Recht auf vorläufige Festnahme

Recht auf vorläufige Festnahme (§ 127 I 1 StPO)

Einige Taten können durch das Recht auf vorläufige Festnahme gemäß § 127 I 1 StPO gerechtfertigt sein.1

Beispiele: Einfache Körperverletzungen (§ 223 StGB), Freiheitsbeeinträchtigungen (§§ 239, 240 StGB), Sachbeschädigungen an der Kleidung des Flüchtenden (§ 303 I StGB).

Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen (§ 127 I 1 StPO).

Das Jedermann-Festnahmerecht des § 127 I 1 StPO dient allein dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung und der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs.2 Der Bürger nimmt stellvertretend für nicht anwesende Strafverfolgungsorgane öffentliche Aufgaben wahr.

Prüfungsaufbau

Die Voraussetzungen des § 127 I 1 StPO sind in folgender Reihenfolge zu prüfen:3

Prüfungsschema: Vorläufige Festnahme gemäß § 127 I 1 StPO

  1. Objektive Rechtfertigungselemente
    1. Festnahmelage
      1. Betreffen oder Verfolgen auf frischer Tat
      2. Festnahmegrund: Fluchtverdacht oder Sicherung der sofortigen Identitätsfeststellung
    2. Festnahmehandlung (Erforderlichkeit)
  2. Subjektives Rechtfertigungselement: Festnahmeabsicht (Festnahme zum Zwecke der Strafverfolgung)

Festnahmelage

Auf frischer Tat betroffen ist, wer während der Tat oder unmittelbar danach am Tatort oder in dessen unmittelbarer Nähe angetroffen wird.4

Eine Verfolgung auf frischer Tat liegt vor, wenn der Täter zwar nicht am Tatort gestellt wird, aber gegen ihn unmittelbar nach Entdeckung der Tat aufgrund eines konkreten Tatverdachts Maßnahmen zu seiner Ergreifung eingeleitet werden.

Tat i.S.v. § 127 I 1 StPO ist eine Straftat, also jedes Verbrechen oder Vergehen.5 Ein strafbarer Versuch genügt. Bei einem i.S.v. § 20 StGB schuldlos handelnden Täter genügt eine rechtswidrige Tat (vgl. §§ 63, 64, 69 I, II Nr. 4, 70 I StGB). Gegenüber strafunmündigen Kindern (§ 19 StGB) gilt das Festnahmerecht nicht, weil strafrechtliche Reaktionen nicht in Betracht kommen.6 Auf die Schwere der Straftat kommt es nicht an.7

Sehr umstritten ist, ob die Tat tatsächlich begangen worden sein muss (materiell-rechtliche Lösung) oder ob ein dringender Tatverdacht genügt (prozessuale Lösung). Ein dringender Tatverdacht liegt vor, wenn der Festnehmende aufgrund der ihm erkennbaren äußeren Umstände bei pflichtgemäßer Prüfung, also ohne Sorgfaltsverstoß von einer Straftat ausgehen durfte.8

Für die materiell-rechtliche Lösung9 wird angeführt, dass das Gesetz einen dringenden Tatverdacht in § 127 II i.V.m. § 112 I 1 StPO nur für die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes genügen lässt; dann müsse für § 127 I 1 StPO und das dort geregelte Jedermann-Festnahmerecht etwas anderes gelten. Der Gesetzgeber habe mit dieser Systematik des § 127 StPO zum Ausdruck bringen wollen, dass er nur die zum Eingreifen verpflichteten Strafverfolgungsbeamten (§§ 152, 160, 163 StPO) vom Irrtumsrisiko entlasten will, nicht aber Privatpersonen. Zudem müsse die Rechtfertigungslage auch bei anderen Rechtfertigungsgründen wie z. B. der Notwehr objektiv vorliegen. Schließlich dürfe dem objektiv zu Unrecht Festgenommenen nicht seinerseits sein Notwehrrecht genommen werden. Der Festnehmende sei hinreichend über die Regeln des Erlaubnistatbestandsirrtums geschützt.

Auch wenn sich diese Argumente durchaus hören lassen, verdient im Ergebnis die prozessuale Lösung10 den Vorzug.11 § 127 StPO hat prozessualen Charakter und vorläufige strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen können zwangsläufig nur an einen (dringenden) Tatverdacht anknüpfen. Es leuchtet zudem nicht ein, die stellvertretend für die Obrigkeit agierende Privatperson schlechter zu stellen als die Strafverfolgungsorgane selbst. Dem ohne Sorgfaltsverstoß vorläufig festgenommenen, dringend verdächtigen unschuldigen Bürger ist es auch zuzumuten, seine Festnahme zu dulden, zumal er zur Entstehung des Verdachts regelmäßig beigetragen hat.

Fluchtverdacht besteht, sofern der Festnehmende mit einer Flucht des Verdächtigen rechnen muss.12

Die Identität des Verdächtigen lässt sich in der Regel dann nicht feststellen, wenn der Festgenommene seinen Ausweis nicht vorlegen kann oder will; in diesem Fall muss der Festnehmende die Identitätsfeststellung durch die Staatsanwaltschaft oder Polizei veranlassen (§ 163b StPO).

Festnahmehandlung

§ 127 I 1 StPO führt nicht aus, in welchen Grenzen die Festnahme erfolgen darf. Dies ergibt sich vielmehr aus dem allgemeinen Kriterium der Erforderlichkeit.13 Danach muss die Festnahmehandlung geeignet und bei mehreren zur Verfügung stehenden Maßnahmen das mildeste Mittel sein, mit dem der Festnahmezweck erreicht werden kann.

Der Festnahmezweck darf nicht überschritten werden. Es sind nur solche Mittel gestattet, die mehr oder weniger zwangsläufig mit einer Festnahme verbunden sind. Hierzu können noch Warnschüsse gezählt werden, nicht aber gezielte Schüsse auf einen fliehenden Täter.

Widersetzt sich der dringend Verdächtige mit Gewalt seiner Festnahme, darf der Festnehmende dagegen im Wege der Notwehr vorgehen, weil die Gegenwehr einen rechtswidrigen Angriff darstellt. In diesem Fall ist der Festnehmende nicht mehr an die Schranken des § 127 I 1 StPO gebunden, sondern kann die weiter reichenden Notwehrbefugnisse für sich in Anspruch nehmen.14

Subjektives Rechtfertigungselement

In subjektiver Hinsicht muss der Festnehmende um die Festnahmelage wissen und die Absicht – im Sinne des dolus directus 1. Grades – haben, den Festgenommenen der Strafverfolgung zuzuführen.15


  1. Zum Jedermann-Festnahmerecht nach § 127 I 1 StPO als Rechtfertigungsgrund siehe Satzger, Jura 2009, 107 ff.
  2. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 1.
  3. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 3.
  4. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 6.
  5. Hier und zum Folgenden: Joecks/Jäger, StPO, 4. Aufl. 2015, § 127 Rn. 2; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 4.
  6. Vgl. statt vieler: Satzger, Jura 2009, 107, 109 f.; a. A. Pfeiffer, StPO, 5. Aufl. 2005, § 127 Rn. 2: Wegen zunehmender schwerer Kindeskriminalität sei Identitätsfeststellung zur Verbrechensbekämpfung zulässig.
  7. BGH, Urt. v. 10.02.2000 – 4 StR 558/99, BGHSt 45, 378, 380 f.; Satzger, Jura 2009, 107, 112; a. A. Schröder, Jura 1999, 10, 11 f.: Ausklammerung von „Bagatellfällen“.
  8. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 7.
  9. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 13.03.1981 – 1 Ss 35/80, NJW 1981, 2016; Satzger, Jura 2009, 107, 109 f.; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 127 Rn. 4.
  10. BGH, Urt. v. 18.11.1980 – VI ZR 151/78, NJW 1981, 745; OLG Hamm, Beschl. v. 08.01.1998 – 2 Ss 1526/97, NStZ 1998, 370; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 10.
  11. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 10.
  12. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 13.
  13. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 14 – 22.
  14. BGH, Urt. v. 10.02.2000 – 4 StR 558/99, BGHSt 45, 378, 381.
  15. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 22 Rn. 23.