Phasen der Klausurbearbeitung
Überblick - Phasen der Klausurbearbeitung
Bei den Phasen der Klausurbearbeitung geht es darum, wie man die Klausur am besten löst. Viele unterschätzen die Bedeutung der Vorgehensweise für den Erfolg in der Klausur. Zu unterschieden sind insgesamt drei Phasen.
I. Sachverhalt erfassen (Phase 1)
Die Phase des Erfassens des Sachverhalts kann weiterhin unterteilt werden in das Lesen (Phase 1a) einerseits und das qualifizierte Erfassen des Sachverhalts (Phase 1b) andererseits.
1. Lesen
Bei der Phase 1a, dem Lesen, geht es schlicht darum, den Sachverhalt einmal komplett von A bis Z durchzulesen. Dabei ist es egal, ob man zuerst den Text und dann die Fallfrage liest oder mit der Fallfrage beginnt. Bestimmte Dinge sollte man dabei nicht tun, insbesondere keine Markierungen vornehmen. Viele neigen in der ersten Lesephase dazu, gewissermaßen nach gefühlter Wichtigkeit, Dinge zu unterstreichen. Da gefühlt alles wichtig erscheint, führt es häufig dazu, dass der gesamte Sachverhalt angestrichen ist. Dann stellt sich die Frage, was der Sinn und Zweck dieser Markierungen ist. Vielmehr wirkt es so, als ob der Stift ausgerutscht wäre. Das Markieren birgt nämlich bestimmte Risiken: Wenn eine Stelle im Sachverhalt nach gefühlter Wichtigkeit in Phase 1a markiert wurde, obwohl man noch keinen Gesamtüberblick hat, führt das dazu, dass sich diese Stelle einbrennt. Dies kann wiederum zur Folge haben, dass einem später bei der Falllösung diese markierte Stelle besonders wichtig erschient. Das Markieren in Phase 1a begründet damit die Gefahr, dass man sich im weiteren Verlauf in tatsächlicher Hinsicht verrennt. Eine Akzentuierung in Phase 1a kann folglich nicht perfekt sein. Deshalb ist tendenziell davon abzuraten, in dieser Phase Markierungen vorzunehmen.
Weiterhin sollte in dieser Phase auch auf Paragraphen-Hinweise verzichtet werden. Viele neigen dazu, in dieser Phase Paragraphen-Hinweise zu notieren. Beispiel: Pfeil raus und §§ 164 ff. BGB an den Rand schreiben, um die ersten Assoziationen einzufangen. Die ist wiederum überflüssig, wenn nicht sogar gefährlich, obwohl viele diese Vorgehensweise empfehlen und danach handeln. Zur Erklärung: Wenn man in der ersten Lesephase schon Paragraphen notiert, ist es nur eine erste Assoziation. Es kann sein, dass man die Paragraphen an einer Stelle notiert, die letztlich nicht rechtlich erheblich ist, sodass insgesamt ein falscher Akzent gesetzt wird, obwohl die Notierung den Eindruck macht, dass diese Stelle rechtlich besonders bedeutend sei. Es kommt häufig vor, dass man sich in späteren Bearbeitungsphasen nur schlecht von dieser Akzentuierung trennen kann, weil sie schon existiert. Dies birgt aber auch in Phase 1a die Gefahr des rechtlichen Verrennens: Falsche Schwerpunkte werden gesetzt. Außerdem begründet diese Verhaltensweise bestimmte Implikationen. Es stellt sich die Frage, warum man unbedingt Paragraphen an den Rand schreiben muss. Im Grunde spricht man ein Misstrauensvotum gegen seine eigene Arbeit in Phase 2 aus, also in der Phase der Erstellung einer Lösungsskizze. Erst in dieser Phase erstellt man typischerweise eine Skizze, in der man den Sachverhalt durchgeht, damit einem dann alle Fische ins Netz gehen können. Notiert man in Phase 1a schon Paragraphen, will man die Fische plötzlich mit der Hand fangen, was überflüssig ist. Letztlich soll man in Phase 1a ohne jegliche Ablenkung den Sachverhalt in Gänze erfassen, ohne Paragraphen zu notieren und darüber nachzudenken, wie der Fall rechtlich zu würdigen ist. Insofern ist es abträglich, Dinge zu tun, die einer späteren Phase zugehörig sind. Nach alledem sollte man in Phase 1a sich wirklich nur auf das Lesen konzentrieren.
2. Qualifiziertes Erfassen
In Phase 1b geht es darum, den Sachverhalt so zu erfassen und zu konservieren, dass man auf dieser Basis den Fall lösen kann. In Zivilrecht würde man eine Fallskizze zeichnen, d.h. alle Personen (A, B, C) mit Strichen verbinden, die ihre rechtlichen Beziehungen signalisieren. Sinnvollerweise differenziert man hier schon nach den schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsbeziehungen wie § 433 BGB beim Kaufvertrag und § 929 bei einer Übereignung. Hier geht es darum, zunächst Transparenz zu erzeugen, was die übergeordnete Fallgestaltung betrifft. Dabei stellen die Paragraphen nur eine Hypothese dar. Ob § 433 BGB oder § 929 BGB wirklich die richtigen Ansprüche sind, ist nicht sicher. In der Regel lassen sich aber gewisse Annahmen treffen, die zumindest den Zweck der Erstellung einer Fallskizze erfüllen.
II. Lösungsskizze (Phase 2)
Nachdem der Sachverhalt qualifiziert erfasst wurde, geht es zu Phase 2, in der der Fall geknackt wird. Dies ist die wichtigste Phase. Man muss sich dies folgendermaßen vorstellen: Man hat vor sich circa drei Seiten Papier liegen, die man zunächst nur mit Überschriften beschriftet, um die Gliederungspunkte durchzugehen wie z. B. A. Zulässigkeit, I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges, 1. … etc. Sollte man dann auf Probleme stoßen, notiert man einfach ein „P“. Diesbezüglich wird empfohlen, dass Problem an dieser Stelle sofort zu entscheiden und auch die Argumente niederzuschreiben. Bei den Argumenten greift man dann auf Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck, also insbesondere auf die Auslegungsmethoden zurück. Ferner kommt es vor, dass man noch andere Lösungsmöglichkeiten im Hinterkopf hat, die einem vorschweben. Diese sollte man sicherheitshalber an der Seite notieren oder noch im Sinn haben. In der Lösungsskizze geht es dann beispielsweise mit „2.“ weiter, bis man ans Ende gelangt.
Bei dem ersten Durchgang der Lösungsskizze sollte der Fall bereits einmal vollständig von A bis Z durchgelöst und zumindest vorläufige Entscheidungen sollten getroffen werden.
Häufig ist man mit seiner Entscheidung noch nicht so glücklich mit seiner Ergebnis. In der Skizze gibt es oft noch Baustellen, die man vorerst vorläufig entschieden hat und die den Eindruck machen, dass die Entscheidung nicht richtig passt oder dass die Lösung nicht richtig aufgeht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist man am Ende einer Lösungsskizze nie richtig glücklich, weil man die Lösung nicht kennt. Es schwebt immer eine Restunsicherheit mit. Diesbezüglich muss einfach beachtet werden, dass man mit der Lösungsskizze nicht die Welt rettet. Es geht vielmehr darum, das relativ beste Ergebnis zu produzieren, d.h. verantwortlich Entscheidungen zu treffen, die einem in dem gegebenen Zeitfenster plausibel erscheinen. Mehr und Besseres kann man nicht leisten.
Nachdem die Lösungsskizze erstellt wurde, sollte man die Knackpunkte nochmals durchgehen. An Stellen, an denen man besonders viele Bauchschmerzen hat und vorläufige Entscheidungen getroffen hat, sollte allenfalls ein Abgleich vorgenommen werden, ob die Entscheidungen in sich schlüssig sind. Häufig hängt ein Problem mit einem anderen Problem zusammen. Hier und dort wird man gegebenenfalls doch einen anderen Weg gehen und auch vielleicht einen klausurtaktischen Weg einschlagen, um mit einer Entscheidung den Fall nicht in den Sand zu setzen. Wichtig ist eine stimmige Gesamtkonfiguration.
Ist man sich nicht sicher und findet keine „schöne“ Lösung, dann nimmt man die Lösung, die am wenigsten schrecklich ist. Wenn alle Lösungsoptionen gleich schrecklich sind, muss man im Zweifel im übertragenen Sinne einfach würfeln. Im Ergebnis muss in dieser Phase eine Entscheidung getroffen werden.
III. Schreiben (Phase 3)
Nach der Erstellung der Lösungsskizze geht es zur Schreibphase, die die Spitze des Eisberges am Ende einer längeren Entwicklung der Lösung darstellt. Auch hier kann man sich ein Blatt Papier vorstellen, auf dem man körperlich die Punkte auf der Lösungsskizze ausformuliert. Im Kern geht es hier um stilistische Fragen wie dem Gutachten- oder Urteilsstil sowie um andere handwerkliche Fähigkeiten wie die Darstellung eines Meinungsstreits.
IV. Typische Fehler
Im Zusammenhang der Phasen der Klausurbearbeitung gibt es typische Fehler, aufgrund derer es oft schief läuft und die dazu führen, dass die Klausur mittelmäßig bis schlecht wird.
1. Fehler: „Von Phase 2 in Phase 3 hasten“
Die Hauptursache für eine mittelmäßige bis schlechte Klausur ist der Fehler, von Phase 2 in Phase 3 zu hasten. Zur Erklärung: Man stelle sich vor, man befinde sich in Phase 2 der Klausurbearbeitung. In dieser Phase hat man häufig das Gefühl, dass die Zeit knapp wird und man nicht mehr richtig vorankommt. Da kommt vielen der Gedanke, mit dem Schreiben anzufangen. Man hofft auf ein Wunder in Phase 3, das während des Schreibens die offenen Fragen klärt. Dieses Wunder ist bisher jedoch noch nie eingetreten. Bis jetzt hat noch keiner den Fall in Phase 3 besser gelöst als in Phase 2. Im Grunde hat der Bearbeiter der Klausur den Fall noch gar nicht gelöst, sondern die Entscheidungen in die Phase 3 vertagt, in der man während des Schreibens auf eine Eingebung hofft. Doch durch das Nachdenken über die rechtliche Lösung in Phase 3 beeinflusst man seinen eigenen Schreibprozess. Man schreibt langsamer, es kommt zum Durchstreichen von Textpassagen, zu Sternchen, zu Seiten mit der Nummerierung „2a“ oder gar zu zerknüllten Blättern Papier. Oft sieht man der Klausur optisch schon an, dass man es mit einem Klausurbearbeiter zu tun hat, der von Phase 2 in Phase 3 gehastet ist und den Fall nicht richtig gelöst hat. Der Korrektor erkennt in den ersten Sekunden, in denen sein Blick auf die Klausur trifft, dass es sich um eine Klausur handelt, die es nicht verdient hat, mit einem Prädikat versehen zu werden. Denn das optische Erscheinungsbild wird seine Ursache entweder darin haben, dass der Bearbeiter keine Zeile unfallfrei schreiben kann, oder (viel wahrscheinlicher), dass sich der Bearbeiter selbst methodisch in eine Situation gebracht hat, in der es zum häufigen Durchstreichen kam.
Wenn man beim Schreiben noch denkt und den Fall nebenbei lösen möchte, wird der gesamte Schreibprozess wie eine schwer beladene Karawane verlangsamt. Dadurch ist man insgesamt deutlich langsamer bei der Klausurbearbeitung, als wenn man in Phase 2 weitere 10 Minuten investiert hätte, um bei den Knackpunkten über weitere Argumente nachzudenken oder im schlimmsten Fall zu würfeln.
Ferner birgt dieser Fehler die Gefahr von Inkonsequenzen, die im weiteren Schreibverlauf dramatisch steigt. Beispiel: A trifft hastig in Phase 3 auf Seite 2 im Vorbeigehen eine Entscheidung und muss auf Seite 17 sich erneut entscheiden. Im Dickicht des Schreibens weiß A nicht mehr, wie er sich oben entschieden hat und riskiert, ohne es zu merken, dass er etwas in Widerspruch zu dem bereits Geschriebenen setzt. Solche Inkonsequenzen stellen ein K.O.-Kriterium dar. Wenn der Korrektor eine solche Inkonsequenz bemerkt, kann er nur Folgendes denken: Entweder handelt es sich bei dem Bearbeiter um einen Volltrottel, der es nicht schafft, in seiner eigenen Klausur Kohärenz zu erzeugen, weil er geistig unfähig ist. Oder aber wird es sich um einen Bearbeiter handeln, der sich methodisch in die Position versetzt hat, seine eigenen Entscheidungen nicht mehr überblicken zu können. Auch dieser Fehler wird bei der Benotung schwer ins Gewicht fallen.
Damit ist dieser typische Fehler im besten Falle zu vermeiden, wenn man eine gute Klausur schreiben möchte.
2. Fehler: „Fingerübungen in Phase 2“
Ein weiterer typischer Fehler sind die so genannten Fingerübungen in Phase 2. Darunter versteht man die Situation in Phase 2, in der man die Lösungsskizze durchgliedert und gleichzeitig schon mit Schreibübungen beginnt, die den Text aus Phase 3 abbilden können. Diese Vorgehensweise gründet auf der Angst, dass man in Phase 3 die gleichen formulierungstechnischen Eingebungen nicht mehr erinnert. Diese Bearbeitungsmethode hat aber folgende Konsequenzen: Zunächst stellt dies ein Misstrauensvotum gegen die eigene Arbeit in Phase 3 dar. Wenn man im Schreiben routiniert ist, ist es ein Leichtes, alles niederschreiben zu können, was man in Phase 2 erarbeitet hat. Andererseits verwässert diese Vorgehensweise die Arbeit in Phase 2: Die Lösungsskizze wird länger und intransparent, man hat keine ‚knackige‘ Lösungsskizze mehr, in der die Probleme offensichtlich sind. Vielmehr gibt es durch den Text unter den Gliederungspunkten in Phase 2 kaum Konfigurationsmöglichkeiten für Phase 3 mehr, da die Bausteine nun schwer ersichtlich sind und sich nicht mehr einfach verschieben lassen. Dadurch wird eine gewisse Trägheit in der Klausurbearbeitung angelegt.
Auch neigen viele dazu, viel Text in Phase 2 zu schreiben, um zu kaschieren, dass sie eine dünne Suppe kochen. Durch viel Text erscheint einem die Bearbeitung fortgeschritten. Im Grunde hat man aber nur Textbaustellen um ausgebliebene Entscheidungen gebaut. Deshalb gilt es, darauf zu verzichten, in Phase 2 Dinge zu tun, die Phase 3 zugehörig sind.
3. Fehler: „Umentscheiden in Phase 3“
Ein letzter typischer Fehler ist das Umentscheiden in Phase 3. In Phase 3 geht es um das reine Schreiben. Viele bzw. fast alle haben eine Dreiviertelstunde vor Schluss das Gefühl, alles anders machen zu wollen. Beispiel: Das Teufelchen sitzt auf der rechten Schulter des A und flüstert ihm ins Ohr, dass das, was A geschrieben hat, großer Quatsch sei. Dem Impuls, jetzt an den Knackpunkten doch alles anders zu machen, darf man nicht nachgehen. Es ist völlig natürlich, dass man in diesem fortgeschrittenen Stadium der Klausurbearbeitung sich im Tunnelblick befindet und plötzlich die Idee bekommt, alles anders zu machen, indem man das Geschriebene zerknüllt, andere Weichenstellungen wählt und dann erneut alles zu Ende formuliert. Hierzu aber folgende Anmerkung: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Idee in Phase 3 eine gute Idee ist, ist gleich Null. In aller Regel handelt es sich um eine fixe Idee, die subjektiv als gut empfunden wird, weil zu diesem späten Zeitpunkt kein klarer Blick für die Lösung vorhanden ist.
Durchläuft man bei der Klausurbearbeitung alle Phasen, durchläuft man automatisch auch die Kontrollstellen, in denen man die Entscheidungen bereits getroffen hat. Es stellt sich damit die Frage, warum man nun alles anders machen sollte.
Häufig kann man insbesondere bei kritischen Punkten alles vertreten. Im Ergebnis ist es für die Benotung egal, wie man sich dort entscheidet. Durch das Umentscheiden in Phase 3 tauscht man die favorisierte Entscheidung plötzlich aus und wählt eine andere Lösung, die bestenfalls genauso gut, aber sehr wahrscheinlich falsch ist. Dies ist für die Klausurbearbeitung nur nachteilig.
So oder so birgt das Umentscheiden die Gefahr, selbst wenn die neue Lösung objektiv besser ist, dass man sich Inkonsequenzen einheizt und nicht mehr die Tragweite der partiellen Umentscheidung überblickt. Die damit verbundenen Risiken sind deutlich höher, als wenn man seine empfundene schlechte Lösung durchzieht.
Es ist kein Fall bekannt, in dem es besser war, sich auf der Zielgeraden umzuentscheiden. Aus diesem Grund ist es nicht zu empfehlen, sich spontan und kurzfristig in Phase 3 umzuentscheiden.