Lehre von der objektiven Zurechnung

Lehre von der objektiven Zurechnung

Objektiv zurechenbar ist dem Täter ein von ihm verursachter Erfolg dann, wenn er eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich gerade im konkreten Erfolg realisiert hat.1 Nur dann ist der Erfolgseintritt als „Werk des Täters“ einzustufen und seinem Verantwortungsbereich zuzuschreiben.

Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr

Keine rechtlich missbilligte Gefahr geht von erlaubten (sozialadäquaten) Risiken aus.2 Dabei geht es um Verhaltensweisen, die vollkommen legal sind, allgemein toleriert werden, sich im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos bewegen oder Risiken in rechtlich unbeachtlicher Weise erhöhen.

Beispiele: Die Gesellschaft toleriert es, sich trotz (leichter) Erkältung in die Öffentlichkeit zu begeben.

Bei der Risikoverringerung geht es um Fälle, in denen der Täter einen Erfolg abschwächt oder (zeitlich) hinausschiebt und auf diese Weise einen lediglich schwächeren oder späteren Erfolgseintritt verursacht.3 Relevant sind insbesondere Fälle der sog. Abstiftung.

Beispiel: T will einen bewaffneten Banküberfall begehen. Seine Ehefrau (E) kann ihm das Mitführen einer Waffe ausreden. T macht sich wegen Raubs (§ 249 BGB) oder räuberischer Erpressung (§ 255 StGB) strafbar. E ist dagegen straflos. Da T bzgl. des Grunddelikts bereits fest entschlossen war, scheidet eine diesbezügliche Anstiftung (§ 26 StGB) durch E aus. Auch eine (psychische) Beihilfe (§ 27 StGB) liegt nicht vor, weil E keine rechtliche missbilligte Gefahr geschaffen, sondern eine solche ausschließlich abgemildert hat.

Anders verhält es sich jedoch, wenn der Täter zwar risikoverringernd tätig sein möchte, durch sein Verhalten aber eine neue, eigenständige Gefahr schafft, die den von ihm verursachten Erfolg begründet.4 Es liegt dann keine bloße Risikoverringerung, sondern eine Risikoersetzung vor.

Beispiel: Der Feuerwehrmann (F) rennt in ein brennendes Haus, um aus diesem ein um Hilfe schreiendes Kind zu retten. Da die Flammen den Rückweg über die Treppe versperren, schmeißt F das Kind aus dem Fenster in die Arme eines unten stehenden Retters. Bricht sich das Kind dabei einen Arm, ist dieser Erfolg dem F objektiv zurechenbar, weil er das Kind durch den Wurf aus dem Fenster einer erheblichen Verletzungsgefahr ausgesetzt und sich diese Gefahr auch realisiert hat. Hierbei handelt es sich um eine völlig neue Gefahr, die das Recht grundsätzlich auch missbilligt. Es fehlt aber der Verletzungsvorsatz des F. Zudem kommen als Rechtfertigungsgründe eine mutmaßliche Einwilligung und der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB; in Betracht.

Realisierung der Gefahr im Erfolg

Die objektive Zurechnung des kausal herbeigeführten Erfolges setzt insbesondere voraus, dass zwischen der geschaffenen Gefahr und dem Eintritt ein Risikozusammenhang besteht.5 Dieser entfällt, wenn sich im Erfolg nicht das vom Täter gesetzte Ausgangsrisiko, sondern ein anderes (vom Opfer oder einem Dritten gesetztes oder dem Zufall zuzuschreibendes) Risiko realisiert.

Die Tat muss dem Verantwortungsbereich des Täters entstammen und sich als „Werk des Täters“ und nicht etwa als „Werk des Zufalls“ oder als „Werk des Opfers/Dritten“ darstellen.

Der Erfolgseintritt ist dem Täter dann nicht objektiv zurechenbar, wenn der Kausalverlauf so sehr außerhalb der Lebenserfahrung liegt, dass mit ihm vernünftigerweise nicht gerechnet werden braucht.

Beachte: In diesen Fällen lässt der BGH gemäß § 16 I 1 StGB den Vorsatz entfallen.

Unvorhersehbare Kausalverläufe lassen die objektive Zurechenbarkeit entfallen.6

Beispiel: T sticht mit Tötungsvorsatz auf O ein und verletzt O lebensgefährlich. Der Rettungshubschrauber trifft rechtzeitig ein und O kann rechtzeitig erstversorgt werden. Aufgrund eines technischen Defekts stürzt der Hubschrauber auf dem Weg ins Krankenhaus dann aber ab und alle Insassen sterben. In einem solchen Fall ist der Tod des O dem T nicht objektiv zurechenbar, weil sich ein allgemeines Lebensrisiko verwirklicht hat. T ist nur gemäß § 212, (211), 22 i.V.m. §§ 223, 224 StGB (in Tateinheit, § 52 StGB) zu bestrafen.

Ähnlich gelagert sind Fälle, in denen ein außergewöhnlicher Kausalfaktor, etwa eine abnorme Konstitution des Opfers den Erfolgseintritt maßgeblich beeinflusst.7

Beispiel: T sticht mit Tötungsvorsatz auf O ein. Er trifft aber nur den Arm des O und verursacht eine Wunde, die allein deshalb zum Tod des O führt, weil dieser an Hämophilie leidet und die Blutung deshalb nicht zum Stillstand gebracht werden kann (sog. „Bluter-Fall“). Bei einer Wahrscheinlichkeit von 1:10.000, einem Bluter zu begegnen, liegt in der abnormen Konstitution des O ein außerordentlich seltener Kausalfaktor, der die Verneinung der objektiven Zurechenbarkeit rechtfertigt. In dem Tod des O hat sich nicht das durch T gesetzte Risiko, sondern die latente Lebensgefahr realisiert, in der O ständig schwebt.

Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung bzw. –verletzung schließt die Verantwortlichkeit Dritter grundsätzlich aus.8 Die objektive Zurechenbarkeit entfällt, weil der Tod bzw. die Verletzung in den Verantwortungsbereich des Opfers fällt.9 Der Schutzbereich einer Strafnorm, die (wie z. B. die §§ 211, 212, 223 ff. StGB) den Rechtsgutinhaber vor Angriffen Dritter schützt, macht dort halt, wo der eigene Verantwortungsbereich des Betroffenen besteht (Autonomieprinzip, Menschenwürde).10 Die Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs kommt allerdings nur in Betracht, wenn es sich um eine freiverantwortliche Selbstschädigung des Opfers handelt.11 Die Freiverantwortlichkeit entfällt, wenn der Selbstschädigungsakt, ginge es um die Strafbarkeit des Opfers, entsprechend den §§ 19, 20, 35 StGB, 3 JGG entschuldigt wäre oder die Selbstschädigungs- bzw. Selbstgefährdungsentscheidung nach Einwilligungsregeln unwirksam wäre, weil sie auf wesentlichen Willensmängeln (Täuschung, Drohung, Irrtum, Unkenntnis von anderen Beteiligten bekannten Risikofaktoren) beruht. Ferner ist die Selbstschädigung bzw. Selbstgefährdung von der Fremdschädigung bzw. Selbstgefährdung abzugrenzen, indem danach gefragt wird, wer die Tatherrschaft hat.

Beispiel:12 Ein Polizist § lässt entgegen den Dienstvorschriften seine geladene Dienstpistole frei in seiner Wohnung herumliegen. Seine Bekannte (B) ergreift die Pistole und bringt sich damit um. P kann wegen fahrlässiger oder gar vorsätzlicher (Fremd-) Tötung nur bestraft werden, wenn die Selbsttötung der B als unfrei eingestuft werden muss. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn B schuldunfähig (§§ 19, 20 StGB) wäre. Liegt hingegen ein freiverantwortlicher Suizid vor, ist die objektive Zurechnung des durch P im Sinne der Äquivalenztheorie verursachten Todes der B zu verneinen.

Auch ein grob fahrlässiges oder vorsätzliches Opferverhalten kann die Verantwortlichkeit des Täters entfallen lassen und die Verantwortung auf das Opfer verlagern.13

Beispiel: T verletzt O mit Tötungsvorsatz. O stirbt aber nur deshalb, weil er grob unvernünftig eine Routineoperation ablehnt.14 T erfüllt nur die §§ 212, (211), 22 StGB und – in Tateinheit (§ 52 StGB) – die §§ 223, (224) StGB.

Schließlich kann auch ein Dazwischentreten Dritter die objektive Zurechnung entfallen lassen. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob sich im Erfolg noch die vom Ersttäter geschaffene Ausgangsgefahr oder vielmehr eine andere, durch einen Zweittäter geschaffene neue Gefahr realisiert.15

Beispiel: T hat O mit Tötungsvorsatz verletzt. Im Krankenhaus wird O durch einen Verwandten, der sich ein Erbe erhofft, mittels Giftinjektion getötet. Im Tod des O verwirklicht sich nicht das ursprüngliche Risiko, sondern eine neue Gefahr.


  1. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 46; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 166.
  2. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 51 ff.
  3. Hier und zum Folgenden: R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 171.
  4. Zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 59; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 172.
  5. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 60.
  6. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 63 f.
  7. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 69 – 73.
  8. BGH, Beschl. v. 05.08.2015 – 1 StR 328/15, Rn. 14; BGH, Urt. v. 24.11.2016 – 4 StR 289/16, Rn. 22.
  9. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 77.
  10. BGH, Urt. v. 07.02.2001 – 5 StR 474/00, BGHSt 46, 279, 288; R. Schmidt, Strafrecht AT, 20. Aufl. 2018, Rn. 176.
  11. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 79 – 81.
  12. Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 83.
  13. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 85 f.
  14. Nicht grob unvernünftig wäre es, eine Operation mit einer Mortalitätsrate von 5 – 15 % abzulehnen (OLG Celle, Urt. v. 14.11.2000 – 32 Ss 78/00, NJW 2001, 2816).
  15. Hier und zum Folgenden: Rengier, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2019, § 13 Rn. 88, 91.