Notwehrexzess
Notwehrexzess (§ 33 StGB)
Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft (§ 33 StGB). Es handelt sich hierbei um einen Entschuldigungsgrund.1
Greift § 33 StGB ein, braucht eine weitere Entschuldigung gemäß § 35 StGB nicht mehr geprüft zu werden.2
Prüfungsaufbau
Die Voraussetzungen des Notwehrexzess sind in folgender Reihenfolge zu prüfen:3
Prüfungsschema: Notwehrexzess (§ 33 StGB)
Notwehrexzesslagea) Intensiver Notwehrexzess
b) Extensiver Notwehrexzess
Notwehrexzesshandlung: Überschreitung der Grenzen der Notwehr
Asthenischer Affekt
Verteidigungsabsicht
Intensiver Notwehrexzess
Die Bestimmung des § 33 StGB findet jedenfalls auf den intensiven Notwehrexzess Anwendung. Dieser setzt voraus, dass eine Notwehrlage i.S.v. § 32 II StGB tatsächlich gegeben, der Angriff also (noch) gegenwärtig war.4 In dieser Situation müssen die Grenzen des Notwehrrechts überschritten werden; dies ist der Fall, wenn die Verteidigungshandlung des Täters im Lichte des § 32 StGB entweder nicht erforderlich oder nicht geboten war.5
Beispiel: Eine Überschreitung der Erforderlichkeitsgrenze kann (situativ bedingt) vorliegen, wenn der körperlich angegriffene O aus panischer Angst mit einem bei sich geführten Messer den Angreifer T nicht nur ins Bein, sondern in den Bauch sticht.
Extensiver Notwehrexzess
Von einem extensiven Notwehrexzess spricht man, wenn der Täter die Gegenwärtigkeitsgrenze des § 32 II StGB missachtet. Ob auch dieser Fall von § 33 StGB erfasst ist, wird unterschiedlich beurteilt.
Beispiele:6 O verletzt T, noch bevor T angreifen konnte (vorzeitiger extensiver Notwehrexzess). O versetzt T einige Fußtritte, nachdem er ihn bereits bewusstlos geschlagen hatte (nachzeitiger extensiver Notwehrexzess).
Teilweise wird § 33 StGB in beiden Fällen zur Anwendung gebracht.7
Nach der Rechtsprechung sind demgegenüber beide Konstellationen nicht von § 33 StGB erfasst. Von einer Überschreitung der Grenzen der Notwehr könne nur die Rede sein, wenn eine Notwehrlage vorliege.8
Zutreffend ist eine vermittelnde, in der Literatur herrschende Auffassung, die § 33 StGB auf den nachzeitigen extensiven Notwehrexzess anwendet, nicht aber auf den vorzeitigen extensiven Notwehrexzess.9 Beim nachzeitigen extensiven Notwehrexzess handelt der Täter unter dem Eindruck eines gerade eben beendeten „gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriffs“; dies unterscheidet ihn maßgeblich vom vorzeitigen extensiven Notwehrexzess, bei dem diese Stresssituation noch nicht vorherrscht.10 Der Wortlaut des § 33 StGB steht einem solchen Verständnis nicht entgegen, weil ein „Überschreiten“ der Notwehrgrenzen auch dann vorliegt, wenn sich der Angegriffene gegen den Angreifer erst unmittelbar nach dem beendeten Angriff verteidigt.11
Beispiel: Es kann keinen Unterschied machen, ob der Angegriffene in der Verteidigungshandlung selbst zu fest zutritt oder mehrmals nacheinander, obwohl der Angreifer bereits nach den ersten Tritten aufgegeben hatte.12
Asthenischer Affekt
Nach § 33 StGB wird der Täter nicht bestraft, der die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken (sog. asthenische Affekte) überschreitet.13
Verwirrung, Furcht und Schrecken werden als „asthenische“ Affekte bezeichnet, weil sie auf menschlicher Schwäche beruhen; im Gegensatz dazu stehen „sthenische“ Affekte wie Zorn, Hass und Rache, die Kraft ausdrücken.14
Der asthenische Affekt muss einen Störungsgrad aufweisen, bei dem der Täter das Geschehen nur noch in erheblich reduziertem Maße verarbeiten kann.15
§ 33 StGB verlangt das Überschreiten der Grenzen der Notwehr „aus“ Verwirrung, Furcht oder Schrecken. Dafür genügt es, dass der asthenische Affekt für die Notwehrüberschreitung mitursächlich war; er muss nicht die überwiegende oder gar alleinige Ursache gewesen sein.16
Verteidigungsabsicht
Von einer Angriffsabwehr kann nur die Rede sein, wenn der Täter nicht nur in Kenntnis der die Notwehrlage begründenden Umstände, sondern auch mit Verteidigungswillen gehandelt hat.17 Richtigerweise ist damit ein Verteidigungswille im Sinne einer Verteidigungsabsicht notwendig.18
Putativnotwehrexzess
Beim Putativnotwehrexzess stellt sich der Täter irrtümlich einen Sachverhalt vor, der, wenn er vorläge, zu einer Notwehrexzesslage, also insbesondere zu einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff führen würde.19 Auf Basis dieser irrigen Annahme gerät er in einen asthenischen Affekt und überschreitet die Grenzen der Notwehr. Die h. M. wendet auf diesen Fall zu Recht nicht § 33 StGB (analog)20 an, sondern § 17 StGB.21
Es liegt ein Erlaubnisirrtum vor, in dem die vermeintlichen Verteidigungsgrenzen überschritten werden.22
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 1; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 1.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 2.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 5.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 2.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 6. BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 15, spricht demgegenüber nur von den „Grenzen des Erforderlichen“ und lässt die Gebotenheit unerwähnt.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 4.
- Perron/Eisele, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 33 Rn. 2; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 85 ff.
- BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 15; BGH, Urt. v. 03.02.1993 – 3 StR 356/92, BGHSt 39, 133, 138 f.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 5; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 33 Rn. 2; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 19; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 669.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 5.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 19.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 5; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 669.
- BGH, Urt. v. 27.10.2015 – 3 StR 199/15, Rn. 18.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 22.
- BGH, Beschl. v. 21.03.2001 – 1 StR 48/01, NJW 2001, 3200, 3202; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 24.
- BGH, Beschl. v. 21.03.2001 – 1 StR 48/01, NJW 2001, 3200, 3202; Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 23.
- BGH, Urt. v. 25.04.2013 – 4 StR 551/12, Rn. 15.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 28.
- Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 29.
- So Perron/Eisele, in: Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 33 Rn. 8; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 96.
- Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 27 Rn. 30; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht AT, 47. Aufl. 2017, Rn. 672.
- Joecks/Jäger, StGB, 12. Aufl. 2018, § 33 Rn. 7.