Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen
Überblick - Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen
Die Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen regelt die Reihenfolge der zu prüfenden Ansprüche.
A. Vertragliche Ansprüche
Die Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen beginnt mit der Prüfung der vertraglichen Ansprüche. Dies sind Ansprüche, die anlässlich eines Vertragsschluss in Betracht kommen. Hier ist zu unterscheiden zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiäransprüchen.
I. Primäransprüche
Primäransprüche sind auf Erfüllung gerichtet. Beispiel: Wenn A dem B ein Auto verkauft, hat B einen Anspruch auf Übereignung des Fahrzeugs nach § 433 I BGB und A hat einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises gemäß § 433 II BGB.
II. Sekundäransprüche
Sekundäransprüche kommen bei Leistungsstörungen in Betracht, etwa Unmöglichkeit oder Verzug. Beispiel1: A verkauft dem B ein gebrauchtes Fahrzeug und nach Vertragsschluss, aber noch vor der Übereignung, erleidet das Fahrzeug aufgrund eines Unfalls einen Totalschaden. Die Übereignung des Fahrzeugs ist damit unmöglich geworden, der Primäranspruch erlischt. Es besteht jedoch ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung gemäß §§ 280, I, III, 283 BGB, wenn beispielsweise das Auto für einen höheren Preis hätte weiterverkauft werden können. Beispiel2: Wie oben, nur dass als Lieferzeitpunkt der 01.07. bestimmt worden ist und das Fahrzeug an diesem Tag nicht geliefert wird, sodass ein Ersatzfahrzeug angemietet werden muss. Hier entsteht neben dem Primäranspruch auf Übereignung des Wagen aufgrund des Verzuges ein Sekundäranspruch gemäß §§ 280 I, II, 286 BGB.
II. Tertiäransprüche
Tertiäransprüche sind Ansprüche, die auf Surrogate gerichtet sind, vgl. beispielsweise § 285 BGB. Beispiel3: Wie oben. Aufgrund des Totalschadens ist der Primäranspruch untergegangen. Jedoch hat A möglicherweise einen Anspruch auf Schadensersatz gegen den Unfallverursacher. Nun kann B unter bestimmten Voraussetzungen verlangen, dass A ihm diesen Anspruch als Surrogat für die unmöglich gewordene Leistung abtritt. Dies ist insbesondere dann interessant, wenn der Unfallverursacher gut versichert war und B den niedrigeren Verkaufspreis zahlt, um den höheren Schadensersatzanspruch gegen die Versicherung zu erhalten.
B. Quasivertragliche Ansprüche
Die Prüfung der Anspruchsgrundlagen setzt sich sodann mit der Prüfung der quasi-vertraglichen Ansprüche fort. Dies sind vertragsähnliche Ansprüche, die bei dem Schadensersatz nach Irrtumsanfechtung, der Vertretung ohne Vertretungsmacht, culpa in contrahendo (cic) und der Geschäftsführung ohne Auftrag (GoA) in Betracht kommen. Bei der Irrtumsanfechtung entsteht ein Schadensersatzanspruch anlässlich des aufgrund der Anfechtung gescheiterten Vertrags gemäß § 122 BGB. Der Vertreter ohne Vertretungsmacht ist in § 179 BGB geregelt. Beispiel: A erteilt dem B die Vollmacht, ihm ein Auto für 10.000 Euro zu kaufen. B schließt jedoch einen Kaufvertrag über ein Auto, das 100.000 Euro kostet und hat damit nach außen ohne Vertretungsmacht gehandelt, sodass A nicht Vertragspartner und damit nicht verpflichtet wird, den Betrag zu zahlen. Allerdings hat der Verkäufer des Wagens gemäß § 179 BGB gegen B einen Anspruch, als wäre B selbst der Vertragspartner gewesen. Culpa in contrahendo ist in den §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB geregelt und meint das Verschulden bei Vertragsschluss. Beispiel: A kommt anlässlich einer Probestunde in ein Repetitorium und rutscht dort aus, weil nicht ordentlich gewienert worden ist. Folglich steht dem A unabhängig davon, ob später ein Vertragsschluss zustande kommt, ein Schadensersatzanspruch gegen das Repetitorium zu. Mithin kommen bereits in der Anbahnung des Vertrag Schadensersatzansprüche in Betracht. Die GoA ist in den §§ 677 ff. BGB normiert. Beispiel: Das Haus des A brennt und B sieht als Passant den Brand und löscht ihn mit seinen Mitteln. Dem B steht danach ein Anspruch auf Aufwendungsersatz gemäß §§ 683 S. 1, 670, 677 BGB zu, so als wenn er von A beauftragt worden wäre.
C. Dingliche Ansprüche
Auf die quasi-vertraglichen Ansprüche folgen in der Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen die dinglichen Ansprüche. Diese knüpfen an die Eigentümerstellung bzw. die besitzrechtliche Position an, vgl. §§ 985, 861 BGB.
I. Primäransprüche
Beispiel: B klaut dem A sein Auto und A verlangt als Eigentümer die Herausgabe des Fahrzeugs von B nach § 985 BGB, da B kein Recht zum Besitz hat. Darüber hinaus war A auch vorheriger Besitzer und B hat den Besitz durch verbotene Eigenmacht erlangt, sodass A zusätzlich einen Herausgabeanspruch gemäß § 861 BGB hat.
II. Sekundäransprüche
Dingliche Sekundäransprüche sind Ansprüche aus dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis (EBV), §§ 987 ff. BGB. Diese sind entweder auf Schadensersatz gerichtet, wenn der Herausgabeanspruch nicht möglich ist, oder auf Herausgabe der Nutzungen neben der Herausgabe der Sache. Beispiel: B klaut das Auto des A und fährt damit gegen einen Baum, sodass ein Totalschaden entsteht. Jetzt kann A eine Herausgabe nicht mehr verlangen, hat jedoch einen Anspruch auf Schadensersatz aus §§ 989, 990 BGB eventuell auch aus § 992 BGB. Fährt B hingegen nur mit dem Fahrzeug durch die Gegend, kann A also die Herausgabe der Sache noch verlangen, so hat A zusätzlich einen Anspruch auf Nutzungsherausgabe gemäß §§ 987, 990 I BGB.
D. Deliktische Ansprüche
Anschließend sind in der Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen die deliktischen Ansprüche zu prüfen, welche an eine unerlaubte Handlung anknüpfen, vgl. §§ 823 ff. BGB sowie §§ 7, 18 StVG. Beispiel: B fährt eine Beule in den Wagen des A. A hätte folglich gerne Schadensersatz von B. Da weder vertragliche, quasi-vertraglich noch dingliche Ansprüche in Betracht kommen, kann A aufgrund der Eigentumsverletzung Schadensersatz gemäß § 823 I BGB fordern, wenn B zumindest fahrlässig gehandelt hat. Zudem folgt eine verschuldensunabhängige Haftung aus § 7 StVG, wenn man Fahrzeughalter ist, sowie eine verschuldensabhängige Haftung des Fahrzeugführers aus § 18 StVG.
E. Bereicherungsrechtliche Ansprüche
Zuletzt schließen sich in der Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen die bereicherungsrechtlichen Ansprüche an. Diese liegen vor, wenn jemand etwas ohne Rechtsgrund erlangt hat, vgl. §§ 812 ff. BGB. Beispiel1: A verkauft und übereignet dem B sein Auto. Später stellt sich heraus, dass A beim Abschluss des Kaufvertrags, nicht jedoch bei der Übereignung, unerkannt geisteskrank war. A hat somit wirksam das Eigentum und den Besitz an dem Fahrzeug erlangt. Dies geschah jedoch ohne wirksamen Rechtsgrund, da der Kaufvertrag wegen der unerkannten Geisteskrankheit gemäß §§ 104, 105 BGB nichtig war. Deshalb kann A von B gemäß § 812 I 1 1. Fall BGB die Herausgabe des Fahrzeugs verlangen. Beispiel2: B klaut dem A sein Auto. Nun hat A neben den dinglichen Ansprüchen auch einen Anspruch aus § 812 I 1 2. Fall BGB. Hierbei macht es keinen Unterschied, dass A nicht geleistet hat, sondern B sich das Fahrzeug unberechtigterweise genommen hat.
Beachte: Diese Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen ist zwingend zu berücksichtigen. Diese Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlage ist deshalb zwingend, weil bestimmte Ansprüche andere Ansprüche ausschließen. Beispiel: A schließt mit B einen Vertrag, dass B den Brand des A löscht. Dieser Vertrag würde Ansprüche aus der GoA ausschließen, denn diese setzt gerade voraus, dass kein Auftrag vorliegt. Ebenso setzen bestimmte dingliche Ansprüche voraus, dass kein Recht zum Besitz besteht. Ein solches Recht kann jedoch aus einem Vertrag folgen, sodass es sinnvoll ist, diesen bereits zuvor geprüft zu haben. Weiterhin ist zu beachten, dass, wenn EBV-Ansprüche nicht in Betracht kommen, auch deliktische Ansprüche nicht mehr zu prüfen sind, da diese nach § 993 a.E. BGB ausgeschlossen sind. Im Übrigen besteht zwischen diesen Ansprüchen Anspruchskonkurrenz. Sie bestehen somit nebeneinander, wenn sie sich nicht denklogisch ausschließen.