung nach § 34 StGB z. B. dort ausgeschlossen, wo für die Abwendung von Gefahren rechtlich geordnete Verfahren zur Verfügung stehen. 13

Subjektives Rechtfertigungselement

Entsprechend dem Wortlaut des § 34 StGB und parallel zu § 32 StGB verdient die Ansicht Vorzug, die zumindest einen nicht ganz in den Hintergrund tretenden zielgerichteten Rettungswillen verlangt.14


  1. Parallel zur Nothilfe des § 32 II Alt. 2 StGB erstreckt sich § 34 StGB auch auf die „Notstandshilfe“ (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 1).
  2. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 3 – 5.
  3. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 6.
  4. Das folgt aus der Formulierung „oder ein anderes Rechtsgut“ (Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 8).
  5. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 7.
  6. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 9.
  7. BGH, Urt. v. 25.03.2003 – 1 StR 483/02, BGHSt 48, 255, 259 (Haustyrannen-Fall“).
  8. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 20 – 23.
  9. Erforderlich ist ein qualifiziertes und nicht bloß einfaches (aber eindeutiges) Überwiegen (MünchKomm-StGB/Erb, 3. Aufl. 2017, § 34 Rn. 108 f.; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 43; a. A. Perron, in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 34 Rn. 45; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 89 f.).
  10. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 26 – 43.
  11. Leben gegen Leben darf allerdings weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht gegeneinander abgewogen werden. Als Beispiel dient der Flugzeugabschuss-Fall: Steuern Terroristen ein voll besetztes Passagierflugzeug in Richtung eines mit mehreren Tausend Menschen besetztes Gebäude, kann der Abschuss der Flugzeugs nicht gerechtfertigt sein kann. § 32 StGB kann lediglich die Tötung der angreifenden Terroristen rechtfertigen. Das Leben der Flugpassagiere darf nicht gegen das Leben der vielen Tausend Menschen in dem Zielgebäude abgewogen werden (h. M.; Roxin, ZIS 2011, 552 ff.; Streng, FS Stöckel, 2010, 135 ff.; a. A. Rogall NStZ 2008, 1 ff.; siehe auch das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach).
  12. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 19 Rn. 48.
  13. Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 34 Rn. 31.
  14. BGH, Urt. v. 23.08.1979 – 4 StR 316/79, NJW 1979, 2621, 2622.